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Wahlgewinner Überhangmandat

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Neuregelung des deutschen Wahlgesetzes gefordert, insbesondere mit Blick auf Überhangmandate. Die könnten in wenigen Tagen wahlentscheidend sein - Verfassungsrechtler sprechen von Zuständen wie in "Bananenrepubliken".

Von Maximilian Steinbeis |
    Ernst Gottfried Mahrenholz macht sich Sorgen. Der Jurist und frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts zweifelt an der kommenden Bundestagswahl, genauer: an dem Gesetz, das das Wahlverfahren regelt.

    "Es kann passieren, dass gebietsweise – kleiner oder größer – das Wahlergebnis auf den Kopf gestellt wird."

    Der Grund, warum Ex-Verfassungsrichter Mahrenholz sich Sorgen macht, steckt in den Feinheiten des Bundeswahlgesetzes: Es sieht vor, dass die Wähler ihre Erststimme einem Direktkandidaten geben und ihre Zweitstimme einer Partei. Der Partei stehen im Prinzip prozentual so viele Sitze im Bundestag zu, wie sie Zweitstimmenanteile erringt. Wenn beispielsweise die CDU 35 Prozent der Stimmen erringt, dann sollte sie auch 35 Prozent der Sitze bekommen.

    Bis hierhin ist es noch einfach. Diese 35 Prozent müssen aber auf die einzelnen Landeslisten verteilt werden: Ein starker Landesverband bekommt proportional mehr Sitze als ein schwacher. Dann muss geklärt werden, wer auf den Sitzen tatsächlich Platz nimmt: Das sind zunächst die Kandidaten, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen haben – die sogenannten Direktmandate. Sind in einem Land dann noch Sitze übrig, gehen diese an die Kandidaten auf der Landesliste. Soweit ist auch noch alles klar.

    Das Problem entsteht, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate erringt, als ihr nach ihrem Stimmenanteil eigentlich zustehen. Dann entstehen sogenannte Überhangmandate. Die bekommt die Partei in jedem Fall, ganz egal wie gut sie prozentual abschneidet. Das hat aber den paradoxen Effekt, dass ein Land mit vielen Überhangmandaten und einem starken Zweitstimmenergebnis dafür sorgt, dass die Listen-Kandidaten anderer Länder nicht zum Zuge kommen. Das heißt, die Zweitstimme ist nicht nur nutzlos, sondern unter Umständen sogar schädlich für die gewählte Partei.

    "Das verfassungsrechtliche Problem ist ganz einfach,"

    … Hans Meyer, Staatsrechtsprofessor aus Berlin, erklärt es:

    "Sie können heute mit einer Stimme für die CDU praktisch gegen die CDU gestimmt haben, ohne es zu merken. Und das ist eine Unmöglichkeit. Das schaffen noch nicht einmal Bananenrepubliken. Die müssen das Wahlergebnis fälschen, um zu dem Ergebnis zu kommen."

    Nicht nur der Staatsrechtler und der ehemalige Richter glauben, dass das Wahlgesetz verfassungswidrig ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht höchstselbst festgestellt, im Juli 2008: Von "willkürlichen Ergebnissen" ist in dem Urteil die Rede, und davon, dass die geltenden Regeln den "demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen" lassen. Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen, gibt es viele. Wobei alle eins gemeinsam haben, wie Wahlrechtsexperte Meyer erklärt:

    "Wie immer das neu geregelt wird, die Überhangmandate werden verschwinden. Denn sie sind der eigentliche Grund der Sache."

    Allerdings, und das macht die Sache wiederum kompliziert, das Gericht hat dem Gesetzgeber eine Frist bis 2011 gesetzt: Den Fehler zu korrigieren, sei kompliziert und brauche Zeit, so die Begründung der Richter. Die CDU hat daraus flugs den Schluss gezogen, die Sache sei nur halb so schlimm.

