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Von der Kaderschmiede zum Altenheim?

Vor allem in den ersten Jahren nach der Gründung Israels 1948 übernahmen überdurchschnittlich viele Kibbuznikim politische und militärische Führungsaufgaben. Inzwischen wandelt sich das einst halb sozialistische Israel zu einer individualistischen Konsumgesellschaft nach US-amerikanischem Vorbild. Die Ideen der sozialistischen Pioniere sind out.

Von Robert B. Fishman | 31.03.2007
    " Ich möchte zurück zu den schönsten Tagen meines Lebens, die Tage von Benyamina, als alles langsam floss, die Sonne sich noch Zeit ließ, die Leute sich freundlich grüßten und ein Freund ein Freund war ... "

    Das Lied des 2005 verstorbenen Ehud Manor ist für viele Israelis eine Art zweite Nationalhymne geworden. Auch für Silja, Mitte 40. Sie stammt aus dem Rheinland. Vor 20 Jahren verbrachte Silja als Studentin ein Semester im Kibbuz Dalija bei Haifa. Dort verliebte sie sich, wie sie sagt, in ihren Mann, den Kibbuz und das Land - und blieb. Seitdem hat sich Israel verändert. Der Kibbuz auch.

    " Als mein Bruder hierhin kam, das war vor vielen Jahren, da war es noch so, dass alles im Kibbuz umsonst war, das heißt wir konnten im Dining Room sitzen und essen, und die ganze Mahlzeit, war alles umsonst, und mein Bruder konnte aufstehen, sich mehr nehmen und sich noch mehr nehmen, und mit einem Mal sagt er: Muss man da nichts bezahlen? Da hab' ich gesagt: Ne, du bist mein Gast, damit bist du Gast des Kibbuz. Und das war was, worauf wir im Kibbuz eigentlich immer sehr stolz waren, dass der Kibbuz auf Vertrauen aufgebaut ist, dass alles offen umsonst ist, und der Kibbuz sich drauf verlässt, dass niemand das ausnutzt."

    Die Zeiten sind vorbei, in Dalija ebenso wie den anderen rund 270 Kibbuz-Siedlungen in Israel. Rund drei Viertel der Kibbuzbewohner zahlen inzwischen ihr Essen selbst, ein Drittel der Arztpraxen in den Kibbuzim ist privatisiert. Für ihre Stromrechnung kommen vier von fünf der Kibbuznikim selbst auf und zwei Drittel verdienen ihr eigenes Gehalt. Was dem Durchschnittsisraeli oder -deutschen selbstverständlich erscheint, gilt vor allem den älteren Kibbuznikim als Umsturz, manchen gar als Untergang jener Welt, für die sie lange gekämpft haben.

    " Am 25. des Monats Tishri des Jahres 5671, dem 28. Oktober 1910, kamen wir, zehn Genossen und zwei Genossinnen nach Um Juni. Wir begannen damit, eine unabhängige Siedlung hebräischer Arbeiter auf nationalem Land zu errichten. Eine kooperative Gemeinschaft ohne Ausbeuter und ohne Ausgebeutete - eine Kommune."

    Die vor mehr als 100 Jahren aus der Not der jüdischen Ghettos in Europa Geflüchteten wollten in Palästina den Sozialismus verwirklichen. Entscheidungen traf in den Kibbuzim die Vollversammlung. Jede Arbeit galt als gleichwertig. Alle Einnahmen flossen in die Gemeinschaftskasse, die alle Ausgaben bestritt. Es galt das Prinzip "Jeder gibt nach seinen Fähigkeiten, und jeder bekommt nach seinen Bedürfnissen." Erich König lebt im Kibbuz Deganya B, das 1920 direkt neben Israels erstem Kibbuz Deganya A gegründet wurde.

    " Wir stehen hier vor dem ersten Gebäude oder dem ersten Gebäudekomplex, der in Deganja gebaut wurde, 1912, und du siehst genau, es sieht aus wie ein befestigter Bauernhof. Er ist im Viereck gebaut, und da, wo heute der Zaun ist, um dieses Gebäude war dann noch eine hohe Mauer, die das Ganze geschützt hat. "

    Arbeit galt den Gründern nicht nur als Existenzsicherung. Sie war so etwas wie Lebenszweck und Daseinsberechtigung. Viele, die nicht mithalten konnten, mussten gehen.

    " Es gibt eine Dichterin namens Rahel. Sie lernte an einer landwirtschaftlichen Schule, aber sie hatte damals schon Tuberkulose. Sie wurde hinausgeschmissen aus diesem Kibbuz, nicht weil sie krank war, sondern weil sie chronisch krank war, das heißt ihre Arbeitskraft ist vermindert. Wer nicht arbeiten kann, hat im Kibbuz keinen Platz. Sie ging dann nach Tel Aviv, und ist dann in den frühen 30er Jahren ziemlich arm und elend gestorben."

