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Von der Schwierigkeit, die Liebe zu finden und zu bewahren

In Katrin Seddigs zweitem Roman geht es dort hinein, wo es höllisch sein kann und wo sich doch die meisten von uns hin wünschen. "Eheroman" heißt er und erzählt von der grundsätzlichen Fremdheit, in der auch Paare aneinander vorbeischrammen und von der man allenfalls mit 16 glauben konnte, sie ließe sich dauerhaft überwinden.

Von Wiebke Porombka |
    Ganz zu Anfang des Romans steht Ava am Osterfeuer und philosophiert über das Leben. So wie 16-Jährige eben über das Leben philosophieren: dass sie weggehen wird hier aus diesem norddeutschen Kaff, in dem sie aufgewachsen ist, dass sie um keinen Preis der Welt Kinder bekommen wird und dass sie alles daran setzen wird, nicht so zu werden wie die, die hierbleiben und das Leben ihrer Eltern weiterleben.

    Am Ende, nach fast 450 Seiten, wird Ava wieder an einem Osterfeuer stehen, als Besucherin in ihrer alten Heimat. Gut zwei Jahrzehnte werden vergangen sein, eine Ehe wird hinter ihr liegen, ein paar Affären und eine Scheidung. Ein Leben zwischen Haushalt, zwei Kindern und der Arbeit als Krankenschwester und Altenpflegerin. Und während die Flammen knistern und Bratwürste und Bier verteilt werden, ist zweifelsohne der Moment gekommen, an dem Ava überlegen muss, was sie anfängt mit der zweiten Hälfte ihres Lebens.

    Als Leser ist man hin- und hergerissen, ob man mit ihr frohlocken soll, dass sie mehr oder minder heil herausgekommen ist aus dieser ersten Hälfte des Lebens. Oder ob man mit ihr darüber weinen soll, dass es ohnehin kein Entrinnen gibt aus der bestürzenden Mittelmäßigkeit des Lebens.

    "Nein, es gibt kein Rezept fürs Glücklichsein. In der Geschichte ist es ja so, dass die Schwester von Ava dort in dem Dorf bleibt mit ihrem Mann, den sie ja schon ganz jung kennen gelernt hat und mit dem sie auch schon ganz jung zusammen gezogen ist. Und die leben da auch ein ganz konventionelles Modell mit ihren Kindern und ihrem Reihenhaus. Ihre Schwester ist in gewisser Weise auch bescheidener, was die Ansprüche an das Leben angeht. Vielleicht auch, was die Ansprüche an ihren Mann angeht."

    Wiederum, wie schon in ihrem Debüt "Runterkommen", erzählt Katrin Seddig in "Eheroman" über das vermeintlich unspektakuläre Leben von Menschen aus der vermeintlich unspektakulären Mittelschicht. Über das Leben am hinteren Ende der Reihenhaussiedlung, das aber eben von denselben Fragen umgetrieben wird wie das Leben aller anderen auch.
    Von der Frage danach, ob so etwas wie Glück möglich ist. Und falls ja, was um alles in der Welt man anstellen muss, um es zu erreichen? Und natürlich geht es auch um die immer gleiche und nichtsdestoweniger große Frage nach der Liebe und danach, wie man sie findet und wie man sie bewahrt. Das sind Fragen, die man kaum aussprechen kann, ohne dass sie zum Klischee verkommen.

    Das Geheimnis von Katrin Seddigs Prosa aber ist, dass sie das Große auf das Selbstverständliche, bisweilen Banale herunter bricht, ohne es dabei zu denunzieren. Im Gegenteil. Man ist immer wieder aufs Schönste verwundert darüber, wie Katrin Seddig mit Schnoddrigkeit zum Wesentlichen vordringt. Diese Mischung aus Weisheit und Naivität gilt auch für Katrin Seddings Protagonisten Ava.

    "Ava kann tatsächlich schlecht damit umgehen, wenn Leute Schmerzen haben, was in ihrem Beruf vielleicht nicht so praktisch ist. Sie kann Menschen pflegen und sie kann denen Verbände anlegen, und das führt dann in gewisser Weise zum Besseren. Aber wenn jemand Schmerzen hat und sie dagegen nichts tun kann und wenn jemand was erleidet, wo sie nichts gegen tun kann, das kann sie nicht ertragen. Man kann Schmerzen nicht übernehmen für jemand anderen."

    Nicht nur Schmerzen kann man nicht für jemand anderen übernehmen. Mit den Träumen und Wünschen steht es ähnlich. Womöglich liegt darin das eigentliche Problem von Ava. Zwar haben ihre Eltern, auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters, sie nach der großen Ava Gardner, dem Filmstar, genannt und ihr damit das Versprechen eingeschrieben, etwas Besonderes zu sein. Ihre ältere Schwester heißt schlicht und ergreifend: Petra. Aber Ava trägt diese Besonderheit allenfalls als eine diffuse Idee mit sich herum. Die großen Wünsche oder die kleinen Utopien scheinen relativ bald nur noch die anderen zu haben. Ihre kurze Affäre, der LKW-Fahrer Stulle, der von einem Leben auf See träumt. Oder ihre rothaarige Freundin Merve, deren Stimmungsamplitude immerzu in alle Höhen, Tiefen und Richtungen ausschlägt. Ava macht das Leben eher irgendwie so mit, trotz ihrer einstmals großen Pläne.

