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Violinkonzerte
Sibelius und Adès zeitlos

Die Violinkonzerte der Komponisten Jean Sibelius und Thomas Adès trennt ein immenser Altersunterschied. Der Geiger Augustin Hadelich hat diese Werke auf einem Album eingespielt. In dieser Zusammenstellung wirkt der eine zeitlos und der andere erstaunlich modern.

Von Jochen Hubmacher |
    Nahaufnahme vom Körper einer Geige.
    Augustin Hadelich spielt nicht auf irgendeiner Geige, sondern auf einer Stradivari. (picture-alliance/ dpa / Lehtikuva Ismo Pekkarinen)
    "Die Zeit, die ist ein sonderbar' Ding" heißt es im "Rosenkavalier" von Richard Strauss. Wie kaum eine andere Kunstform vermag es die Musik, die Zeit entweder komplett stillstehen zu lassen oder blitzschnell durch die Jahrhunderte zu reisen. Einen herausragenden Beleg dafür liefert uns die kürzlich beim britischen Label Avie erschienene CD des Geigers Augustin Hadelich. Gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Hannu Lintu hat Hadelich die Violinkonzerte von Jean Sibelius und Thomas Adès eingespielt.
    Thomas Adès
    1. Satz: Rings aus: Violinkonzert "Concentric Paths" von Thomas Adès
    CD-Track 1
    "Concentric Paths" – konzentrische Pfade, so hat der Engländer Thomas Adès sein 2005 in Berlin uraufgeführtes Violinkonzert betitelt. Das Kreisen um ein musikalisches Zentrum, wenn auch auf verschiedenen Bahnen oder in verschiedenen Geschwindigkeiten, ist das prägende Gestaltungsprinzip dieser Komposition. Der Solist der vorliegenden Aufnahme, Augustin Hadelich, würdigt "Concentric Paths" im CD-Booklet als die wichtigste Erweiterung des Geigen-Repertoires seit dem Violinkonzert von György Ligeti aus den frühen 1990er-Jahren.
    Die Anordnung der drei Sätze des Konzerts ist klassisch: schnell, langsam, schnell. Doch die Proportionen sind es nicht. Mit gut zehn Minuten dauert der Mittelsatz länger als beide Ecksätze zusammen. Thomas Adès bezeichnet sein Violinkonzert daher passenderweise auch als Triptychon. Das zentrale Bild in diesem dreiteiligen Klanggemälde ist der zweite Satz mit dem Titel "Paths" - Pfade. In der Art einer Chaconne oder Passacaglia wandert ein wiederkehrendes Bass-Motiv düster-bedrohlich durch die tiefen Register des Orchesters. Die Solo-Violine erhebt sich darüber wie ein Adler in luftige Tonhöhen, zieht erhaben ihre Kreise und gleitet langsam wieder zurück in irdische Gefilde. Augustin Hadelich zählt diesen Abschnitt des Konzerts zu den schönsten Passagen der gesamten Geigenliteratur. Und so grandios wie er ihn spielt, möchte man sich seinem Urteil gerne anschließen.
    2. Satz: Paths aus: Violinkonzert "Concentric Paths" von Thomas Adès
    CD-Track 2
    1. Satz: Allegro moderato aus: Konzert für Violine und Orchester, op. 47 von Jean Sibelius
    CD-Track 4
    Kaum zu glauben, dass ein ganzes Jahrhundert Musikgeschichte zwischen dem Violinkonzert von Thomas Adès und dem von Jean Sibelius liegt, aus dem wir zuletzt die ersten Takte gehört haben.
    Geniale Zusammenstellung
    Wie bei Adès tut sich auch hier bei Sibelius ein düsterer Orchesterabgrund auf und die expressive Solo-Violine vollführt darüber ihre Kunststücke wie ein Hochseilakrobat.
