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Von Indien bis Griechenland

Strikte Sparkurse und hohe Arbeitslosigkeit führen weltweit zu Protesten und Arbeitskämpfen. Ökonomen machen dafür die Globalisierung und Liberalisierungsmaßnahmen der Staaten verantwortlich. Wenn Menschen "um jeden Preis" arbeiten müssten, seien Proteste die natürliche Folge.

Von Ursula Storost | 20.06.2013
    Mit dem Bedeutungswandel von Arbeitskämpfen hat sich eine internationale Tagung in Hamburg befasst, veranstaltet vom Fachbereich Sozialökonomie der Uni Hamburg und dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung.

    "Wir lehnen eine Gesellschaft ab, in der die Einen immer länger arbeiten sollen und die anderen gar keine Arbeit haben."

    In Deutschland wird gestreikt. Bei den Opelanern, den Bahnbeschäftigten und dem Flughafenpersonal. Seit der Krise von 2008, 2009 nehmen Arbeitskämpfe weltweit zu, sagt die Hamburger Soziologieprofessorin Dr. Nicole Mayer-Ahuja.

    "Was natürlich auffällt auf den ersten Blick, ist, dass das sehr unterschiedliche Konfliktformen sind. Indien und China, das sind Länder, die im Aufschwung sind."

    Für die Proteste macht die Sozialökonomin die sogenannten Liberalisierungsmaßnahmen verantwortlich. Dabei gehe es darum, Menschen in Arbeit zu bringen. Um jeden Preis und egal unter welchen Bedingungen. Oft seien es Arbeitsplätze, die unterbezahlt sind und bei denen die Beschäftigten keine rechtlichen Ansprüche hätten. Ein Grund dafür, dass es neue Formen von Arbeitskämpfen gebe. Zum Beispiel solche, bei denen die Gewerkschaften keine große Rolle mehr spielten.

    "Eigentlich würde man davon ausgehen, Arbeitskämpfe, Streik usw. finden in Branchen statt, in denen Beschäftigte sehr langfristig da sind, langfristig sich in Gewerkschaften organisieren. Wenn sich das jetzt ändert, stellt sich für uns ganz zentral die Frage, welche Bedeutung haben denn diese Arbeitskämpfe? Wer führt sie denn eigentlich? Warum werden sie in dieser Form geführt, was löst sie aus, was erklärt, warum im einen Teil des Arbeitsmarktes plötzlich Kämpfe stattfinden, in anderen überhaupt nicht?"

    Ein Blick ins krisengeschüttelte Griechenland veranschaulicht, wie und warum sich Menschen zu Arbeitskämpfen und Protesten zusammenfinden. Experte hierfür ist der Soziologe Mario Becksteiner vom Fachbereich Sozialökonomie an der Universität Hamburg. Was zurzeit in Griechenland stattfindet, ist eine soziale Katastrophe, sagt er. Besonders für die Jugend. Und diese Katastrophe habe ihren Vorlauf in der Neoliberalisierung der Arbeitswelt.

    "Bis 2005 spricht man schon von einer Generation 700 Euro. Die kommen nicht über ein Einkommen von 700 Euro hinaus."

    Schon 2008 sei in Griechenland die antiautoritäre, autonome Jugendrevolte losgebrochen. Besetzung von öffentlichen Plätzen oder auch von Bankgebäuden, die breite Teile der Bevölkerung bis heute mit Sympathie betrachteten, sagt Mario Becksteiner:

    "Damit sehen sehr viele Gewerkschaftsmitglieder und Leute, die von Abstiegsängsten bedroht sind, dass die klassische Politik der Gewerkschaften an ihre Grenze gerät und erkennen, das, was diese antiautoritäre Bewegungen machen, trifft viel schneller und viel gezielter den Gegner, nämlich den griechischen Staat in diesem Sinn."

    Viele Griechen hätten in den letzten Jahren auch erkennen müssen, dass der Streik die einzige Möglichkeit des Überlebens sei. Do it yourself. Wenn du dir nicht selbst hilfst, hilft dir keiner mehr. Mario Becksteiner:

    "Wie streiken prekär arbeitende Menschen? Die haben keinen Arbeitsplatz, den sie verlassen können, sondern ihr Arbeitsplatz ist ihr Leben. Die arbeiten immer, rund um die Uhr, einmal im Café, einmal zu Hause, wo auch immer. Ihre Protestformen beziehen sich stärker auf den öffentlichen Raum. Besetzung von Plätzen und so."

    Auch in Deutschland gibt es immer mehr Menschen, die in sogenannten prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten. Von einer "Verdiscounterisierung der Arbeitswelt" spricht Dr. Heiner Dribbusch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf.

