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Wahl in Israel
"Realistische Chancen für einen Wechsel"

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe ignoriert, was die Menschen wirklich beschäftigt, sagte die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv, Kerstin Müller, im DLF-Interview. Es könne gut sein, dass seine Likud-Partei dafür nun die Quittung bekomme.

Kerstin Müller im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.03.2015
    Kerstin Müller, Bündnis90/Die Grünen
    Kerstin Müller, Bündnis90/Die Grünen (Imago)
    "Im Wahlkampf spielt der Friedensprozess überhaupt keine Rolle", sagte Kerstin Müller. Zu Recht habe Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Angst, die Wahl zu verlieren, sagte die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv im DLF.
    Wahrscheinlich werde es aber auf eine große Koalition zwischen dem "Zionistischen Bündnis" mit Izchak Herzog an der Spitze und Netanjahus Likud hinauslaufen - mit Herzog als Ministerpräsidenten. Denn weder ein Rechts-rechts- noch ein Mitte-links-Bündnis könne eine Mehrheit bekommen.
    Was der rein rechte Block aufbauen wolle, sei der endgültige Tod des Oslo-Abkommens: Keine Zwei-Staaten-Lösung, stattdessen einen jüdischen Nationalstaat. "Das kann nicht funktionieren", sagte Müller und würde zu einer noch schärferen Unterdrückung der arabischen Bevölkerung Israels führen.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Israel hat also die Wahl und Premierminister Benjamin Netanjahu ein Problem. Der hatte nämlich Neuwahlen angesetzt, um mehr Rückhalt für seine Politik zu gewinnen. Doch am Ende könnte er stattdessen sogar als Verlierer aus der Wahl hervorgehen. Sein Widersacher heißt Hitzchak Herzog, er führt die Liste der Zionisten rund um die Arbeiterpartei an und hat durchaus Chancen, die Wahlen zu gewinnen.
    Israel wählt heute also die Knesset, das Parlament in Jerusalem. Kerstin Müller, für die Grünen war sie Staatsministerin im Auswärtigen Amt, leitet heute das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv und ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen, Frau Müller.
    Kerstin Müller: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
    "Friedensprozess spielt überhaupt keine Rolle"
    Dobovisek: Wir haben es gehört: Sozusagen in letzter Minute ging Premier Benjamin Netanjahu noch einmal auf Stimmenfang im rechten Lager mit einer deutlichen Absage an einen eigenständigen Palästinenserstaat. "Alle, die die Schaffung eines Palästinenserstaates und die Rückgabe von Gebieten wollen," - so sagte er es gestern - "machen diese Gebiete anfällig für Angriffe des extremistischen Islam gegen den Staat Israel." - Klare Worte also im Wahlkampf-Endspurt im Nahen Osten. Ist die Wahl, Frau Müller, heute auch eine Abstimmung über den Friedensprozess?
    Müller: Nun, de facto ja, aber im Wahlkampf spielt der Friedensprozess überhaupt keine Rolle. Wenn es ein Thema gibt, das hier überhaupt keine Rolle gespielt hat - vielleicht jetzt auf den letzten Metern, aber ansonsten nicht -, dann ist das der Friedensprozess. Netanjahu hat offensichtlich Angst, die Wahlen zu verlieren, und zurecht, denn es gibt realistische Chancen für einen Wechsel. Die neugegründete Zionistische Partei, die linke Labor, hat sich mit den Zentristen von Livni zusammengetan, und das war ein großer und wichtiger strategischer Coup und damit liegt sie jetzt seit mehreren Wochen vorn und vergrößert den Vorsprung. Und es gibt eine Wechselstimmung: 72 Prozent. Da weiß man natürlich nicht, wie sicher sind diese Umfragen, aber Umfragen sagen, eine große Mehrheit, bis zu 72 Prozent wollen einen politischen Wechsel, vor allen Dingen was die Wirtschafts- und Sozialpolitik betrifft. Und hier muss man ganz klar sehen: Netanjahu und der Likud haben mal wieder auf Sicherheit gesetzt, die große Iran-Rede im amerikanischen Kongress, und vielleicht haben sie sich diesmal sehr getäuscht. Sie haben ignoriert, was die Menschen wirklich beschäftigt, und es könnte sein, dass sie dafür dann am Ende die Quittung bekommen.
    Schwierige Mehrheitsfindung erwartet
    Am 17. März wählen die Israelis vorzeitig ein neues Parlament: Wahlberechtigte stehen vor einer Videowand, auf der Regierungschef Netanjahu und Oppositionsführer Herzog zu sehen sind.