    Musikdramaturgisch geradezu genial von Augustin Hadelich, die Violinkonzerte von Thomas Adès und Jean Sibelius auf seiner CD nebeneinander zu stellen. Denn im Spiegel des Sibelius-Konzerts wirkt die Tonsprache von Thomas Adès aus dem 21. Jahrhundert keinesfalls wie ein Fremdkörper aus ferner Zukunft, sondern im besten Sinne zeitlos. Und die Musik von Sibelius trotz des immensen Altersunterschieds erstaunlich modern.
    Jean Sibelius
    Nach der gefloppten Uraufführung 1904 hatte Sibelius sein Violinkonzert noch einmal gründlich überarbeitet. Ein Jahr später wurde es in Berlin (auch dies eine Parallele zum Konzert von Adès) erstmals in der Fassung präsentiert, die heute meist zu hören ist. Richard Strauss war damals der Dirigent. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang auch der Kommentar von Augustin Hadelich im Begleitheft zu seiner CD, wenn er treffend bemerkt, dass das Sibelius-Violinkonzert mit seinen epischen Klanglandschaften "praktisch eine Tondichtung" ist. Immer wieder finden sich darin Passagen, die aus einer der zeitnah entstandenen sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss stammen könnten oder auch umgekehrt.
    1. Satz: Allegro moderato aus: Konzert für Violine und Orchester, op. 47 von Jean Sibelius
    CD-Track 4
    Augustin Hadelich und sein exklusives Instrument
    Augustin Hadelich hat das Privileg, auf einer exklusiven Geige spielen zu dürfen: Einer Stradivari, aus dem Jahr 1723. Ihren Beinamen "Ex-Kiesewetter" verdankt sie dem einstigen Besitzer, dem deutschen Geigen-Virtuosen und Beethoven-Zeitgenossen Christoph Gottfried Kiesewetter. Für Aufregung sorgte vor wenigen Jahren der damalige Leihnehmer der "Ex-Kiesewetter"-Stradivari, als er das Instrument, aktueller Schätzwert immerhin rund vier Millionen US-Dollar, versehentlich auf dem Rücksitz eines New Yorker Taxis liegen ließ. Der Taxifahrer erwies sich zum Glück als ehrlicher Finder.
    Seit 2010 steht die Geige Augustin Hadelich leihweise zur Verfügung. Und sie ist bei ihm hörbar in guten Händen. Mit Anfang 30 gehört der Sohn deutscher Eltern zweifellos zu den großen Geigenvirtuosen der Gegenwart. In seiner Wahlheimat USA haben das die wichtigen Orchester und Konzerthäuser etwas früher realisiert als in Europa. Aber angesichts der vorliegenden CD-Aufnahme dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Augustin Hadelich auch bei uns zu einer festen Größe im klassischen Konzertleben wird.
    Vieles spricht jedenfalls für ihn: Die Klarheit und Intensität seines Tons, die technische Perfektion, die fast schon gnadenlose emotionale Authentizität seines Spiels – in der Summe ergibt das jene Magie, mit der Hadelich die Hörerinnen und Hörer unmittelbar berührt.
    2. Satz: Adagio di molto aus: Konzert für Violine und Orchester, op. 47 von Jean Sibelius
    CD-Track 5
    Auf die drei leichtgewichtigen Sibelius-Humoresken für Violine und Orchester am Ende der CD hätte man gerne verzichten können. Sie wirken in etwa so deplatziert wie ein Prosecco nach einem exzellenten Sechsgänge-Menü. Was Augustin Hadelich und das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Hannu Lintu jedoch zuvor bei den Violinkonzerten von Thoma Adès und Jean Sibelius abliefern, verdient das Prädikat "unbedingt hörenswert". Die Aufnahme, die ich Ihnen heute vorgestellt habe, ist kürzlich beim Label Avie erschienen.
    Vorgestellte CD:

    Sibelius – Adès
    Violin Concertos
    Augustin Hadelich, Violine
    Royal Liverpool Philharmonic Orchestra
    Ltg.: Hannu Lintu
    Label: Avie
    Bestell-Nr.: AV2276
    LC: 11982