    "Das heißt, die Tendenz, dass ein Niedriglohnbereich ausgeweitet wird, dass es immer größere Bereiche gibt, die gar nicht mehr Tariferträgen unterliegen und von daher natürlich auch die Zahl der Arbeitsverhältnisse, von denen eigentlich keine Familie mehr ernährt werden kann aber auch sonst erwachsene Menschen Probleme haben, ihr eigenes Leben zu bestreiten, zunimmt."

    Dadurch gebe es immer mehr Arbeitskämpfe in Deutschland, sagt Heiner Dribbusch. Vor allem im privaten Dienstleistungsbereich. Beispiel die unzähligen privatisierten Krankenhäuser. Einen einheitlichen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst gibt es dort nicht mehr. Die Folge:

    "Es ergibt sich daraus, dass nun für die ganzen einzelnen Gesellschaften neue Haustarifverträge abgeschlossen werden müssen. Und diese ganze Entwicklung führt dazu, dass die Zahl der Konflikte zunimmt, weil es nicht wenige private Krankenhausbetreiber gibt, die, wenn es nach ihnen geht, am liebsten gar keinen Tarifvertrag abschließen wollen."

    Deshalb sind inzwischen Menschen in Streiks involviert, die früher eigentlich nicht für Streik und Arbeitskampf standen. Ärzte, Lehrerinnen, Erzieher.

    "Wenn wir früher über Streiks geredet haben, dann haben wir an Stahlarbeiter gedacht und Metallarbeiter."

    Großbetriebe mit Tausenden von Arbeitnehmern gibt es heute kaum noch, weiß der Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch. Früher arbeiteten die Menschen zusammen und sie lebten zusammen in der gleichen Siedlung. Konnten sich über Ungerechtigkeiten austauschen. Heute arbeitet die unterbezahlte Bäckereiverkäuferin ganz allein in ihrem Laden.

    "Und da ist es sehr viel schwieriger etwas von sich gemeinsam Wehren zu entwickeln als in Bereichen wo man ständig mit zehn, zwanzig oder viel mehr Kolleginnen und Kollegen zusammen ist."

    Und, sagt Heiner Dribbusch, es gibt ganz neue Arbeitskämpfe. Wenn Arbeitgeber versuchen, Tarife zu ihrem eigenen Vorteil zu verändern. Beispiel der Versandgroßhändler Amazon.

    "Die Firma sagt: Ja, wir geben euch einen Tarifvertrag. Einen Tarifvertrag aus der Logistik. Und die Gewerkschaft sagt und auch die Beschäftigten dort sagen: Nein, wir sind aber ein Einzelhandelsunternehmen. Denn Amazon ist ein Versandhändler, der genauso wie früher Quelle oder Neckermann in den Einzelhandelstarifvertrag gehört. Und da sehen sie, sie haben ein Unternehmen, was letzten Endes die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten verschlechtern möchte, indem sie ihnen zwar einen Tarifvertrag zugestehen, den aber von einer Branche, die schlechter bezahlt als der Einzelhandel."

    Was in Deutschland durch Gewerkschaften und Arbeitsrecht geregelt werden kann, ist in einem Staat wie Indien viel willkürlicher, sagt der Historiker Dr. Ravi Abuja. Er ist Professor für moderne indische Geschichte an der Universität Göttingen. Heute interessiert sich dort nicht einmal mehr die Presse für Probleme in der Arbeitswelt, sagt er.

    "Deshalb kommt es auch weiter zu Konflikten, zu Konflikten auch bei den informell Beschäftigten, die durch Arbeitsrecht nicht abgesichert sind, was die Mehrheit der indischen Erwerbsbevölkerung ist. Und kommt es, weil Rechte immer weniger einklagbar sind, teilweise auch zu sehr massiven und auch gewalttätigen Konflikten. Also wo denn Frustrationen überschwappen."

    Dass soziale Leistungen für Arbeitende immer mehr begrenzt werden, sei seit den späten 1970er-Jahren eine weltweite Entwicklung, konstatiert Ravi Abuja:

    "Also Lady Thatcher hat in Großbritannien da ja einen erheblichen Beitrag zu geleistet, die Gewerkschaftsbewegung zu brechen. Und das wird bis heute von Konservativen in Großbritannien ja regelrecht gefeiert."

    Aber prekäre Arbeitsverhältnisse in Indien seien nicht vergleichbar mit prekären Arbeitsverhältnissen in Europa.

    "Also, Globalisierung führt nicht zu einer Angleichung der Lebensbedingungen auf der Welt sondern zu einer weiteren Differenzierung. Es ist ein verbundener Prozess, der gleichzeitig mehr Ungleichheit, mehr Differenzierung schafft."