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Verneigung vor dem Vater

Robert Merle ist als Schriftsteller ein Phänomen: In Frankreich kennt ihn jedes Kind, in der DDR kannte ihn zumindest jeder Intellektueller, in Westdeutschland kennt ihn fast niemand. Jetzt ist die erste umfassende Biografie erschienen – geschrieben von seinem Sohn Pierre.

Eine Besprechung von Dina Netz |
    Der deutsche Untertitel von Pierre Merles Biografie "Ein verführerisches Leben" ist etwas unglücklich gewählt; denn Robert Merle war, wenn man seinem Sohn folgt, ein großer Verführer. Doch in erster Linie wurde er wohl verführt von den Schönheiten des Lebens. Im Original heißt der Untertitel viel treffender "Une vie de passions", "Ein Leben voller Leidenschaften".

    Robert Merle hatte eine ganze Reihe davon: das Schreiben, natürlich, auch wenn er damit professionell erst nach seinem 40. Lebensjahr begann. Leidenschaft empfand Robert Merle außerdem für Frauen, für schicke Autos und für herrschaftliche Anwesen. Alles kostspielige Passionen, weshalb Merle auch ein cleverer Geschäftsmann sein musste und war.

    Pierre Merle setzt seinen Vater außer als einen Mann der Leidenschaften als veritable Person des 20. Jahrhunderts in Szene:
    1908 im algerischen Tébessa geboren, 2004 in Montfort-l'Amaury in den Yvelines gestorben, umfasst Robert Merles Biografie drei Ehen, sechs Kinder, ein breites literarisches und publizistisches Oeuvre und eine Universitätskarriere als Englisch-Professor.

    Das schriftstellerische Werk Robert Merles lässt sich, etwas grob, in zwei Teile teilen: den 13-bändigen historischen Romanzyklus "Fortune de France"; und in seine Romane, in denen er sich mit den Themen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzte: In "Wochenende in Zuidcoote" verarbeitete Merle seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft während des Zweiten Weltkriegs; für diesen ersten Roman wurde er gleich mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Vom Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss erzählte er in "Der Tod ist mein Beruf" – also lange, bevor Jonathan Littell einen führenden Nazi zu einem Romanprotagonisten machte. Robert Merle war später dann Professor in Nanterre, von wo die Studentenunruhen 1968 ihren Ausgang nahmen; auch darüber schrieb er, das berühmte "Hinter Glas". Und so könnte man die Liste beinahe unendlich fortsetzen über Feminismus bis hin zu atomaren Zukunftsängsten – Robert Merle war nicht nur ein sehr vitaler Teilnehmer des 20. Jahrhunderts, sondern auch sein Chronist.
    Merle hat selbst immer wieder auf die autobiografischen Züge seiner Romanfiguren hingewiesen. Hier eine Episode aus der Kindheit Robert Merles, über die Nöte der verwitweten Mutter nach dem Ersten Weltkrieg:

    Umsichtig hortete Eugénie Lebensmittel, vor allem Zucker, zum großen Bedauern der Merle-Kinder, die ihre tägliche Schmalkost schon kärglich genug fanden. Robert (...) suchte regelmäßig die Verstecke der Mutter heim und vertilgte Bröckchen für Bröckchen die wertvollen Reserven. Als sie den Raub entdeckte, zögerte Eugénie: Ob der Junge vielleicht krank war, dass er so große Mengen stibitzt? Soll ich ihm die verdiente Strafe verabreichen oder ihn zum Arzt schicken? Zum Glück entschied sie sich für die zweite Lösung. Der zum innerfamiliären Diplomaten verwandelte Doktor verzieh das Fehlverhalten. "Zucker ist in seinem Alter sehr notwendig, man soll ihm den ja nicht vorenthalten." Der Junge war und blieb äußerst dankbar. Jahre später machte der Romancier aus der Gestalt des Pierre de Siorac, seinem großen Helden, einen Arzt. Welch hübscher postumer Dank.

    Dieses Motiv zieht sich durch die ganze Biografie: Pierre Merle stellt die Bezüge zwischen den Figuren und ihrem Erfinder her – allerdings setzt er dabei manchmal etwas zu genaue Kenntnisse der Bücher Robert Merles voraus. Die Biografie ist eine für Merle-Fans, weniger für Merle-Entdecker.
    Der Sohn verschweigt auch nicht die Vorwürfe, mit denen sich der Vater von Anfang an auseinanderzusetzen hatte – ähnlich denen, mit denen Johannes Mario Simmel in Deutschland konfrontiert war. Die Kritik rümpfte schon über Merles erstes Buch "Wochenende in Zuidcoote" die Nase, wegen der prallen Sprache und einiger sehr deutlicher Sexszenen.

    Diese authentische Sprache war dem Kriegsgefangenen so vertraut geworden, dass er sie nicht mehr als deplatziert oder grobschlächtig empfand. Ohne diese derbe, rohe Redeweise, ohne den Soldatenjargon und diese schmucklos ausgebreitete Geilheit hätte die Erzählung nicht echt, sondern künstlich gewirkt, mit falschen Wörtern hätte er die dargestellten Menschen verraten. Er ahnte nicht, welche Debatten diese poetische Entscheidung noch auslösen würde.

    Pierre Merle ist es offenbar nicht leicht gefallen, eine Erzählhaltung für diese Biografie zu finden. Stellenweise schreibt er über den Vater wie über einen Fremden, aus respektvoller Distanz, sich hinter der Objektivität von Daten und Fakten verbergend. Andererseits schildert er zum Beispiel in größter Ausführlichkeit die Lebensgeschichten von Roberts Eltern, die es so detailliert vielleicht nicht gebraucht hätte.
    Dass diese Biografie eine Verneigung vor dem Vater ist, merkt man außer an der Fülle der zusammengetragenen Informationen auch am Sprachduktus, einer sehr prallen Erzählweise, bild- und wortreich, teilweise etwas altmodisch, die ein bisschen an die "Fortune de France"-Romane erinnert. Pierre hätte Robert Merle kein schöneres Denkmal setzen können.

    Pierre Merle: Robert Merle. Ein verführerisches Leben. Biografie
    Aufbau-Verlag, 411 Seiten, 22,95 Euro