Archiv


Verwirrte Sinneseindrücke

Kennen wir den Dramatiker August Strindberg als Erforscher der Seelenabgründe, so wissen wir dagegen kaum etwas über seine Rolle als Innovator auf den Gebieten der Malerei und der Fotografie. "Verwirrte Sinneseindrücke" nimmt sich den anderen, wenig bekannten Strindbergs an, das heißt des Malers, des Fotografen, des Kunstkritikers, des Alchimisten, Okkultisten und Naturphilosophen.

Bernd Mattheus |
    Hinter dem geheimnisvollen Titel "Verwirrte Sinneseindrücke" verbirgt sich die Schilderung eines Besuchs des Schloßparks von Versailles, den Strindberg 1894 - ein Jahr vor der sogenannten "Infernokrise" - machte. Der Aufsatz liest sich freilich streckenweise wie eines der Drogenprotokolle Henri Michaux', mit dem Unterschied, daß bei unserem Autor keine Drogen im Spiel sind, der "Trip" bei wachen Sinnen und offenbar vollem Bewußtsein stattfindet. Seine Wahrnehmung der Außenwelt stimmt nicht mehr mit seinen Erfahrungen überein, die Dinge bekommen Zeichen- und Hinweischarakter, ein ihn ängstigendes Gleiten vollzieht sich. Aus seinen Wahrnehmungsstudien und der besessenen Selbstbeobachtung schließt er in diesem Fall, daß er in Versailles das Gemurmel der Menge in Paris vernimmt. Der Autor sollte solche Zustände der gesteigerten Sensibilität als Kunst der "naturalistischen Hellseherei" bezeichnen. Seinem neuen Selbstverständnis entsprechend wäre der Künstler eine Art Medium. Jene Koinzidenzen von Fakten und Zeichen, die alle eine Botschaft zu enthalten scheinen, wird später der Surrealist André Breton "objektiven Zufall" nennen und als poetische Methode anwenden.

    Schon im Alter von 40 Jahren hatte Strindberg bekundet, daß die Literatur nur eine angemessene Beschäftigung für die früheren Lebensdekaden sei, um sie wenig später der Wissenschaft unterzuordnen. In den Jahren der Krise, unmittelbar nach seiner Scheidung von Siri von Essen, gibt er von 1892-1897 die Literatur auf und widmet sich alchimistischen Experimenten, vertieft sich in Studien zur Botanik, Paläontologie, Metallurgie und dergleichen mehr, er malt und fotografiert. Strindberg malt zwar seit 1873, aber erst in den 90er Jahren vollzieht sich eine stilistische Befreiung vom Naturalismus, die seine Kunst verblüffend modern wirken läßt. Das Expressive seiner Gemälde grenzt an tachistische Farbexplosionen. Zwar behält er fast konstant die Motive Himmel, Meer und Höhle bei, aber diese sind eher Vorwand, seinen Stimmungen Ausdruck zu verleihen, dem Sujet im herkömmlichen Sinne. So erstaunt es nicht, daß er 1892 nur im Berliner "Salon des refusés" ausstellen durfte - allerdings neben keinem Geringeren als Edvard Munch. Daß sich Strindberg mit der Frottage sowie mit "objets trouvéts" (Fundstücken) befaßte - letztere hatten für ihn jedoch primär eine okkultistische Bedeutung -, macht ihm zum Vorläufer des Automatismus, den die künstlerische Avantgarde, spätestens mit den Surrealisten, für sich wiederentdecken sollte. Diesem experimentellen künstlerischen Vorgehen entspricht Strindbergs Plädoyer für den "Zufall im künstlerischen Schaffen", nachzulesen in einem Aufsatz aus dieser Zeit, der die Überschrift "Neue-Kunstformen!" trägt. Im Kontrast zu seiner eigenen Modernität verstand er seine Zeitgenossen nicht, noch schätzte er sie: weder die Symbolisten noch die Impressionisten, am wenigsten mochte er den wilden Paul Gauguin. In seinen Kunstkritiken zieht der Schwede sarkastisch über die uniformen Artefakte insbesondere seiner Landsleute her, die in Paris Karriere zu machen gedenken. Er prangert den Konformismus der angesagten Kunst an, die auf gefällige Wirkung bedacht, also berechnend ausgeführt worden zu sein scheint.

    Zwei Jahrzehnte lang beschäftigte sich Strindberg mit der Fotografie, ja sogar mit Experimenten zur "direkten Farbfotografie". Seine ersten Motive sind Porträts und Selbstporträts, die letzteren mit größter Sorgfalt in Szene gesetzt. Von kaum einem Autor der Zeit dürfte es mehr Fotoporträts geben. Nun experimentiert er mal mit der Kamera, mal mit den Fotoplatten an sich. So benutzt er eine Art Camera obscura ohne Linse - das konnte eine Zigarrenkiste mit einer winzigen Lochblende anstelle des Objektivs sein - oder setzte seine sogenannte "Wunderkamera" ein, die analog konstruiert gewesen sein dürfte, wo er mit Platten im Format 30 x 24 cm arbeitet, um Porträts in Lebensgröße zu erzielen. Die Ergebnisse besitzen jedenfalls eine ganz eigene, nahezu mediumistische Aura.

    Zum Faszinierendsten zählen die dem Band beigegebenen "Celestografien". Bei seiner "astronomischen Fotografie" setzte der Schriftsteller einfach unbeachtete Platten dem bestirnten Himmel aus. Die Ähnlichkeit mit von Raumsonden aufgenommenen Galaxien ist erstaunlich, selbst wenn Strindberg auf seinen Platten alles andere als Sterne fixierte und die ästhetische Wirkung nicht einmal beabsichtigte. Seine "Cristallogramme" schließlich, bei denen er Kristallisationen direkt auf lichtempfindlichem Material vornahm, müssen Fotogramme avant la lettre genannt werden - eine Technik, die eines Tages der Fotokünstler Man Ray virtuos handhaben wird.

    Was den Naturwissenschaftler Strindberg angeht, der in allen Disziplinen Autodidakt war, so kennzeichnet ihn ein poetisches, wildes Denken. Er betreibt Science-Fiction. Er ist nicht der einzige Alchimist, der noch im ausgehenden 19. Jahrhundert Gold synthetisieren will. Sobald wir berücksichtigen, daß er an die Existenz der chemischen Elemente nicht glauben kann, da diese in der Natur nicht im Reinzustand vorkommen, wirkt sein Ansinnen gleich weniger absurd.

    Unter dem Titel "Verwirrte Sinneseindrücke" hat der Herausgeber Thomas Fechner-Smarsly eine Auswahl von Strindbergs Schriften zu Malerei, Fotografie und Naturwissenschaften zusammengestellt, die größtenteils erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen. Der überdies bibliophil präsentierte Band schließt eine Lücke in der deutschsprachigen Strindberg-Edition.