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"Von Harmoniesucht und Vielfalt der Kulturen"

Europa lässt sich vielfältig beschreiben, sagt der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes-Hansen: Zum einen geografisch, anhand der Weltkarte und in Abgrenzung zu den anderen Kontinenten. Zum anderen über Identitäten, die sprachlichen und kulturellen Eigenheiten der einzelnen Länder - doch gerade hier, findet Fosnes-Hansen, liegt ein Problem der Europäischen Union.

Von Erik Fosnes-Hansen | 04.05.2010
    Früher, denke ich wohl, hätte ich vielleicht Rom gesagt oder gar Berlin oder Paris als mein europäisches Erlebnis. Als Norweger findet man sich allerdings in der Peripherie. Inzwischen ist für mich eben dieses Peripherieerlebnis das europäische Erlebnis par excellence.

    Es kann sich um ein Dorf in Italien handeln oder um ein Dorf in Deutschland oder um ein Dorf in Ungarn meinetwegen, oder auch ein Fischerdorf in Nordnorwegen - irgendwie, mit den Jahren, bin ich dazu gekommen, eben in diesen Orten auf dem Land, wo man immer noch näher steht zu den Primärernährungen, das Europäische par excellence zu finden.

    Es kommt mir vor, als ob die Verhaltensweise zwischen den Menschen immer noch mehr von alter, europäischer Kultur auf dem Land geprägt sind, also weniger nach Amerika und immer noch mehr nach etwas Ursprünglichem, Europäischem: Höflichkeit zum Beispiel, Rücksichtnahme, ein großes Interesse für die eigene, lokale Kultur, für die eigene, lokale Kulturveranstaltungen, für die lokalen Gebäude, für die Dorfkirche, für das Ortsmuseum. Irgendwie in dieser urbanen Miniaturwelt, die man auf dem Land, eben in dem Dorf, finden kann, kommen noch die alten, europäischen Zentraltugenden zum Vorschein.

    Wenn ein Kind mich fragen würde, was ist Europa, oder wenn mein Kind mich gefragt hat, was ist Europa, Vater, dann habe ich wohl auf die Weltkarte gezeigt. Ich denke, man muss damit anfangen. Europa als Begriff kann man auf so vielerlei Arten erklären, man muss irgendwo anfangen, also fangen wir mit dem Geografischen an. Und dieses Gebiet ist natürlich auch nicht ganz leicht abzugrenzen, aber man kann sagen, das ist Europa, das ist unser Weltteil und es gibt fünf Weltteile. Damit fängt man an.

    Später, wenn das Kind älter wird, lautet natürlich die Frage vielleicht anders, und dann muss man über die verschiedene kulturelle Verbindungen und die sprachliche Nachbarschaft und Verwandtschaften sprechen und auch über die Hauptströmungen auf unserem Kontinent. Es ist natürlich so, dass es herrschen, ja, und hat immer geherrscht, große Unterschiede und zum Teil Gegensätze in Europa. Ich denke, in Brüssel leidet man unter einer gewissen Harmoniesucht. Man versucht, ein bisschen zu vertuschen, dass es tatsächlich große Unterschiede, Ost, West, Süd, Nord, in Europa gibt, und dass die Auseinandersetzungen zwischen diesen verschiedenen Strömungen und Richtungen nicht immer harmonisch sein können. Und vielleicht, im Europaapparat in Brüssel, hat man nicht genug Rücksichtnahme auf eben diese verschiedenen Strömungen, auf diese verschiedenen Temperamente, auf die verschiedenen Kulturen. Die europäische Identität ist nicht nur eine Identität, sondern mehrere Identitäten. Es gibt eine nordische, skandinavische, norwegische Identität, die isländische Identität meinetwegen, es gibt aber auch eine deutsche Identität, eine österreichische, eine schweizerische und meinetwegen auch eine spezifisch liechtensteinsche Identität. Das heißt: Alle diese Identitäten müssen in irgendwie miteinander zusammen leben, aber zusammen leben heißt auch Auseinandersetzung und Konflikt.

    Ich denke, dass die EU immer noch unter einem demokratischen Defizit leidet. Man kann auch nicht pauschal einen föderativen Staat aus Europa machen, nicht, so lange die Menschen sich vor allem noch als Polen, als Deutsche, als Schweden, als Norweger, als Franzosen auffassen. Ich glaube, rein mental herrschen noch irgendwie nicht die richtigen Verbindungen zwischen, sagen wir mal, unseren politischen Instinkten und unserem Gesellschaftsgefühl und das ganze Kram in Brüssel. Die Europäische Union, das politische Geschehen in Brüssel, kommt mir manchmal wie ein Zusatz vor. Es ist, als ob es immer noch etwas ist, was außerhalb deines Landes existiert, und so lange die Menschen sich nicht primär als Europäer und danach als Deutsche, als Polen, als Schweden und so weiter auffassen, so lange soll man nicht zu doll hoffen auf eine gesamteuropäische Identität und an einen föderativen Staat Europa. Das führte zu weit, das würde nicht gehen, das wäre dann zu einem Staat geworden, der unter demokratische Defiziten und Mängeln leiden würde.

    Was mich am meisten beeindruckt, ist, dass man die Grenzen überqueren kann, ohne überall kontrolliert zu werden, dass es eine gewisse intereuropäische Freiheit gibt, die es erleichtert, den Menschen in diesen verschiedenen Kulturen zu begegnen, und dass es auch leichter ist, gegenseitige Begegnungen. Das ist wohl das Beeindruckendste am neuen Europa.

    Kurzbiografie:
    Erik Fosnes-Hansen, geboren 1965 in New York, aufgewachsen in Oslo. Er studierte unter anderem zwei Jahre in Stuttgart und spricht daher fließend Deutsch. Außerdem arbeitete er als Rezensent und Literaturkritiker für die norwegische Zeitung "Aftenposten".
    Seinen ersten Roman, "Falkenturm", veröffentlichte Fosnes-Hansen mit 20 Jahren und hatte damit 1985 großen Erfolg in Norwegen. In "Choral am Ende der Reise" (1995 in Deutschland erschienen), seinem zweiten Roman, schrieb er über die Musiker an Bord der "Titanic". Der Roman wurde in 30 Sprachen übersetzt und zu einem internationalen Bestseller. Er erhielt zahlreiche Preise, unter anderem in Norwegen bereits 1990 den Riksmalsprisen, einen der wichtigsten literarischen Preise des Landes. Fosnes-Hansen ist der jüngste Träger der Auszeichnung. Nach diesem Erfolg wurde auch "Falkenturm", ein Mittelalter-Roman, in anderen Ländern veröffentlicht, 1996 in Deutschland. 1999 erschien "Momente der Geborgenheit", eine Sammlung von ganz unterschiedlichen Geschichten, die in verschiedenen Ländern und Epochen spielen. Fosnes-Hansen gilt als Autor, der eine poetische Sprache verwendet, seine Texte sehr durchdacht komponiert und genau recherchiert. Das wurde auch in seinem letzten Werk deutlich, dem Roman "Das Löwenmädchen" (2008). Darin erzählt er die Geschichte eines hochbegabten norwegischen Mädchens, dass 1912 mit einem Gendefekt geboren wird: Es ist über und über mit feinem hellblondem Haar bedeckt.
    Erik Fosnes-Hansen lebt in Oslo.


    Mehr zur Europawahl finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.