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Vom "Schurken" zum Partner

Vor fünf Jahren hat Oberst Gaddafi sein Land aus der Isolation geführt, indem er allen Massenvernichtungswaffen und dem internationalen Terror abschwor. Die richtige Entscheidung in letzter Minute, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Inzwischen ist Libyen zum begehrten Investitionsfeld für Unternehmen aus aller Welt geworden. Es herrscht Goldgräberstimmung.

Von Esther Saoub |
    Das Saleheen-Café im Zentrum der libyschen Hauptstadt Tripolis. Hinter den hohen Arkaden liegt ein neonbeleuchteter, nüchterner Raum mit zwei gläsernen Theken und einem Stehtisch. Seit 50 Jahren ist das Saleheen eine zuverlässige Adresse für hervorragenden Kaffee. Hier brüht und schäumt der Chef: Hassan Al Saleheen, Ende 70, steht im feinen Tweedjacket hinter seiner auf Hochglanz polierten Maschine.

    " Die ist aus Italien. Ich mache auch Eis und Pizza, dafür bin ich berühmt. Gelernt habe ich noch bei den Italienern. 1955 bin ich als Teilhaber eingestiegen, später habe ich den Laden gekauft. "

    Das war 1969, nach der Septemberrevolution von Oberst Muammar al-Gaddafi: über Nacht wurde der König abgesetzt und die italienischen Kolonialherren wurden des Landes verwiesen. Gaddafi erfand ein neues Libyen.

    Die "libysch-arabische, sozialistische Volksmassenrepublik" - Libyen also - liegt auf der Schwelle zwischen Afrika und Arabien. Über Jahrhunderte war das Land fremd beherrscht - Griechen, Römer und Türken holten sich hier Korn, Olivenöl und Sklaven. 1911 verschenkte der türkische Sultan die Provinz dann an Italien. Die Libyer wehrten sich. Doch sie unterlagen: ein Viertel der libyschen Bevölkerung - so schätzt man - ist damals ums Leben gekommen. Die Erinnerung daran lebt fort. Auch bei diesem Kunden im Saleheen-Café:

    "Die Italiener waren schlecht. Aber ein paar positive Sachen haben wir von ihnen übernommen: Pasta zum Beispiel, und natürlich den Cappuccino..."

    In den neunziger Jahren wurde es schwierig mit dem Cappuccino: Libyen stand unter einem internationalen Handelsembargo. Durch Terror-Anschläge, wie den auf eine PanAm Maschine über der schottischen Stadt Lockerbie, und die offene Unterstützung verschiedenster Guerillagruppen hatte sich Gaddafi die Sympathien des Westens verspielt. Keine westliche Fluggesellschaft flog mehr nach Libyen. Dennoch fanden die Libyer Wege nach Europa - ihre italienischen Kaffee-Maschinen haben sie jedenfalls immer am Laufen gehalten:

    Jeder, der nach Italien gefahren ist, hat Ersatzteile mitgebracht. Es gab zwar keine Direktflüge, aber wir sind mit dem Taxi nach Tunesien gefahren und von dort aus geflogen, oder wir sind mit dem Schiff über Malta nach Europa gekommen. So haben wir alles eingekauft, was wir brauchten.

    In diesem Sommer ist der Ton zwischen den Libyern und ihren ehemaligen Kolonialherren versöhnlicher geworden. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi höchstselbst besuchte das Land, und sicherte ihm 3,4 Milliarden Euro zu als, so wörtlich: "materielle und emotionale Anerkennung der Fehler, die unser Land in Ihrem Land während der Kolonialzeit gemacht hat". Die Summe soll über 10 Jahre in die Infrastruktur des Landes investiert werden. Mit dieser großzügigen Entschuldigung erkaufen sich die italiener zugleich Vorteile - Ministerpräsident Silvio Berlusconi:

    " Das bedeutet, dass sich unsere Zusammenarbeit entwickeln kann. Es werden weniger illegale Migranten von der Libyschen Küste aus zu uns kommen. Dafür viel libysches Gas und libysches Erdöl. In der besten Qualität. Wir werden auch an den großen Investitionen und Bauvorhaben, die heute geplant werden, teilhaben."

