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Verspielte Gegend

Wer glaubt, dass Deutschland hinter Görlitz aufhört, der irrt sich: Etwa 20 Kilometer nordöstlich der Neißestadt liegt der östlichste Punkt Deutschlands - und ein eigener kleiner Kosmos.

Von Iris Riedel | 16.06.2013
    Der östlichste Zipfel Deutschlands ist heute mein Ziel. Nachdem ich Görlitz hinter mir gelassen habe, ziehen gelbe Rapsfelder und in Frühlingsblüte gekleidete Straßendörfchen vor den Autoscheiben vorbei. Plötzlich ändert sich das Bild. Ein Bretterzaun trägt buntgeringelte Hütchen auf seinen Pfosten, kleine bunte Holzhäuschen hängen in den Bäumen, goldene Zwiebelhauben auf blauen Türmchen lugen hinter dichten Büschen hervor. Dahinter liegt ein kleines Universum, eine Welt in der Welt direkt an der deutsch-polnischen Grenze. Nur das Wetter scheint hier genauso zu sein wie anderswo, heute es gießt aus Kannen. Mit Regenschirm und schlammfesten Schuhen ausgerüstet wartet Marika Vetter am Eingang, um mich durch dieses kleine Universum zu leiten.

    "Die ganze Insel ist eigentlich als Labyrinth aufgebaut, mit ganz vielen Wegen, das vermittelt noch den zusätzlichen Eindruck: Wow, das ist ja groß! Das soll eine Phantasiewelt sein, wo die Kinder an dem Rand der Phantasiewelt entlang spazieren. Die Kinder sind eigentlich die Rollenspieler, die nutzen das, um mit sich oder in der Gruppe zu spielen. Und wir bieten nur die Kulisse dafür."

    Die Kulturinsel Einsiedel ist kein gewöhnlicher Freizeitpark. Hier gibt es keine Achterbahnen und keine Riesenräder, eigentlich gar keine Technik. Denn alle Spielgeräte sind aus massivem Holz: krumme Stämme, geschnitzte Figuren, knorrige Wurzeln. Gerade stehen wir vor einer riesigen Puppenstube. Drei Kinder stürzen die Treppe hinauf.

    Die Papas säßen im Puppenhaus am liebsten auf dem Klo, erzählt Marika Vetter verschmitzt. Aber die Eltern sollen nicht nur sitzen und warten, bis sie ihre Kleinen am Ende des Tages erschöpft wieder einsammeln können.

    "Wer hat zum Beispiel noch nicht ein Baumhaus oder so gebaut in seiner Kindheit? Irgendwo ist in jedem noch so ein Stück weit Kind und das, was vielleicht früher nie ausgelebt werden konnte, da wird hier die Welt geschaffen, auch ganz oft die Väter dort aus der engen Röhre, schon mit Bandscheibenvorfall und Knieproblemen, aber kommen rausgekrochen."

    An diesem Tag schlürfen die Eltern lieber Kaffee, aber die Kinder schreckt der Regen nicht. Sie laufen sie von dem kleinen schwarzen Gummiteich, der sich als überdimensioniertes Trampolin mit dem Namen Evas Höppnerhopse entpuppt, zum Verirrum, einem Labyrinth aus bunten Holzhäuschen. Sie klettern über eine Leiter auf ein Hausdach, wo wie begossene Pudel zwei Lamas stehen und stoisch Stroh aus der Futtergrippe rupfen. Über eine Stiege geht es wieder runter zu den Tunneleingängen. Über 500 Meter unterirdische Gänge machen aus der Kulturinsel einen Schweizer Käse.

    "- "Und, traut ihr euch da rein?"
    - "Wir waren schon"
    - "Und?"
    - "Ist gar nicht mal so gruselig."
    - "Du hast ja sogar eine Lampe mit, na los!"
    - "Achtung Wasser!"
    - "Kommen Sie??""

    Genug gespielt, ich mache mich auf den Weg zu dem Mann, dessen Kopf dies alles entsprungen ist. Wer Jürgen Bergmann in seinem Büro besuchen will, muss schwindelfrei sein.

    Über Treppen und enge Stiegen windet sich der Weg in die Baumkronen. Ganz oben über den Wipfeln in einem geräumigen Baumhäuschen mit spitzem Dach und großen Fenstern und einem wunderschönen Blick hin zur Neiße sitzt ein Mann mit langen Haaren und grauem Bart. Er trägt ein weites, weinrotes Hemd und zweierlei Pantoffeln an den Füßen. Einen Abenteuerpark hatte er nie geplant, erzählt er.

    "Ich war zehn Jahre in der Forstwirtschaft, habe dann irgendwann dieses Bauernhaus hier gekauft, in dem ich mal als Lehrling gewohnt habe. Ich habe dann noch einen zweiten Beruf gelernt, Holzbildhauer, und habe schon vor Wende von der Holzbildhauerei gelebt. Und nach der Wende gab es sowieso nur die Flucht nach vorn. Ich habe am Tag der Währungsunion die Firma "Künstlerische Holzgestaltung" gegründet. Nach dem ersten Mal, dass wir einen richtig guten Auftrag hatten, da hatten wir das erste Mal Geld, davon haben wir eine Kunstgalerie gebaut, weil das da ein Defizit war. Wir haben gemerkt, wenn wir selber Kultur haben wollen, dann müssen wir die bei uns machen, weil Dresden, das war der einzige Kulturort damals, ist einfach mal anderthalb-zwei Stunden entfernt gewesen."