    Am 17. März wählen die Israelis vorzeitig ein neues Parlament: Oppositionsführer Herzog will Regierungschef Netanjahu das Amt abjagden (AFP / Jack Guez)
    Dobovisek: Nun ist es aber recht schwierig zu sagen in Israel, sofort nach dem Wahlabend, wenn eine Mehrheit gefunden ist, zumindest ein Wahlsieger aus der Wahl hervorgeht, dass dieser tatsächlich auch den Ministerpräsidenten stellt, denn die Koalitionsverhandlungen am Ende mit den vielen, vielen kleinen Parteien in Israel sind nicht zu unterschätzen, sind sehr, sehr schwierig. Wie schwierig wäre es denn für beide Lager, eine Mehrheit zu finden?
    Müller: Es ist sehr schwierig. Im Moment ist es so, dass weder das rechte Lager, also Bibi mit Bennett und Orthodoxen und so weiter, eine Mehrheit haben, noch Mitte-Links eine eigene Mehrheit bauen könnte, und das würde dann wahrscheinlich auf eine Große Koalition hinauslaufen, die Herzog auch nicht ausgeschlossen hat. Bibi hat ein bisschen, man sagt bei uns, herumgeeiert, also lässt das auch offen.
    Man muss verstehen: Eine ganz entscheidende Rolle spielt der Präsident. Deshalb versucht Bibi jetzt auch im rechten Lager Stimmen zu gewinnen und nicht in die Mitte rein, was bei uns ja eher typisch wäre. Denn der Präsident hat die Macht, einer Partei den Regierungsauftrag zu erteilen. Das kann, muss aber nicht die stärkste sein, sondern das muss die Partei sein, die die größte Chance hat, eine Regierung zu bilden. Er wird also mit allen Parteien reden und deshalb ist es so wichtig, wer hat eigentlich den Lead, wer liegt vorne. Darum kämpfen die Zionisten und auch der Likud und deshalb versuchen sie, im eigenen Lager den ihnen nahestehenden Parteien auch Konkurrenz zu machen in dieser Endphase des Wahlkampfes.
    Dobovisek: Nur, um es an dieser Stelle noch einmal klarzumachen: Bibi ist der Spitzname von Benjamin Netanjahu, also dem amtierenden Premierminister.
    Müller: Genau!
    "Chance auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses"
    Dobovisek: Selbst wenn Herzog in der Knesset eine Mehrheit bilden könnte, hätte er denn am Ende auch die Kraft, den Friedensprozess wiederzubeleben?
    Müller: Er hat ja auf jeden Fall ganz andere Aussagen gemacht als Bibi Netanjahu. Netanjahu hat jetzt noch mal den Teufel aus der Kiste gelassen und hat klar gesagt, keine Zwei-Staaten-Lösung mit ihm, Siedlungsbau wird fortgesetzt, auch in Jerusalem, also unglaubliche Aussagen, die er hier macht. Seine Rede von vor Jahren, wo er das einmal geöffnet hat und sich für eine Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen hat, das ist alles in diesem Wahlkampf beerdigt worden. Man muss also sagen: Wenn es eine rechte Rechtsregierung gibt, dann ist Oslo tot, und das hat dann auch große Konsequenzen für die internationale Politik. Das will ich hier einmal sehr deutlich sagen. Man wird in der EU sicherlich diskutieren, welche strategischen Veränderungen das für die Politik bedeutet. Auch die Amerikaner werden das machen.
    Mit einer Großen Koalition, also Herzog wird möglicherweise Premierminister und der Likud geht in diese Regierung hinein, hat Herzog angekündigt, er will neue Verhandlungen, er wird einen Siedlungsstopp als vertrauensbildende Maßnahme beschließen und er will wohl einen Plan für Gaza vorlegen. Immerhin! Ob er die Kraft hat, am Ende einen …
    Dobovisek: Er könnte aber nur so weit gehen, wie ihn sein Koalitionspartner lässt. Sprich: Stillstand?
    Müller: Das ist die große Frage, wie weit sie dann gehen. Aber jedenfalls ist Oslo dann nicht sofort tot, könnte man sagen, sondern es gibt die Chance auf eine Wiederaufnahme. Und die Zionisten haben schon gesagt, dass das für sie auch eine wichtige Frage ist.
    Dobovisek: Sie haben es angesprochen, Frau Müller: Die Sicherheitsdebatte, der Friedensprozess, die haben keine große Rolle im Wahlkampf gespeilt. Welche Themen standen denn ganz vorne an?