    Umgekehrt ist Mitte Oktober ein libysches Konsortium bei der italienischen Großbank Unicredit eingestiegen, die durch die Finanzkrise gefährlich angeschlagen war. In solchen Transaktionen liegt der Grund für das neuerliche Entgegenkommen Roms: Libyen ist zum gefragten Handelspartner geworden, für den Westen und den Osten, für Washington wie auch für Moskau. Und, das wird sich Italiens Regierungs-Chef gesagt haben, "wer jetzt nicht aufspringt, an dem wird der Zug vorbeifahren ..."

    Vor fünf Jahren hat Oberst Gaddafi sein Land aus der Isolation geführt. Indem er allen Massenvernichtungswaffen und dem internationalen Terror abschwor. Die richtige Entscheidung in letzter Minute, wie sich inzwischen herausgestellt hat: Im September legte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien Unterlagen vor, denen zufolge Libyen Pläne zur Herstellung von Atombomben besessen haben soll. Eine Wiederaufbereitungsanlage hätte mit deutscher Technologie Plutonium herstellen sollen, genug für eine Atombombe jährlich.

    Bevor es jedoch so weit kam, schwenkte Gaddafi um: Er ließ die Inspekteure der Atomenergiebehörde ins Land und stoppte alle Aktivitäten. Der zweite Schritt war dann die Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter von Lockerbie. Außerdem wurden die Opfer entschädigt. Hier sprang die wohltätige Stiftung des Sohnes ein, Seif al Islam al Gaddafi. Obwohl der bis heute nicht an die Schuld seines Landes glaubt. Vor kurzem sagte Seif al-Islam gegenüber der BBC:

    " Wir haben einen Brief an den UN-Sicherheitsrat geschrieben, in dem wir die Verantwortung für die Taten unserer Angestellten und Staatsbürger übernehmen. Doch das heißt nicht, dass wir das wirklich getan haben. Was aber sollen wir tun? Hätten wir diesen Brief nicht geschrieben, dann wären wir die Sanktionen nicht losgeworden. "

    Der Bombenleger, ein ehemaliger Geheimdienstmann, sitzt inzwischen in Schottland im Gefängnis. Er bestreitet jedoch nach wie vor, das Verbrechen begangen zu haben. Am 15. Oktober hat ein schottisches Gericht seinem Berufungsantrag stattgegeben. Der Prozess wird neu aufgerollt.

    Die Angehörigen der Opfer haben je 10 Millionen Dollar von der Gaddafi-Stiftung erhalten. Und noch bevor das gesamte Geld auf dem Konto des Entschädigungsfonds eingezahlt war, kam die Belohnung aus Amerika: Ein Staatsbesuch, der erste nach über 50 Jahren, in Gestalt der Außenministerin Condoleezza Rice:

    " Wir haben konkrete Fortschritte gemacht, denke ich. Wir arbeiten an einem Handels- und Investitionsabkommen. Ein Rahmenwerk, dass das Investitionsklima verbessern soll. Ich weiß, dass sehr viele amerikanische Firmen daran interessiert sind. Außerdem ist ein Kultur- und Bildungsabkommen im Gespräch, das auch den Austausch von Studenten möglich machen soll. Seit Libyen nichtständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat ist, haben wir auch dort wiederholt zusammen gearbeitet. Also: es ist ein guter Anfang, wenn auch nur ein Anfang. Doch nach so vielen Jahren halte ich es für gut, dass die USA und Libyen nach vorne blicken und einen neuen Weg beschreiten."

    Kolonel Gaddafi höchstselbst begrüßte die "schwarze Frau mit afrikanischen Wurzeln", wie er sie nennt, im selben Zelt, in dem schon andere westliche Staatsmänner ihre Aufwartung gemacht haben: Ex-Bundeskanzler Schröder war hier, Tony Blair auf seiner Abschiedsreise, der französische Staatschef Sarkozy und zuletzt Silvio Berlusconi, der Staats-Chef der ehemaligen Kolonialmacht Italien.

    Libyen ist zum begehrten Investitionsfeld geworden. Für Unternehmen aus aller Welt: Allen voran schreiten die Ölfirmen. Das Land verfügt nicht nur über die vermutlich größten Ölvorkommen Afrikas, sondern obendrein über besonders hochwertige: Der Rohstoff ist hier sehr leicht und deshalb kostengünstig zu raffinieren. Hinzu kommen große Gasvorkommen, die erst seit wenigen Jahren gefördert werden. In Libyen herrscht Goldgräberstimmung. Allerdings sind die Auflagen streng. Das erklärt Harald Empl, Direktor der RWE-Niederlassung in Tripolis:

    Die Libyer schreiben alle zwei oder drei Jahre Konzessionen für Fremdunternehmen aus. Wo man sich dann bewerben muss.

