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Vom Kreml aus dem Amt gedrängt

Walter Ulbricht, Machtmensch und Kommunist der ersten Stunde, war als Erster Sekretär des ZK der SED, Vorsitzender des Staatsrates sowie Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zum mächtigsten Politiker der DDR aufgestiegen. Als Ulbricht sich jedoch vom treuen Gefolgsmann Moskaus zum selbstbewussten Politiker wandelte, der die DDR als Modell für die Entwicklung der anderen sozialistischen Industriestaaten pries, geriet er ins Abseits. Vor 35 Jahren erklärte er gedrängt von Leonid Breschnew und Erich Honecker seinen Rücktritt.

Von Sylvia Conradt | 03.05.2006
    "Liebe Genossinnen und Genossen, zum ersten Punkt der Tagesordnung hat das Wort Genosse Walter Ulbricht."

    3. Mai 1971, eine interne Aufzeichnung aus dem Haus des Zentralkomitees der SED am Werderschen Markt in Berlin-Mitte.

    "Liebe Genossinnen und Genossen, nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, das Zentralkomitee auf seiner heutigen Tagung zu bitten, mich von der Funktion des Ersten Sekretärs des ZK zu entbinden. Die Jahre fordern ihr Recht und gestatten es mir nicht länger, eine solche anstrengende Tätigkeit wie die des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees auszuüben. Ich erachte daher die Zeit für gekommen, diese Funktion in jüngere Hände zu geben und schlage vor, Genossen Erich Honecker zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees zu wählen."

    Der damals knapp 78-jährige Walter Ulbricht war der älteste Regierungschef innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft. Als Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates war Walter Ulbricht der mächtigste Politiker in der DDR.

    Der Führungswechsel, so schien es, war freiwillig und verlief undramatisch. Tatsächlich aber hatte sich bereits ab Mitte der 60er Jahre eine oppositionelle Gruppe um Erich Honecker formiert. Auch die Moskauer Führung unter Generalsekretär Breschnew misstraute dem einstigen Gefolgsmann Stalins, der sich immer mehr als Lehrmeister des wahren Sozialismus gerierte.

    "Der Sturz und die Verschwörung gegen Walter Ulbricht hatten vor allen Dingen zwei Gründe","

    sagt Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam:

    ""Der erste Grund lag in der Wirtschaftspolitik. Es zeichnete sich in der Wirtschaftspolitik der 60er Jahre eine ökonomische Krise ab, für die Ulbricht verantwortlich gemacht wurde. Und der zweite, vielleicht wichtigere Grund war seine Deutschlandpolitik. Es gab Stimmungen in Moskau, die befürchteten deutschlandpolitische Alleingänge von Ulbricht. Und in der Situation hat dann zunächst einmal nicht die SED-Führung, sondern der sowjetische General-sekretär Breschnew die Notbremse gezogen und ist auf das SED-Politbüro zugegangen mit dem Wunsch, Ulbricht abzulösen."

    Im Laufe der 60er Jahre war deutlich geworden, dass der Techno-logietransfer aus der Sowjetunion begrenzt war. Deshalb war Walter Ulbricht daran interessiert, mit der sozialliberalen Bundesregierung eine eigene "Westpolitik" zum wirtschaftlichen Nutzen der DDR zu verfolgen. Eine engere deutsch-deutsche Zusammen-arbeit sollte die DDR technologisch nach vorne bringen.

    Ulbrichts Demontage begann auf der 14. Tagung des ZK der SED im Dezember 1970 - noch unbemerkt von der Öffentlichkeit. Im Januar 1971 wandten sich 13 von 20 Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros in einem Brief an Breschnew. Die Genossen, unter ihnen Erich Honecker, Willi Stoph und Günter Mittag, beklagten in ihrem siebenseitigen Schreiben unter anderem, dass Walter Ulbricht nicht mehr in der Lage sei, die wirtschaftliche und politische Lage realistisch einzuschätzen. Sie baten den sowjetischen Parteiführer, Walter Ulbricht auf Grund seines hohen Alters und Gesundheitszustandes zum Rücktritt zu bewegen.

    Das tat Breschnew am Rande des XXIV. Parteitages der KPdSU im April 1971. Wie geplant erklärte Ulbricht dann am 3. Mai vor dem ZK der SED seinen Rücktritt und nominierte den 58-jährigen Honecker als Nachfolger.

    "Sonnabend, der 19. Juni, 16 Uhr. Die letzte, die Abschlusssitzung des achten Parteitages beginnt."

    Dem achten Parteitag der SED im Juni 1971 - er läutete die Ära Honecker ein - war Walter Ulbricht aus Krankheitsgründen ferngeblieben.

    Erich Honecker: "Liebe Genossen und Delegierte, verehrte Gäste. Das Zentralkomitee hat auf seiner ersten Plenartagung einstimmig seine leitenden Organe gewählt. Zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wurde Erich Honecker gewählt."

    Von nun an war Erich Honecker der erste Mann im Staat. Walter Ulbricht wurde der Öffentlichkeit fortan als kranker Politiker präsentiert, der bis zu seinem Tod 1973 als macht- und einflussloser Vorsitzender der SED und des Staatsrats fungierte.