    Müller: Zum einen die sozialen und ökonomischen Themen, dass vom Wirtschaftswachstum der Mittelstand, die Mittelschicht überhaupt nicht profitiert, ganz große, sehr hohe Lebenshaltungskosten bei sehr geringen Gehältern, die Hälfte wird aufgefressen von normalen Nahrungsmitteln und von sehr, sehr hohen Mieten, und das ist hier schon ein großes Thema. Ob es am Ende wahlentscheidend wird, wird man sehen. Und das Nation State Building, wohin geht eigentlich Israel, wie soll dieser jüdische Staat am Ende aussehen. Daran ist ja auch die letzte Regierung gescheitert. Ich glaube, das ist eine ganz entscheidende Frage. Die Nationalreligiösen wollen keine Zwei-Staaten-Lösung mehr, wollen einen binationalen Staat, das würde verheerende Folgen für die arabische Bevölkerung auch hier im Lande haben, während Herzog und Livni ganz klar gesagt haben, diesen Schritt gehen sie nicht mit. Sie wollen zwar einen mehrheitlich jüdischen Staat, aber er soll demokratisch b leiben. Das heißt, gleiche Rechte, gleiche Bürgerrechte eben auch für die hier lebenden Palästinenser, und das ist dann ein ganz anderes Israel, was dieser rechte Block hier im Grunde aufbauen oder bauen will, und das hätte dann auch Konsequenzen für die internationale Politik.
    "Mitte-Links hat sich mobilisiert"
    Eine Menschenmenge mit grünen Luftballons und israelischen Flaggen.
    Demonstranten in Tel Aviv forderten politische Veränderung. (picture alliance / dpa / Amit Sha'al)
    Dobovisek: Fassen wir das zusammen: Keine Zwei-Staaten-Lösung, so will es der rechte Block, stattdessen einen jüdischen Nationalstaat. Wie soll das funktionieren mit 20 Prozent Arabern im Land?
    Müller: Das kann nicht funktionieren, beziehungsweise das funktioniert nur mit einer noch schärferen Unterdrückung der dann dort lebenden arabischen Bevölkerung. Und die Amerikaner sprechen ja offen von Apartheid, dass ein binationaler Staat, der ungleiche Rechte für die arabische Bevölkerung vorsieht, dass das auf einen Apartheidsstaat hinauslaufen würde. Viele Beobachter sagen das und befürchten das auch. Insofern geht es um sehr, sehr viel. Es ist nicht irgendeine Wahl, sondern es geht wirklich darum, in welche Richtung entwickelt sich Israel, und das wird dann auch sehr schwerwiegende Folgen, glaube ich, für die internationale Politik haben. Und es scheint so, dass die Menschen das spüren. Die Demonstrationen waren viele, viele Jahre nicht so groß. Mitte-Links hat auch viel mobilisiert. Viele wissen, es geht um etwas.
    Dobovisek: Mobilisiert haben sich auch gegenseitig die Araber, haben sich erstmals zu einer gemeinsamen Liste zusammengeschlossen. Da gibt es Nationalisten und Kommunisten genauso wie Islamisten in dieser Liste. Wie kann das zusammenhalten?
    Müller: Nun, das ist ein sehr interessanter und im Grunde auch guter Schritt. Aber natürlich ist der kleine gemeinsame Nenner sehr klein, von den Islamisten bis zur linkskommunistischen Rakach, aber sicherlich notwendig, weil sonst wäre keine, höchstens noch die Rakach, die Kommunisten, wäre keine der anderen Parteien mehr in die Knesset gekommen. Denn das erste Mal - auch das ist historisch neu - gibt es hier eine sogenannte Sperrklausel. Die ist nicht so hoch wie in Deutschland. Da ist sie fünf Prozent, hier ist sie 3,25 Prozent.
    Wahrscheinlich wird die Vereinigte Arabische Liste sogar drittstärkste Kraft. Leider, leider sind sie noch nicht bereit für eine Regierungsbeteiligung. Das lehnen sie ab, obwohl ihre Wähler, eine große Mehrheit, 70 Prozent der arabischen Wähler erwarten eigentlich, dass sie eine Regierung unter Herzog unterstützen. Sie könnten hier eine politisch-strategisch enorm wichtige Rolle spielen, aber es ist zu befürchten, dass sie dafür noch nicht bereit sind. Aber man darf abwarten. Möglicherweise würden sie eine Mitte-Links-Regierung tolerieren. Ich glaube, da kommt es wirklich darauf an, wie am Ende die Parteien dastehen werden.
    Dobovisek: Die Grünen-Politikerin Kerstin Müller leitet die Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv. Vielen Dank für das Gespräch. - Heute wird in Israel ein neues Parlament gewählt. Danke Ihnen!
    Müller: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.