    Angebote gebe es nur im Paket - die Firmen könnten sich nicht aussuchen, wo sie bohren wollen:

    Die Regionen werden vorher bekannt gegeben. Dann muss man anhand einer Studie, die man selber erstellt, entscheiden, ob man auf die Konzession bietet. Man muss ja dafür auch was hinblättern.

    Wie viel genau er im Auftrag der RWE hinblättert, darf Harald Empl nicht verraten. In jedem Fall geht das Unternehmen in Vorkasse. Wenn es Glück hat und fündig wird, zahlt sich die Investition wieder aus. Für RWE hat sich das Geschäft bislang gelohnt: Mitte September wurde die Firma erneut fündig, im Bassin von Sirte. Das war der vierte Fund seit vergangenem April.

    Jede Bohrung gehört zu mindestens 51 Prozent der staatlichen libyschen Ölfirma NOC. Sie übernimmt auch mehr als die Hälfte der Förderkosten; allerdings erst, wenn auch wirklich Öl fließt. Auf diese Weise behält das aufstrebende Land die Hoheit über seine Ölvor-kommen, braucht aber nicht in teure Probebohrungen zu investieren.

    Doch der Ölboom in Libyen hat auch eine Schattenseite: Eine steigende Zahl von Migranten aus ganz Afrika zieht es nach Libyen. Es sind Menschen, die entweder hier ihr Glück suchen, oder aber weiter wollen nach Europa. Seit Spanien seine Grenzen weitgehend abgedichtet hat, ist Libyen zum Haupt-Transitland für Migranten geworden.

    In den engen Gasse der Altstadt von Tripolis, weitab vom renovierten Hafenviertel, wohnen und arbeiten sie - die Migranten aus Schwarzafrika. Schätzungsweise zwei Millionen Illegale und anderthalb Millionen legal arbeitende Migranten leben in Libyen - gemessen an sechs Millionen Einheimischen eine enorm große Zahl. In verfallenen Lehmhäusern, die die unbefestigten Gassen wie Festungsmauern eingrenzen, haben sie ihre winzigen Schneiderläden, reparieren alte Elektrogeräte oder bieten ihre Dienste als Friseure und Schuhmacher an.

    Ein Laden verkauft Raubkopien von CDs mit Musik aus Schwarzafrika - ein Stück Heimat für die Flüchtlinge, wenn auch in ausgesprochen schlechter Qualität.

    "Ich bin über Niger, Burkina Faso, Togo und Mali bis nach Libyen gefahren. Es hat einen Monat gedauert und ich habe viel Geld ausgegeben: 300 Dollar. In Ghana kannst du nur leben, wenn du viel Geld verdienst. Hier ist es besser, deshalb kommst du nach Libyen. "

    Schadé Apáiomi aus Nigeria hat in einer der Gassen ihren kleinen Friseursalon eröffnet. In der niedrigen Tür hängt ein Spitzenvorhang, innen ist gerade Platz für den Friseurstuhl, zwei Plastikstühle für Wartende und einen Spiegeltisch.

    " Ich bin gerne hier, verstehen sie, ich möchte in Libyen bleiben. Aber ich habe keine Freiheit: Wenn Libyen eines Tages sagt, dass alle Schwarzen zurück müssen in ihr Land, packe ich meine Sachen, nehme meinen Sohn und gehe zurück. Aber wenn Gaddafi den Schwarzen erlauben würde, hier zu bleiben, würden viele bleiben."

    Die libysche Wirtschaft ist seit Jahrzehnten auf Arbeiter aus dem Ausland angewiesen, doch die Regierung ist überfordert mit der Aufgabe, die große Zahl der Einwanderer in die Gesellschaft zu integrieren. Deshalb finanzieren die EU-Kommission und das italienische Innenministerium Schulungen für libysche Grenzpolizisten und Verwaltungsbeamte, die mit Flüchtlingen zu tun haben. Maßnahmen, die vor allem ein Ziel haben: zu verhindern, dass sich Afrikaner von Libyen aus nach Sizilien einschiffen.

