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Vom Gutmenschen und seinen Allüren

In den 1970er-Jahren war es Zeichen des Protestes, heute ist es unverzichtbares Accessoire eines selbstbewussten Bürgertums - das grüne Gewissen. Andreas Möller beschreibt das Phänomen in seinem neuen Buch. Im elitären Zeitgeist der "Generation Landlust" sieht er eine Ersatzreligion.

Von Dagmar Röhrlich | 03.06.2013
    Eine Kollegin aus Nigeria ist zu Besuch. Weil sie aus der Schule Gedichte kennt, die den deutschen Wald besingen, steht ein Spaziergang auf dem Programm. Wir reden über die uralten Bäume um uns herum. Sie fragt: Kann hier nichts passieren? In Nigeria könnte sie niemals ohne Weiteres einen Wald betreten, der Raubtiere wegen. Erstaunt erfährt sie, dass gefährliche Tiere aus den deutschen Wäldern schon so lange verschwunden sind, dass ihre Frage verblüfft. Autor Andreas Möller würde diese Anekdote amüsieren, steht sie doch für eine der Erkenntnisse seines Buches:

    "Der Naturidealismus und die Romantik, ja, sie sind immer ein Seitenpfad auch gewesen der deutschen Geschichte, aber die Deutschen haben die Natur immer dann geliebt, wenn es eine gute, eine geordnete, eine von Menschenhand gestaltete Natur war."

    Andreas Möller spürt in seinem Buch "Das grüne Gewissen - Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird" dem Lebensgefühl der Generation "Landlust" nach. Sie hat sich ihren Namen verdient, weil sich inmitten des Zeitungssterbens "ländliche" Magazine mit einer Millionenauflage etabliert haben: Sie zelebrieren nichts anderes als den Traum des gut verdienenden Bürgertums von einer heilen Welt - inklusive Anleitungen zum Basteln von Kastanientierchen:

    "Das grüne Denken ist salonfähig geworden mitten in der Gesellschaft, und meine These ist, dass wir nicht über Natur reden, wenn wir über Natur reden, sondern dass die Natur gewissermaßen zu einer Metapher in der Gesellschaft gerade der bürgerlichen Mitte geworden ist, und etwas ganz anderes meint - nämlich Werte, die wir zunehmend in der Gesellschaft vermissen: Beständigkeit, Stabilität, Sicherheit, Entschleunigung. Mitten in einer von Dynamik und Globalisierung geprägten Welt gucken wir immer mehr zur Natur."

    Dass Natur steten Wandel bedeutet, dass es ums Überleben geht und nicht um Entschleunigung oder Sicherheit, wird verdrängt:

    "Die Natur muss gewissermaßen für Attribute herhalten, die nicht in Ihrer Natur liegen."

    Andreas Möller beschreibt eine Gesellschaft, auf der Zukunftsängste schwer lasten und die sich gerne in Technikkritik übt. Eine Gesellschaft, die sich ins Biedermeierliche zurückzieht, die Natur zur Ersatzreligion erhebt und über die eigene Weltsicht nicht diskutiert:

    "Es gibt eine interessante Studie, die einmal aufgezeigt hat, dass die Deutschen, die für sich in Anspruch nehmen würden, eine Pionierleistung zu vollziehen, nicht nur am Beispiel der Energiewende, letztlich, ganzheitlich betrachtet, nicht nachhaltiger leben als das beispielsweise Bevölkerungen in südosteuropäischen Ländern tun. Bei uns werden Häuser vielleicht permanent gedämmt oder eine Alltagstechnik wird durch die nächste ersetzt, in Südosteuropa sind die Busse voll, auch wenn sie 20 oder 30 Jahre alt sind. Es gibt weniger Single-Haushalte, die Menschen leben in Großfamilien beieinander."

    Deshalb schnitten sie in Sachen Ökobilanz nicht schlechter ab als die ach-so-umweltbewussten Deutschen, so der Autor: Hier sei angesichts der Umweltzerstörung das Vertrauen der Gesellschaft in den materiellen Fortschritt zwar gebrochen – aber es sei eine satte Gesellschaft, der es an nichts fehle:

    "Die Ethik des Genugs (…)können nur die ausrufen, die genug haben. Zumindest in öffentlichen Verlautbarungen scheinen dies immer mehr Deutsche zu sein, die eine Mehrung des Wohlstands nicht als primäres Lebensziel angeben, während sie im Alltag doch ungebremst auf Konsum setzen."

