Dienstag, 19. März 2024

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Wahlkampfjahr 2017
"Die Volksverhetzer, das sind unsere eigentlichen Gegner"

Er habe keine Lust mit anzusehen, wie die AfD "zum Zünglein an der Waage" werde, sagte der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel im DLF mit Blick auf das Wahljahr 2017. Er wolle die liberale und soziale Demokratie verteidigen. Dabei sehe er Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Digitales als vorrangig an.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Frank Capellan | 15.01.2017
    Der SPD-Bundesvorsitzenden Sigmar Gabriel spricht am 14.01.2017 beim Neujahrsempfang der SPD in der Stadthalle in Braunschweig (Niedersachsen).
    Nicht die CDU, sondern die AfD sei der eigentliche Gegner der SPD im Bundeswahlkampf 2017, sagte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im Interview der Woche im DLF. (picture alliance / Peter Steffen/dpa)
    Capellan: Sigmar Gabriel, ich möchte mit einer Frage beginnen, die in diesen Tagen eigentlich in jedem Interview kommen muss. Sie wird meistens ein wenig verschämt am Ende gestellt. Ich erwarte keine klare Antwort. Die Frage nach der Kanzlerkandidatur. Ich werde von Freunden und Bekannten seit Monaten gefragt. Die sagen: Du tummelst dich bei der SPD. Kann Gabriel das? Will er es? Und dann sage ich: Natürlich kann er das. So erlebe ich ihn. Ich glaube auch, dass er es will, ich weiß es aber nicht.
    Gabriel: Das ist doch gut.
    Capellan: Ich weiß nicht, ob er entschieden ist.
    Gabriel: Aber das ist doch gut, dass Sie das nicht wissen.
    Capellan: Aber Sie sind entschieden mittlerweile?
    Gabriel: Wissen Sie, die Frage, wer erhebt für die Sozialdemokratie den Anspruch, eine Bundesregierung zu führen, das ist ja eine ernsthafte Frage. Deswegen haben wir uns in der Sozialdemokratie verabredet, dass wir zwei Dinge tun, dass wir natürlich diese Personalentscheidung vorbereiten, aber zweitens natürlich auch die Frage klären: Was eigentlich ist nötig für unser Land und für die Menschen? Und beide Dinge gemeinsam wollen wir am 29. Januar – also Ende des Monats – öffentlich vorstellen. Und ich bin eigentlich ganz stolz darauf, dass die SPD diesen unfassbaren medialen Druck, den hat die SPD – finde ich – ziemlich cool weggesteckt und gesagt: Wir machen das so, wie verabredet und dabei bleibt es auch.
    "Bei der Union gibt es Angela Merkel. Dahinter ist große Leere"
    Capellan: Aber ich habe die Geschichte ja gerade erzählt, weil ich schon erlebe, dass die Menschen auch wissen wollen: Wer verkauft Politik für uns?
    Gabriel: Na, ich hoffe, dass niemand Politik verkauft, weil das schon irgendwie sich komisch anhört. Es geht ja eher darum, dass auf unser Land ziemlich große Herausforderungen zukommen. Und da gibt es zwischen der Union, der CDU/CSU und uns, glaube ich, einen großen Unterschied. Bei der Union gibt es eine Person – Angela Merkel. Dahinter ist große Leere. Frau Merkel hat – gar keine Frage – auch sehr große Verdienste, aber ansonsten gibt es da wenig. Und bei der Sozialdemokratie ist es erstens so, dass wir sehr froh darüber sind, dass es mehrere Menschen gibt, die in der Öffentlichkeit, na, jedenfalls als präsentabel gehandelt werden, aber vor allen Dingen, dass es bei uns eben auf die wirklich großen Zukunftsfragen, die auf das Land zukommen, auch – glaube ich – kluge Antworten gibt.
    K-Kandidatur: "Die notwendigen Gespräche haben wir alle geführt"
    Capellan: Nun kommt der Druck ja nicht nur von den Medien. Der kommt schon auch von führenden Sozialdemokraten. Hannelore Kraft hat gesagt – Ihre Stellvertreterin: Ich finde das gut, er soll es machen. Torsten Albig hat sich so geäußert. Martin Schulz – der in der Öffentlichkeit eigentlich als der einzige Konkurrent betrachtet wird - wir wissen von ihm, dass er niemals gegen Sie antreten würde. Warum ist es trotzdem so wichtig jetzt zu sagen: Wir haben gesagt 29. Januar, vorher sagen wir nichts?