    Mit der Liebe steht es nicht sonderlich anders. Schon bei jenem ersten Osterfeuer hat sie Danilo das erste Mal gesehen. Indiskutabel im Grunde. Ein schlaksiger Junge mit dichtem schwarzen Haar und altmodischer Brille, linkisch und auf geradezu lustige Weise schwärmerisch. Noch dazu ist er vier Jahre jünger als sie. Trotzdem werden die beiden wenige Jahre später ein Paar.

    "Wahrscheinlich verliebt sich Ava in Danilo, weil er sie so unbedingt will und weil er sie so liebt. Das hat etwas viel Unbedingteres als ihre Beziehung, die sie vorher hatte. Das reißt sie dann irgendwie da mit rein. Man kann sich ja nicht von jemandem überzeugen lassen, ihn zu lieben. Aber dass jemand einen liebt und man ihn deswegen auch beginnt zu lieben, das kann ich mir schon vorstellen. Ich weiß nicht, ob das was Schlechtes ist, in dem Moment, wo daraus wirklich ein eigenes Gefühl wird, ist das ja nicht verkehrt."

    Zunächst mag die Beziehung von Ava und Danilo durchaus außergewöhnlich anmuten. Nicht nur wegen des Altersunterschiedes, sondern allein deshalb schon, weil Danilos kroatischer Vater fast ständig mit von der Partie ist – allerdings nur als Kleiderpuppe mit kunstvoll geformtem Wachskopf. Der echte Vater hat sich schon vor Jahren davon gemacht. Geblieben ist die schmerzhafte Leerstelle in Danilos Leben, die er nun durch diese Puppe und die Unbedingtheit seiner Liebe zu Ava auszufüllen versucht. Fatalerweise aber bleibt es bei einer Idee, aus der wenig folgt.

    Und so hängen die beiden bald, immer am Rande des Existenzminimums, in der deprimierenden Realität eines Beziehungsmusters fest, von dem man glauben sollte, dass es längst nicht mehr existiert. Danilo schottet sich ab, liest, treibt seine wissenschaftliche Laufbahn voran. Ava macht den Haushalt, kümmert sich um die Kinder, hetzt zwischen ihrem Job als Altenpflegerin und dem Kindergarten noch rasch zum Einkaufen und sitzt abends mit ungewaschenen Haaren im Wohnzimmer und ist müde.

    Und wenn Ava und Danilo dann endlich doch einmal gemeinsam Essen gehen, dann sitzen sie sich irritiert gegenüber und wissen nicht, worüber sie sich unterhalten könnten. Das mag daran liegen, dass Danilo Akademiker ist und Ava bei diesen Themen nicht viel mitzureden hat. Aber das allein ist es nicht. Katrin Seddig erzählt von der grundsätzlichen Fremdheit, in der die Menschen, auch die Paare, aneinander vorbeischrammen und von der man allenfalls mit Sechzehn glauben konnte, sie ließe sich dauerhaft überwinden.

    "In der Geschichte gibt es ja Momente, wo die beiden auch miteinander glücklich sind. Aber die finden schon eher am Anfang statt. Als sie zum Beispiel mit Danilo auf der Hollywoodschaukel sitzt, als die beiden ja noch gar kein Paar sind. Das würde ich sagen, ist ein glücklicher Moment. Und natürlich der Moment, als sie sich verlieben. Und im Großen und Allgemeinen würde ich schon sagen: Natürlich gibt es glückliche Momente in Beziehungen. Das wäre ja schrecklich! In allen Beziehungen, in fast allen Beziehungen gibt es immer glückliche Momente, selbst in schlechten Beziehungen.""

    Die Betonung liegt auf den Momenten. Wenn Katrin Seddig Paare beschreibt, nicht nur Ava und Danilo, auch etwa Avas Eltern oder ihre Schwester und deren Mann, dann tut sie das mit einem leisen Erstaunen, aber nie mit Bitterkeit. Einem Erstaunen darüber, wie profan und medioker ist, wovon die Welt so schillernd erzählt. Natürlich ist diese Einsicht auch mit Schmerz verbunden, einem Schmerz darüber, dass es vermutlich in einer neuen Beziehung nicht sonderlich anders werden wird.

    Als Ava am Ende des Romans am Osterfeuer steht – seit der Trennung von Danilo ist schon eine Zeit vergangen – fragt ein alter Schulfreund sie, ob es denn schon einen neuen Mann in ihrem Leben gäbe. Ava zuckt die Schultern. Im Grunde wolle sie das wohl gerade gar nicht unbedingt.
    So unaufgeregt wie diese Antwort ist auch Seddigs Roman, der keine große Kunst sein will, aber glücklicherweise auch gar nicht erst so tut, als wäre er es. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb - sticht er mit zuweilen hinreißendem Witz mitten hinein in das, was uns alle immerzu umtreibt. In die verfluchte Mittelmäßigkeit des Daseins.

    Katrin Seddig: "Eheroman".
    Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2012. 448 Seiten, gebunden, 19,95 Euro