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Verrat in Kabul

Im Herbst lassen die Kinder von Kabul ihre bunten Drachen steigen, und nichts ist ehrenvoller, als einen Drachenwettbewerb zu gewinnen. Diese fröhliche Tradition hatten die Taliban rigoros beendet. Doch jetzt sieht man sie wieder, die sogenannten "Drachenläufer", die die trudelnden Drachen der anderen Kinder erlaufen, auffangen uns als Trophäe behalten können. Khaled Hosseini, der Autor des Romans "Drachenläufer":

Werner Bloch | 19.04.2004
    Es hätte natürlich nahe gelegen, einen Roman über die Taliban zu schreiben. Denn als ich an meinem Buch arbeitete, redeten alle und überall von den Taliban. Aber das wollte ich nicht. Ich ließ die Geschichte in einer anderen, fast schon vergessenen Zeit spielen. Heute glauben viele, die Afghanen hätten schon immer Krieg gegeneinander geführt. Aber vor der sowjetischen Invasion lebten sie miteinander in Frieden. Die Personen in meinem Buch wurden damals geboren, in einer Zeit, die ich selbst in Kabul erlebt habe, und die für mich eine paradiesische Kindheit war.

    Auch der Held des Romans Drachenläufer wächst wohlbehütet in einem modernen, westlich orientierten Haushalt in Kabul auf. Das Buch erzählt die Geschichte zweier zwölfjähriger Jungen, die Geschichte ihrer Freundschaft und ihres Scheiterns. Amir, der Icherzähler, ist der Sohn eines wohlhabenden Paschtunen und genießt alle Privilegien der Oberschicht. Hassan, sein bester Freund, ist der Sohn des Dieners im Elternhaus von Amir und zählt zur ethnischen Gruppe der Hazara, die in Afghanistan vielfach verachtet werden.

    Hassan ist Amir treu ergeben. Doch die Freundschaft zerbricht. Denn der sozial höher stehende Amir begeht einen Verrat: er lässt seinen Freund im Stich, als dieser von einer Gruppe von Jugendlichen vergewaltigt wird. Der Roman verfolgt das Trauma dieser ungeheuren Tat, die Amirs ganzes Leben bestimmen wird, über die nächsten 28 Jahre: Schuld und Sühne auf afghanisch.

    Die Geschichte, die Figuren und viele ihrer Handlungen sind geprägt von Elementen, wie sie nur in Afghanistan vorkommen. Ich wollte zeigen, wie schwer es das Volk der Hazara hatte, das unter verschiedenen Regierungen immer wieder unterdrückt wurde. Und ich wollte die Ethik der Paschtunen zeigen, ihre Gastfreundschaft, aber auch die Ungleichheit in ihrer Gesellschaft, ihren Rassismus und ihre Ungerechtigkeit.
    Amir ist ein Anti-Held; er scheitert nach allen ethischen Maßstäben und nach dem Ehrenkodex der Paschtunen. Aber gerade dadurch bringt er die Ethik seiner Volksgruppe zur Sprache und lässt das Netz der sozialen Beziehungen und der Moral in Afghanistan spürbar werden. So liefert Drachenläufer nicht nur das Psychogramm eines Romanhelden, sondern auch das Soziogramm der verschiedenen Ethnien.

    Das Buch legt das Nervensystem der afghanischen Gesellschaft bloß – und das alles quasi nebenbei, höchst unterhaltsam und mit allen Registern der Fiktion.

    Amir wandert, als die Sowjets einmarschieren, nach Amerika aus. Doch er kehrt 20 Jahre später zurück, stellt sich der Wahrheit - und deckt die Verlogenheit in seiner eigenen Familie auf. Zum Drama des afghanischen Volkes kommt das eigene, individuelle Familiendrama hinzu, die Lügen und die Heuchelei des Vaters, der ein Verhältnis mit der Frau seines Dieners hatte. Hassan und Amir, so stellt sich heraus, sind Halbbrüder. Doch als Amir nach Afghanistan zurückkehrt, ist Hassan tot – ermordet von den Taliban. Amir kann dennoch einen Teil seiner Schuld tilgen. Denn Hassan hat einen Sohn – Amir nimmt ihn am Ende mit nach Amerika und gibt ihm eine neue Lebenschance.