    Gabriel: Ach, na, erstens hat es was mit Selbstachtung zu tun. Nur, weil hier die Medien jeden Tag meinen, es gäbe nichts Wichtigeres als diese Frage, müssen wir nicht vom Zeitplan abweichen. Das hat auch viel damit zu tun, dass wir uns Zeit lassen wollten für die notwendigen Gespräche. Die haben wir allerdings auch alle geführt. Und deswegen sehen wir keinen Grund, daran was zu ändern. Und ich finde, die SPD kann ziemlich stolz darauf sein, dass sie selbst entscheidet, wann sie was tut und nicht sich das von außen vorschreiben lässt.
    "Ich bin ein großer Profiteur sozialdemokratischer Bildungspolitik"
    Capellan: Es wird ja auch immer wieder spekuliert und behauptet, Sie müssten den SPD-Vorsitz abgeben, wenn Sie nicht gegen Angela Merkel ins Rennen gehen. Ich habe den Eindruck, Sie sind gerne SPD-Vorsitzender. Sie haben in einem Interview gesagt: Manchmal, wenn man Kritik aus den eigenen Reihen bekommt, möchte man auch hinschmeißen…
    Gabriel: Nein, das habe ich …
    Capellan: "Macht ihr Schlaumeier das doch alleine!", haben Sie wörtlich gesagt.
    Gabriel: Ich habe bestimmt nicht gesagt, dass ich über die Frage nachdenke, was hinzuschmeißen. Das würde ich gerne mal sehen, das Zitat. Dass es in jeder …
    Capellan: … Sie wurden schon gefragt, ob Sie mal Zweifel gehabt haben – damals bei dem Wahlergebnis 74 Prozent …
    Gabriel: Ja.
    Capellan: … Wiederwahl zum Parteivorsitzenden. Das geht ja wahrscheinlich auch an Ihnen nicht spurlos vorbei!?
    Gabriel: Nein. Das ist ja auch in jedem Beruf so, dass, wenn man was engagiert macht und irgendwie den Eindruck hat, dass man vielleicht nicht richtig verstanden wird manchmal, also, dass man auch mal über die Frage nachdenkt: Bist du der Richtige? Ich finde Menschen ja komisch, die jeden Tag sozusagen in den Spiegel schauen und vor sich selbst vor Ehrfurcht erstarren.
    Ich glaube einfach, dass in meinem Leben ich der Sozialdemokratie ganz viel zu verdanken habe. Das geht los bei Willy Brandts erster Regierung, die mal ein anständiges Scheidungsrecht eingeführt hat, wo die Mütter auch mal Rechte bekamen. Ich habe in meiner eigenen Familie erleben dürfen, wie das meiner Mutter ging – davor und wie es ihr danach ging. Ich bin ein großer Profiteur sozialdemokratischer Bildungspolitik. Ich bin der Erste bei uns in der Familie, der überhaupt Abitur machen konnte. Das ging nur durch die Reformpolitik der SPD. Und deswegen bin ich ausgesprochen stolz darauf, Vorsitzender dieser ältesten demokratischen Partei Europas zu sein.
    "Nicht aufgeben, weitermachen!"
    Capellan: Sie haben dann auch gesagt, wenn es mal Zweifel gab: Soll ich mir das weiter antun? Dann haben Sie sich erinnert an Herbert Wehner. Der hat gesagt: Weitermachen, auch in solchen Momenten. Warum lohnt es sich, weiterzumachen? Denn die Umfragen sind ja wirklich nicht gut für Sie und trotzdem sagen Sie, Sie machen den Job gerne weiter. Warum?
    Gabriel: Also erstens ist das ein Zettel, den Herbert Wehner an Hans-Jochen Vogel gegeben hat. Und auf dem Zettel für Hans-Jochen Vogel stand handschriftlich von Herbert Wehner drauf: "Nicht aufgeben, weitermachen!" Und Hans-Jochen kopiert den immer und gibt ihn an Leute, von denen er den Eindruck hat, er muss ihnen Mut machen.
    Capellan: Also Sie haben den schon mal bekommen, den Zettel?
    Gabriel: Ja, Peer Steinbrück glaube ich auch – und andere. Also das finde ich, ist ja auch richtig. Sozialdemokrat zu sein, da gab es in der Geschichte der SPD schwierigere Situationen als heute. Und, wenn man stolz ist darauf, dass sozusagen das die älteste demokratische Partei ist – nichts von dem, was wir in Deutschland an Freiheit und sozialer Sicherheit haben, ist ohne die SPD, und ich füge hinzu: ohne die Gewerkschaften denkbar – dann hat man auch eine Verantwortung.