    Um den Frauen die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten wie den Männern zu gewähren, baute man für die Kinder eigene Kinderhäuser. Sie wuchsen unter Anleitung von Erzieherinnen mit Gleichaltrigen auf. Ihre Eltern sahen sie nur nachmittags, als Besucher.

    Die von Pädagogen aus der ganzen Welt mit großem Interesse beobachteten Kinderhäuser sind inzwischen Geschichte, wie die Pioniertage der Kibbuzim. Nach fast 30 Jahren unter sozialdemokratischer Mehrheit wählten die Israelis 1977 den konservativen Likud in die Regierung. Die neue Mehrheit strich den Kibbuzim die Zuschüsse und die vom Staat verbilligten Kredite. Viele der kleinen Kibbuzbetriebe halten der internationalen Billig-Konkurrenz heute nicht mehr stand. Die Landwirtschaft, die bis in die 90er Jahre zwei Drittel der Kibbuzeinnahmen lieferte, lohnt sich kaum noch. Einige Kibbuzim haben dennoch ihre Nische gefunden: So besitzt Hetzarim in der Negev-Wüste das weltweite Patent für eine besonders effektive Form der Bewässerung. Über spezielle Schläuche gelangt das Wasser direkt an die Wurzeln der Pflanzen. In Deganya B ernährt neben Viehzucht, Dattel- und Bananenplantagen eine Fabrik für landwirtschaftliche Sprühgeräte seine Bewohner mehr schlecht als recht.

    " Hier werden erzeugt die kleinen Gewindeschrauben oder Teile, die man für die Sprühmaschinen dann braucht, aus Stahl, aus Gusseisen, aus Bronze. So eine Maschine kostet zum Beispiel 350 bis 400.000 Dollar. "

    Geld, das Deganja ebenso wenig hat wie die meisten anderen Kibbuzim. Schlechtes Management und Misswirtschaft haben den Niedergang vieler Kibbuzim beschleunigt. So schätzt das Kibbuzforschungsinstitut der Universität Haifa, dass allein der Stromverbrauch in den Kibbuzim um mehr als die Hälfte zurückgegangen ist, seit die Bewohner ihre Stromrechnungen selbst bezahlen müssen. Die Deutsche Bettina Cohen-Kowalsky lebt seit 15 Jahren im Kibbuz Harel zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Sie erinnert sich an die Zeiten, als, wie viele Israelis lästern, "Papa Kibbuz" für seine Mitglieder alles bezahlte.

    " Wasser, Strom, Klimaanlage wurde einfach angelassen, Licht, kein Problem, Essen wurde einfach weggeworfen, ganz schön krass, wirklich viele Verschwendungen, ich denke, deshalb tut es mir auch nicht leid um den Kibbuz."

    Die Kibbuzim haben die Mentalität ihrer Bewohner geprägt. Sorglosigkeit sagt man ihnen nach, im Positiven wie im Negativen. Sie kennen keine Existenzsorgen, gelten aber auch als naiv. Den Umgang mit Geld müssen sie "draußen" erst mühsam lernen. Besonders ausgeprägt ist in den Kibbuzim - so jedenfalls empfinden es die Bewohner - der Gemeinschaftsgeist. Diana, aus dem Wüstenkibbuz Qeturah bei Elat, schwärmt:

    " Jede Gemeinschaft hat ihre guten und ihre schlechten Seiten. Vor einem Jahr ist meine Mutter gestorben. Da war die Gemeinschaft wunderbar. Alle haben angerufen, Essen gebracht, mich gefragt, was ich brauche. Das bekommst du sonst wirklich nirgends. Auch die Hochzeiten und Bar Mizwas. Da kommt die ganze Gemeinschaft, um dir zu helfen. Und die Sicherheit. Du weißt immer, dass du dir ums Essen keine Sorgen machen musst und dass du immer ein Dach über dem Kopf hast. Es wird dir nie passieren, dass du krank bist und sich niemand um dich kümmert. Meine Kinder werden nie reich sein und Massen von Spielzeug haben, aber sie werden immer alles haben, was sie brauchen. Und das ist wirklich wunderbar."

    Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Natürlich, berichtet Silja aus dem Kibbuz Dalija, nutzen einige das aus:

    " Ja, und dann gab's natürlich immer die Leute, die so was dann ausgenützt haben, die sich dann angestellt haben und noch mal und noch mal sich ein Steak haben geben lassen und das dann an den Hund verfüttert haben. So gibt es zum Beispiel die Geschichte hier über eine Frau, deren Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, und als sich das dann herumsprach unter ihren Freunden und Bekannten, strömten also von überall die Leute ins Trauerhaus, um ihr eben ihr Beileid auszusprechen. Und auf dem Weg zum Trauerhaus trafen sie diese Mutter, und die sagte: wartet, ich komm' gleich, ich muss noch eben Apfelstrudel holen, im Dining Room gibt's heute Apfelstrudel. "

    Silja glaubt nicht an die These, dass der Eigennutz die Krise der Kibbuzim herbeigeführt hat. Erich König sieht das anders. Er fühlt sich ausgenutzt von denen, die andere für sich arbeiten lassen. Mit zahlreichen Reformen versuchen die Kibbuzim, ihren wirtschaftlichen Niedergang zu stoppen: Die Gehälter, die einst auf Gemeinschaftskonten flossen, werden nun direkt an die Mitglieder überwiesen. Dafür zahlen sie Essen und Strom, die Wäscherei, ihre Arztrechnungen und alle anderen Lebenshaltungskosten selbst. Erich König:

    " Die Privatisierung im Kibbuz ist für mich besonders interessant, für mich und meine Frau, weil wir beide nicht schlecht verdienen. Ich bin Fremdenführer und fahre sechs bis acht Monate im Jahr mit deutschen Gruppen herum. Und da bekomme ich sehr viel Geld dafür, und das ganze Geld geht natürlich in den Kibbuz ... . 140 Dollar pro Tag. Und wenn wir ein bisschen mehr Geld in der Tasche hätten, würden wir uns sehr freuen. Aber wir müssen von unserem Taschengeld leben und da kommen wir einfach nicht aus damit."

    Vom Kibbuz erhält das Ehepaar König bisher umgerechnet 550 Euro Taschengeld im Monat und etliche kostenlose Leistungen:

    " Das Essen, die Wohnung, das Wasser, Erziehung und Gesundheit, und das könnte, wenn man nicht Kibbuz-Mitglied ist, sehr, sehr viel Geld kosten, vor allem, was die Gesundheit betrifft. Und die Wäscherei, das ist natürlich kostenlos für uns. Und wir bekommen subventioniert Autos zur Verfügung gestellt, wenn wir sie früh genug bestellen. "

    Wird die Privatisierung also zum wirtschaftlichen Erfolg der Kibbuzim beitragen? Shlomo Getz vom Kibbuzforschungsinstitut der Uni Haifa sieht da keinen Zusammenhang. Es gebe bereits privatisierte Gemeinschaftssiedlungen, die dennoch Verluste anhäuften und solche, die erfolgreich als Kommune wirtschafteten. Das Hauptproblem sieht Getz in der Überalterung.

    " Viele junge Leute sagen, dass sie die Lebensart im Kibbuz nicht mögen. Sie wollen eigenständig leben und sich vom Kibbuz nichts vorschreiben lassen. Die Kibbuzim haben ihre jungen Leute zu unabhängigen, selbstbewussten, weltoffenen Menschen erzogen. Damit hatten sie so großen Erfolg, dass die jungen Leute glauben, alles erreichen zu können und den Kibbuz nicht mehr zu brauchen. Das Kibbuzsystem war es ja, das den jungen Leuten alle Wege öffnete."

    In jüngster Zeit ist das Durchschnittsalter der Kibbuzbewohner jährlich um sechs Monate gestiegen. Für die Abwanderung der jungen Leute gibt es viele Gründe. Corinna Levy hat in den 80er Jahren als Volontärin im Kibbuz gearbeitet. Heute lebt sie mit Mann und Kindern im eigenen Haus in einer der bei jungen Familien beliebten Vorstädte Tel Avivs: Schicke Doppelhaushälften und Einfamilienhäuser mit eigenem Garten, ruhige Anliegerstraßen.

    " So'n Kibbuz ist organisiert in der Form, dass ein oder zwei Manager reichen, um das Ganze zu organisieren und das Ganze am Laufen zu halten, und ansonsten gibt's dann eigentlich Küchenarbeiten, Gartenarbeiten oder Feldarbeiten. Und in unserer heutigen Zeit, wo junge Leute ein Abitur machen, Ideen haben, Träume haben, sich verwirklichen wollen, eine schöne Arbeit arbeiten wollen, was aufbauen wollen, da ist im Kibbuz dafür eigentlich kein Platz frei. "