    Khaled Hosseini erzählt diese Geschichte mit einer ungemein kraftvollen Sprache und viel dramatischer Spannung.

    Als ich das Buch schrieb, wollte ich nicht als Mittler zwischen den Kulturen auftreten. Ich wollte einfach nur eine packende, überzeugende Geschichte von zwei Jungen schreiben. Aber während meines Schreibens hat sich die Welt verändert: es war der 11. September und die Zeit des Krieges gegen die Taliban.

    Da verstand ich, dass das Buch, wenn es erfolgreich sein sollte, zu einem besseren Verständnis der Afghanen beitragen würde und mit einigen Vorurteilen aufräumen müsste. Die Tatsache, dass die Afghanen Moslems sind, bedeutet ja keineswegs, dass sie den Terrorismus oder die Taliban unterstützen würden.

    Die Amerikaner haben erst die Warlords hochgepäppelt, ihnen Geld und Macht und Munition zur Verfügung gestellt, und dann wurde niemand mehr mit ihnen fertig. Das haben die Afghanen nicht vergessen. Vielleicht verstehen die Menschen das besser, wenn sie mein Buch gelesen haben – zumindest deuten das die Leserbriefe an, die ich bekomme.


    Khaled Hosseini wollte den Afghanen, die im Westen nur als Stereotypen wahrgenommen werden, ein menschliches Gesicht geben – und das gelingt.

    Afghanistan zu verstehen, fällt dennoch nicht einfach. Drachenläufer enthält einige der furchtbarsten Sätze, die je über die Rolle von Frauen in der Ehe geschrieben worden sind. "Eine Frau in Afghanistan", heißt es im Roman, "braucht unbedingt einen Ehemann – auch wenn er vorher alle Ideen und Träume in ihr zum Verstummen gebracht hat." Solche Wesenszüge der afghanischen Gesellschaft schockieren, doch im Roman sind sie nicht Teil des westlichen, eines medial aufgerüsteten Erregungsapparates, sondern traurige Gegebenheiten eines Landes, das eben so nur ein Afghane sehen kann.)

    Der Autor Hosseini lebt seit 1980 in den USA, arbeitet drei Tage in der Woche als Arzt und an den anderen Tagen als Schriftsteller. Mit "Drachenläufer" hat er ein fulminantes Debüt hingelegt – und eines, das uns einige Schlüssel zum Verständnis dieses Landes überreicht. Eine Art Gebrauchsanweisung für Afghanistan, weil es die Logik und die Moral seiner Ethnien entschlüsselt. Ein Buch, das übrigens auch von Politikern gelesen werden sollte. Wir erinnern uns noch an die vollmundige Forderung von US-Präsident Bush, die Taliban sollten Osama bin Laden ausliefern. Das aber war nach den Spielregeln der afghanischen Gesellschaft mit ihrem hohen Wert des Gastrechts ein Ding der Unmöglichkeit:

    Es gibt einen starken moralischen Code, das sogenannte Wali der Paschtunen. Wenn die Bedürfnisse des Gastes sind immer viel wichtiger als die eigenen. Als sich Osama bin Laden in Afghanistan aufhielt, sagten viele: Wenn wir einen Gast haben, können wir ihn nicht verraten und ausliefern – es wäre das Schlimmste auf der Welt. Man muss den Gast beschützen, auch wenn es das eigene Leben kostet. Das schreibt uns unser Ehrenkodex zwingend vor.

    Khaled Hosseini
    Drachenläufer
    Berlin Verlag, 384 S., EUR 22,-