    Spielgeräte, die nicht sofort einen Kunden fanden, stellte er vor dem Bauernhaus an die Straße, als Schaufenster für mögliche Kunden. Doch welche Kunden sollten auf dieser einsamen Waldstraße vorbeifahren? Stattdessen entdeckten die Menschen aus der Umgebung die Spielgeräte für sich.

    "Dann haben wir Grundstücke dazu gekauft, weil wir Angst hatten, es baut uns irgendjemand eine Tankstelle vor die Nase, wir wollten unsere Einsiedelei behalten. Und irgendwann habe ich begriffen, dass das ja eine Art Freizeitpark wird, und ab dem Moment habe ich das bewusst betrieben."

    Bergmann ist eine sprudelnde Quelle für Ideen, der Park steht voll von Ihnen, und er reißt auch andere mit. Zum Beispiel Bielawa Dolna, das Nachbardorf auf der polnischen Seite. Mit EU-Geldern wurde eine Fußgängerbrücke finanziert. Statt zwei Stunden braucht man nun nur noch wenige Minuten von einem Ufer zum anderen.

    "Mit dem Schengener Abkommen haben wir sofort eine Fähre gebaut und einen Fährmann eingesetzt den ganzen Sommer über, um Kontakt zu haben, haben in dem Dorf direkt Menschen Arbeit gegeben, haben Kontakte zu einem Unternehmer geknüpft, der stellt für uns Rohschnittware her. Und dann haben wir begriffen, dass wir mit dem Dorf zusammen auch touristische Zukunft haben. Es gab viele Einwohner-Versammlungen und ich konnte das Dorf überzeugen, mit uns diesen Weg zu gehen. Mittlerweile ist das so klasse, dass das Dorf uns im Frühling hilft, die Insel zu putzen, und wir dann helfen, in dem Dorf einen großen Sobotnik zu machen, wo wir das Dorf verschönern, wo wir kleine Attraktionen machen, die das Dorf für Touristen und auch für die Einwohner lebenswerter machen."

    So entstanden zum Beispiel ein Museum mit Café oder ein Gehege mit verschiedenen Rinderarten, die deutsch-polnische Büffel-WG. Man merkt, dass Jürgen Bergmann die Zusammenarbeit mit der polnischen Seite persönlich sehr am Herzen liegt, auch wenn die Einwohner des nächstgelegenen deutschen Dorfes dies durchaus skeptisch sehen. Sicher nicht zuletzt weil die Kleinkriminalität überall entlang der deutsch-polnisch-tschechischen Grenze in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Es gibt also immer noch Gräben zu überwinden. Zu diesem Zweck erhalten die deutschen Mitarbeiter der Kulturinsel Polnischkurse. Aber auch das Folklorum ist ein Brückenstein. Mit 15.000 Besuchern ist es eines der größten Folkfestivals in Deutschland. Es findet seit zwanzig Jahren auf der Kulturinsel Einsiedel statt, seit 10 Jahren bilden deutsche und polnische Bands die Basis und auch in Bielawa Dolna gibt es Konzerte.

    Eine Bühne auf der Kulturinsel wird fast das ganze Jahr über bespielt, nämlich die Bühne des Krönums. So heißt das Theater, das sich die Kulturinsel Einsiedel auf dem eigenen Gelände gebaut hat. Gedacht ist es für Gäste des Abenteuerparks genauso wie für Gäste aus der Umgebung. 199 Besucher können Platz finden. Heute sind um die 60 gekommen. Verblüfft nehmen sie zur Kenntnis, dass auf dem Gebiet der Neißeaue vor etwa Tausend Jahren die Turiseder gelebt hätten.

    "Das Krönum diente den Turisedern als Versammlungshalle. Hier wurde der kindliche König gekrönt. Außerdem fanden dort Hochzeitsfeiern, Zeremonien... – da fand alles statt, was das gesellschaftliche Leben der Turiseder ausmachte. Unser Museum legt wert auf Authentizität, dazu gehört, dass Sie jetzt Kaftane bekommen."

    Die verschiedenfarbigen Gewänder ordnen die Gäste einer Berufsgruppe, einer sogenannten Sippe zu. Ich bekomme ein gelbes und gehöre nun zu den Musikern. Daraufhin dürfen die Sippen das Gebäude erkunden. Stege aus krummen Holzstangen führen kreuz und quer durch den Raum. Sie bilden die 23 Emporen, von denen aus man auf die Bühne schauen kann, und sie verbinden die vielen kleinen Nischen, in denen urige Holztische stehen. Krönum, das ist Theater zum Essen. Zwischen den einzelnen Akten werden von Küchentrollen insgesamt acht Gänge gereicht, vom Begrüßungstrunk über die Kastaniensuppe zum Buffet zum Eis usw.

    Das Spektakel beginnt. Das Stück heißt "Bockskampf im Ehering". Unter diesem verschlüsselten Namen verbirgt sich die Suche nach einem Bräutigam für die Tochter des Königs. Auch Kandidaten aus dem Publikum werden herangezogen. Doch zuerst einmal ist die Braut verschwunden.

    Prinzessin Fiona im Kleid aus Blättern und mit seidenen Flügelchen balanciert über den Köpfen der Zuschauer auf dem Seil. Auch weiterhin bleibt der Abend ein ständiger Wechsel aus Theater, Artistik und Essen, in dessen dramatische Wendungen das Publikum immer wieder einbezogen wird. Den Abschluss bildet der Hochzeitstanz mit – wie kann es hier anders sein – Polka und Musikimport aus dem Osten.
    Tunneleingänge im sächsischen Einsiedel
    Verlockend und ein bisschen unheimlich: die Tunneleingänge (Iris Riedel)