    Seit Jahren patrouilliert die private Grenzsicherungsfirma "Frontex" im Mittelmeer, um Flüchtlingsboote aufzuspüren und zurückzuschicken. Ein weiteres Projekt: Elektronische Überwachungsanlagen entlang der libyschen Küste. Deren Bau wird Italien mit 340 Millionen Euro unterstützen. Der ehemalige Schurke Gaddafi ist auch hier zum wichtigen Gesprächspartner geworden: Wenn es darum geht, die Außenmauern der "Festung Europa" immer weiter in die Sahara hinein zu verschieben. Dass es sich bei den Migranten um Menschen handelt, scheint dabei langsam in Vergessenheit zu geraten. Das kritisiert der libysche Menschenrechtsanwalt Dr. Gumaa Atiqa:

    "Die betroffenen Staaten verfolgen ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen auf Kosten der Menschen. Sie verhandeln von einem rein wirtschaftlichen und pragmatischen Standpunkt aus, mit Forderungen wie: "Sicherheitszusammenarbeit ist nötig, wir müssen die Zuwanderung bremsen, welche Verantwortung trägt Libyen, welche trägt Italien...". Als Menschenrechtsaktivist sehe ich darin eine menschliche Tragödie, an der viele Parteien beteiligt sind und die nach wie vor andauert, ohne wirkliche Lösungen. Es ist die Verantwortung aller, dieses Problem zu lösen. "

    Eine indirekte Kritik auch am eigenen Regime, wie sie noch vor ein oder zwei Jahren undenkbar gewesen wäre. Doch das neue Libyen lässt auch eine gewisse Freiheit des Denkens zu. Unabhängige Zeitungen und Zeitschriften sind entstanden, die Missstände offen anprangern dürfen. Der Oberst sieht zu, sein Sohn Seif al-Islam kritisiert, selbst manch eine Entscheidung des obersten Volkskomitees.

    Neben dem traditionell gekleideten Vater wirkt der Sohn eher wie ein Unternehmer oder Manager - ein dynamischer Mann im Maßanzug, der mit den verkrusteten Strukturen der Volksmassenrepublik aufräumen will. In einer neuesten Wendung verkündete er, seine Reformanstöße seien nun nicht mehr nötig. Manche vermuten darin seinen Rückzug aus der Politik. Es könnte aber auch Teil eines geschickt inszenierten Machtwechsels sein.

    Ein arabisches Gleichnis beschreibt, wie man einen Elefanten zähmt: Ein Mann stellt ihm eine Falle und lässt ihn eine Weile darin hungern. Dann kommt ein anderer, befreit den Elefanten und gibt ihm Futter. Der Elefant wird dem zweiten Mann auf ewig treu bleiben ...

    Die Geschichte von Rechtsanwalt Gumaa Atiqa erinnert an dieses Gleichnis. Er hat in Italien Jura studiert, promoviert und jahrelang aus dem Ausland die libysche Führung kritisiert. 1988 ging er zurück - und tappte in die Falle:

    "Ich gehöre zu den Leuten, die nur in ihrem eigenen Land leben können - mein Leben ist in Libyen. Als es dann Ende der 80er Jahre eine Art Öffnung gab, und viele politische Häftlinge entlassen wurden, habe ich die Gelegenheit ergriffen und bin zurück gegangen. Ich wurde vor Gericht gestellt, wegen meiner Aktivitäten im Ausland. Das Urteil lautete auf Freispruch, aber ich kam sieben Jahre ins Gefängnis. "

    1997 wurde Atiqa entlassen - und kurze Zeit später vorgeladen: Vom Sohn des Revolutionsführers, Seif al-Islam al-Gaddafi. "Ingenieur Seif", wie der studierte Architekt hier genannt wird:

    "Ich habe Ingenieur Seif getroffen, und er hat über die Idee gesprochen, eine Menschenrechtsorganisation zu gründen. Was meine Erfahrung im Gefängnis betrifft, bin ich der Meinung, dass jeder, der es ernst meint mit den Menschenrechten, bereit sein muss zu vergeben. Seif al-Islam stellte mir seine Idee der Organisation vor und sie hat mir sehr gefallen. Mit der Vergangenheit und dem Gefängnis habe ich abgeschlossen, ich schaue nach vorne, und lasse mit nicht von Gefühlen steuern."