    Für sein Buch ist Andreas Möller durch die Republik gereist. Er besuchte Kernkraftwerke, Biomarktbetreiber, fuhr ins "Schleckerland", dessen Ende 13.000 Menschen arbeitslos machte. Er beschäftigte sich mit der Massentierhaltung und der deutschen Angst vor der grünen Gentechnik. Er führt aus, dass uns die Natur inzwischen so fremd ist, dass wir ihre Gefahren infrage stellen - eine Ursache für die Impfverweigerung, die immer weitere Kreise zieht. Und er diagnostiziert eine fatale Einengung unseres Blickfeldes:

    "Wenn Sie eine Umfrage auf der Straße machen würden im Hinblick auf Naturschutz oder Umweltschutz, dann hätten sie in den achtziger Jahren sehr viel häufiger die Antwort gehört, dass es um den Schutz einzelner Biotope, um den Schutz der Landschaft vor meiner Haustür, geht. Heute ist der öffentliche Diskurs sehr, sehr stark durch die Klimadebatte dominiert. Es gibt eine Reduktion unseres Naturbildes auf die Frage, wie hoch unser CO2-Footprint ist."

    Deshalb kollidiert inzwischen oft Klimaschutz mit Natur- und Umweltschutz. Etwa wenn es um die unreflektierte Industrialisierung der Landschaft für die Energieerzeugung geht wie bei den ausufernden Energiepflanzenmonokulturen für die Biogasproduktion. Natur- und Landschaftsschutz wird nebensächlich, der Artenschutz spielt kaum mehr eine Rolle. Es geht um Rendite und Profit. So ist die Frage "Teller oder Tank" entschieden: Schon heute werden 19 Prozent der bundesrepublikanischen Fläche für energetische Zwecke genutzt. Keine Rolle spielt:

    "Die vorhandene Zahl an Bodenflächen ist nicht beliebig vermehrbar. Im Gegenteil: Deutschland ist ein Nettoimporteur an Agrar- und Ernährungsgütern. (…) Die verbrauchte "virtuelle Fläche" ist deutlich größer als die in Deutschland zur Verfügung stehende."

    Deutschland lebe auf Kosten anderer. Das Buch von Andreas Möller regt zum Nachdenken an und durchaus zu kritischen Diskussionen. Etwa darüber, ob er die Gefahren unterschätzt, die von der Umweltzerstörung ausgehen - oder die Bedeutung von Ökosystemen, die nicht vom Menschen bis zur Unkenntlichkeit verändert werden? Ob er nicht ein wenig zu sehr homo faber ist? Es ist wichtig, sich mit dieser bizarren deutschen "Naturliebe" auseinanderzusetzen. Und man sollte eine seiner Warnungen sehr ernst nehmen: Soll Deutschland weiterhin ein reiches Land mit großen sozialen Errungenschaften bleiben, braucht die Gesellschaft Know-how, technologische Vorsprünge und Industrie:

    "Die Prosperität als Grundlage funktionierender Sozialsysteme in Zweifel zu ziehen bedeutet (…), Alternativen ohne Beweis ihrer Praxistauglichkeit zu proklamieren, was Bände spricht hinsichtlich des "Mangels an ökonomischen Gefahrenbewusstsein", den die Meinungsforscherin Renate Köcher den Deutschen einmal attestierte."

    Ohne eine funktionierende Wirtschaft und Innovationen gibt es weder sozialen Frieden, noch eine hohe Lebensqualität. Andreas Möller fordert auf, eine neue Balance zwischen Technik und Natur zu finden. Und die sollte nicht von romantisierender "Landlust" geprägt sein, von Angst und Verweigerung, sondern vom Wissen um die Zusammenhänge und von einem bedachten, überlegten Handeln.


    Andreas Möller: Das grüne Gewissen
    Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird.
    Carl Hanser Verlag, 264 Seiten, 17,90 Euro.