    "Denn wenn es ein gravierender Verfassungsverstoß wäre, hätte das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag ja aufgegeben, vor der Wahl 2009 etwas zu ändern,"

    … sagt CDU-Innenpolitiker Reinhard Grindel.

    "Das hat es nicht getan."

    Die Vorstellung, dass das verfassungswidrige Wahlrecht gezielt eingesetzt werden könnte, um durch Stimmen-Splitting die Zusammensetzung des Bundestags zu manipulieren, hält der CDU-Abgeordnete Grindel für völlig realitätsfern.

    "Es mag den einen oder anderen hochpolitischen Hörer des Deutschlandfunks geben, der zu diesen Leistungen imstande ist. Ich halte es nicht für ein Massenphänomen."

    Die Grünen hatten in diesem Frühjahr einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Überhangmandate faktisch beseitigt und damit das Problem behoben hätte. Der Entwurf wurde im Juli mit den Stimmen von Union, SPD und FDP abgelehnt. Der Grund, so CDU-Politiker Grindel: Man habe einen Schnellschuss vermeiden wollen.

    "Ich verweise einfach darauf, dass es bei allen Modellen erhebliche, auch ernst zu nehmende rechtliche, politische, finanzielle Bedenken gibt, sodass eine Abwägungsentscheidung zwischen den verschiedenen Modellen, die jetzt diskutiert werden, ausgesprochen schwierig ist."

    Wahlrechtsexperte Hans Meyer von der Freien Universität Berlin bestreitet dies:

    "Dass die Parteien so lange gewartet haben, hat ja nichts damit zu tun, dass es so schwierig sei, es zu ändern, sondern weil – und hier ist der Bösewicht ganz leicht zu identifizieren – weil die CDU oder die Union die Änderung nicht wollte."

    Die Union, so Meyer, habe die Reform blockiert, weil sie auf die Überhangmandate spekuliere. Tatsächlich scheinen diesmal die Aussichten für die CDU, die Zahl ihrer Mandate in bisher nie gekanntem Umfang zu vergrößern, günstig wie nie zuvor. Die Experten von der Internetplattform Wahlrecht.de halten in insgesamt neun Bundesländern Überhangmandate für die Union für möglich, allen voran in Baden-Württemberg und Sachsen, wo die Union trotz voraussichtlich mäßigem Wahlergebnis flächendeckend die Direktmandate abräumen wird. Für die SPD sind Überhangmandate in drei Ländern denkbar, wenn auch nur in Brandenburg wahrscheinlich. Fazit: Wenn Schwarz-Gelb knapp eine Regierungsmehrheit gewinnt, dann wahrscheinlich aufgrund von Überhangmandaten. Die es nach einem verfassungskonformen Wahlrecht gar nicht mehr gäbe. Und was sagt die SPD dazu?

    Klaus Uwe Benneter steht am Infostand, an einer Einkaufsstraße im Süden Berlins, und macht Wahlkampf für sich und seine Partei. Der Abgeordnete Benneter hatte im Innenausschuss das Thema Wahlrechtsreform für die SPD verhandelt.

    "Also ich hab da sehr wohl ein sehr schlechtes Empfinden dabei, weil das schädigt natürlich die Demokratie, wenn nachher anhand des Ergebnisses festgestellt würde, dass eine Regierung nur mit Überhangmandaten gebildet werden könnte."
    Warum hat die SPD dann an der Seite von Union und FDP gestimmt? Die Koalitionsabsprache sah vor, dass SPD und Union stets gemeinsam abstimmen – und das wog am Ende schwerer als das Grundgesetz. Schuld, so Benneter, sei allein das Bundesverfassungsgericht:

    "Naja, das Problem ist, dass das Bundesverfassungsgericht uns ja den Schwarzen Peter zugeschoben hat, weil die uns eine Frist bis 2011 gegeben haben, um ein neues Gesetz zu machen. Das ist eigentlich unsinnig. Aber der Unsinn liegt beim Verfassungsgericht und nicht bei uns."