    Vor allem in den ersten Jahren nach der Gründung Israels 1948 übernahmen überdurchschnittlich viele Kibbuznikim politische und militärische Führungsaufgaben. Der erste Ministerpräsident David Ben Gurion stammte aus einem Kibbuz, der kürzlich zurückgetretene Generalstabschef Dan Chaluz ebenso. Inzwischen wandelt sich das einst halb sozialistische Israel zu einer individualistischen Konsumgesellschaft nach US-amerikanischem Vorbild. 1,7 der knapp 7 Millionen Israelis leben in Armut. In einigen Armenvierteln kommen Kinder hungrig zur Schule, weil das Geld nicht fürs Essen reicht. Der Abstand zwischen Arm und Reich wächst schneller als in den meisten westlichen Ländern. Gleichzeitig haben die Israelis ihr Bruttoinlandsprodukt in den letzten 20 Jahren auf gut 17.000 US-Dollar pro Kopf mehr als verdreifacht. Die Ideen der sozialistischen Pioniere sind out. Doch es gibt auch erfolgreiche Neuanfänge. Vier so genannte Stadtkibbuzim greifen die Ideen der Gründungsgeneration wieder auf, gehen aber neue andere Wege.

    " Diese Siedlung hier haben ehemalige Mitglieder anderer Kibbuzim gegründet, weil sie vom Leben in ihren Kibbuzim enttäuscht waren. Das hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen kennen sich in den großen Kibbuzim mit mehreren hundert Mitgliedern die Leute untereinander oft nicht. Und das zweite ist die Überregulierung des Alltags in vielen Kibbuzim. Jede Frage muss man dort einem Komitee vorlegen, und alles wird geregelt. Das schränkt die Autonomie des Einzelnen doch sehr ein."

    Ofer, 36 Jahre alt, lebt mit seinen beiden Kindern in Tamuz am Rande von Beit Shemesh bei Jerusalem. Die Stadt gilt mit ihren vielen Neueinwanderern und Ultra-Religiösen als sozialer Brennpunkt. Die Mitglieder des Stadt-Kibbuz Tamuz engagieren sich, anders als die Kibbuznikim auf dem Land, in der Stadtgesellschaft. Sie betreiben ein Rechtsberatungsbüro, organisieren Hausaufgabenhilfe für Kinder aus armen Familien und den Flohmarkt, auf dem sich Bedürftige aus der Umgebung mit Kinderkleidung eindecken.

    " Hier sind wir nur etwa 15 Familien. Die Leute vertrauen sich gegenseitig, und viele sind befreundet. Wir haben keine Komitees, keine Direktion. Einerseits entscheidet jeder und jede selbst, ob er oder sie zum Beispiel studieren möchte. Andererseits muss er dabei eigenverantwortlich die Interessen der Gemeinschaft beachten, zum Beispiel das begrenzte Budget. "

    Auch einige traditionelle Kibbuzim öffnen sich. Kinder aus dem Umland besuchen inzwischen die Kibbuz-Kindergärten und Schulen, die landesweit einen guten Ruf genießen. Hier sind die Gruppen kleiner, die Kinder verbringen mehr Zeit draußen in der Natur, und sie lernen auf dem Kibbuzgelände die Arbeitswelt der Erwachsenen kennen.

    Ganz in der Nähe von Tamuz hat der Kibbuz Tsorah ein Kulturzentrum gebaut, in dem Kinder und Jugendliche aus dem Kibbuz und aus der Umgebung Tanz- und Musikkurse besuchen.

    " Sie kommen aus der ganzen Region. Auch Araber können kommen. Das ist ja der Sinn dieses Zentrums: Integration. Die Eltern der jüdischen Kinder kommen aus dem Jemen, dem Irak, Marokko, manche sind religiös, die meisten von uns nicht. Das ist ein Schmelztiegel hier, das macht es so schön."

    Der in Australien geborene, 86-jährige Kibbuznik Sol Etzioni lebt seit mehr als 50 Jahren in Tsorah. Auf das Kulturzentrum ist er stolz.

    " Wenn mir jemand vor 50 Jahren erzählt hätte, dass wir im Kibbuz einmal klassische Ballettkurse für Kinder aus der ganzen Umgebung haben würden ... wo die meisten Eltern und Großeltern noch nicht mal etwas von klassischem Ballett gehört haben, und jetzt haben wir das zusammen mit Jazz, modernem Tanz, Folklore, das ist wirklich etwas Besonderes."

    Derweil diskutieren sich die gut 600 Bewohner des Kibbuz Dalija über das Thema Privatisierung die Köpfe heiß. Auf den wöchentlichen Vollversammlungen fliegen hier wie andernorts die Fetzen. Das Radio möchte man lieber nicht dabei haben. Nicht nur Silja sieht den Wandel mit gemischten Gefühlen.

    " Ich sehe das überall, dass alles käuflich wird und alles in Dollars berechnet wird, und dass man den Erfolg im Leben und das eigene Fortkommen im Leben und das alles in Statussymbolen berechnet, was übriges in Deutschland brutaler ist als im Kibbuz. Im Kibbuz sind wir so eine kleine Insel, wo das noch nicht so ist. "