    So entstand die "Libysche Organisation für Menschenrechte". Sie gehört offiziell zur Gaddafi-Stiftung, finanziert sich aber aus Spenden. Unabhängig ist sie nicht, doch das formuliert Gumaa Atiqa nicht als Nachteil - jedenfalls nicht vor dem Mikrofon:

    " Die Menschrechtsorganisation ist ein erster Schritt. In schwierigen Zeiten kann ein Neuanfang wie dieser leicht erstickt werden, und zwar noch ehe jemand davon hört. Das ist eine erprobte Taktik. Aber die Anwesenheit von Ingenieur Seif al-Islam hat unser Projekt vor den schweren Händen der Macht geschützt. "

    Die Volksmassenrepublik Libyen wird von der allgemeinen Volksversammlung regiert, die wiederum von unzähligen mittleren und kleinen Volkskomitees unterstützt wird. Soweit der theoretische Entwurf im "Grünen Buch" und der sogenannten "Dritten Universaltheorie" von Oberst Muammar al-Gaddafi. Offiziell hat der "Held" der Septemberrevolution also keine Funktion in seiner Republik, inoffiziell jedoch scheint er ungebrochene Macht auszuüben: Zum letzten Jahrestag der Revolution, verkündete Gaddafi: ein großer Teil der Komitees werde aufgelöst, statt an den Sozialstaat wolle er die Öleinnahmen direkt an die Bevölkerung verteilen.

    Nur leere Worte? Oder aber eine erneute Kehrtwende? Eines muss man dem Oberst lassen: er ist äußerst wandelbar - man könnte auch sagen, unberechenbar. Gut möglich also, dass irgendwann doch noch Ingenieur Seif den Elefanten aus der Grube holt:

    " Es ist offensichtlich für jeden, dass Seif al-Islam Entscheidungen fällt, die den Ansichten seines Vaters widersprechen. Er hat die Freiheit, seine eigenen Ideen auszudrücken und umzusetzen. Er ist eine ehrenhafte Person und steht zu seinen sozialen und politischen Ansichten. "

    Leila Sueisi ist Chefredakteurin eines neuen und ungewöhnlich kritischen Hochglanzmagazins: Es heißt auf arabisch "Watasimu", ein Imperativ, der soviel bedeutet wie "Steht zusammen". Das Magazin steht unter der Schirmherrschaft von Aischa al-Gaddafi, Rechtsanwältin und Tochter des Staatschefs. Doch in die Inhalte der Zeitung mischt sich Doktora Aischa, wie Leila Sueisi sie nennt, nicht ein:

    "Inzwischen haben wir weitreichende Freiheiten. Zum Beispiel kommt in diesem Moment niemand von der Staatssicherheit und sagt mir, warum redest du mit ausländischen Medien? Warum schreibst du politische Analysen? Es passiert auch nicht mehr, dass jemand einfach mitgenommen wird, ohne rechtliche Grundlage, so etwas war früher möglich. "
    Der Menschenrechtsanwalt Gumaa Atiqa bestätigt diese Beobachtung: Auch für ihn ist es neu, dass er sich frei und ohne offiziellen Aufpasser mit ausländischen Journalisten unterhalten kann.

    Wer heute durch Libyen reist spürt nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine zaghafte politische Veränderung. Doch die Migranten haben nach wie vor Angst, offen zu reden. Und auch unter den Libyern ist die Schere im Kopf noch immer vorhanden: weder der Jurist noch die Journalistin wagen Äußerungen, die das System als solches in Frage stellen könnten. Selbst wenn alle den Sohn herbeisehnen - den Vater zu kritisieren, wagt niemand. Ein sanfter Übergang der Macht also, wie man ihn besser nicht inszenieren könnte. Doch selbst wenn es sich um eine "Revolution" von oben handelt, ausschlaggebend sind die, die den Mut haben, sie an der Basis umzusetzen:

    Ich war zehn Jahre lang als Dissident im Ausland - diese politische Erfahrung kenne ich gut. Ich will niemandem zu nahe treten, aber ich halte die Arbeit im Land, egal wie bescheiden sie ist, für wirksamer. Wenn Sie einen einzigen Menschen in einer Polizeistation davor bewahren können, geschlagen zu werden, wenn Sie jemandem helfen können, einen Job zu finden, oder einen Menschen aus dem Gefängnis holen, dann ist diese Handlung mindestens so großartig wie eine spektakuläre Aktion im Ausland. Das ist der Unterschied.