    Was die Umfragen angeht, erleben wir derzeit – es gibt gerade eine aktuelle aus Hessen – dass die CDU und die SPD und auch die Linkspartei übrigens, drastisch verlieren. Ich glaube, in Hessen waren es für beide Parteien sechs Prozent heute, wenn ich das richtig gelesen habe. Weil natürlich die tiefe Verunsicherung in unserem Land existiert, bei der dann eine Partei entstanden ist wie die AfD, wo Menschen, die mit der Flüchtlingspolitik, aber auch mit dem Gefühl, Kontrolle verloren zu haben übers eigene Leben, über das Land, leider verstärkt ihr Heil in – ich sage mal – in einem neu erstarkenden Nationalismus suchen. Dagegen muss die SPD – wie ich glaube auch die Union – ankämpfen.
    Capellan: Das versuchen Sie ja auch gerade.
    Gabriel: Ja.
    "Alle Attentäter des letzten Jahres haben sich in unserem Land radikalisiert"
    Capellan: Sie haben ein Papier zur Sicherheitspolitik, zur inneren Sicherheit, veröffentlicht. Stellt sich dennoch die Frage: Das ist schwierig, mit dem Thema Sicherheit Wahlkampf zu machen. Da sagen viele, da spielen wir der AfD unweigerlich in die Hände, wenn wir uns da streiten in dem Punkt.
    Gabriel: Ja, lassen Sie mich erst mal eine Bemerkung machen. Ich weiß, dass Politikern unterstellt wird, sie machen alles nur wegen des Wahlkampfes. Ich weiß das. Und natürlich wollen Parteien auch Wahlen gewinnen. Aber meine Bitte ist auch, zu akzeptieren, dass - und zwar in allen demokratischen Parteien - Menschen sitzen, die Dinge auch deshalb machen, weil sie davon überzeugt sind. Und ich bin ganz fest davon überzeugt, dass der Kampf gegen Terrorismus und die Gewalt zwei Dinge braucht. Das eine ist, klar, notfalls auch härtere Gesetze. Da ist manches, was die CDU/CSU vorschlägt, richtig. Anderes ist falsch. Aber wer glaubt, nur dadurch diesen Kampf zu gewinnen, der wird verlieren. Denn leider haben wir es in Deutschland mit einem anwachsenden Terrorismus zu tun, der bei uns entsteht. Es gibt ja die falsche Wahrnehmung, dass die Flüchtlinge sozusagen, sich darunter Extremisten befinden, die dann nach Deutschland kommen und dann hier Terror ausüben. In Wahrheit ist es so, dass wir - die Amerikaner nennen das "Home Grown Terrorismus": Alle Attentäter des letzten Jahres – in Deutschland, in Frankreich, in Belgien – haben sich in unserem Land radikalisiert. Sie sind über die sozialen Netzwerke von den Islamisten angesprochen worden.
    Deswegen glaube ich, ist genauso wichtig und das ist sozusagen Gegenstand dieses Papiers, das Sie zitiert haben, genauso wichtig wie die Stärkung von Polizei, Staatsanwaltschaften und Justiz ist Präventionsarbeit wichtig. Anfang der 90er-Jahre hatten wir eine steigende Jugendkriminalität, da haben wir überall in Deutschland kommunale Präventionsräte gemacht. Das Ergebnis ist, dass wir heute 50 Prozent weniger Jugendgewalt in Deutschland haben. Ich glaube …
    Prävention nicht länger in "homöopathischen Dosen"
    Capellan: Das dauert lange.
    Gabriel: Ja, sicher, na sicher.
    Capellan: Sie haben zum Beispiel bei der Reform des Verfassungsschutzes sofort gesagt: Da brauchen wir eine Föderalismusreform, so viel Zeit haben wir nicht mehr. Da frage ich mich: Haben wir die Zeit, auf Prävention zu setzen?
    Gabriel: Ich glaube, dass das zwei ganz unterschiedliche Schuhe sind. Der Kollege de Maizière, den ich ziemlich schätze, hat auf die aktuellen Antworten des Terrorismus gesagt: Wir müssen eine große Föderalismusreform machen und die Zuständigkeiten verändern. Ich glaube, das ändert gar nichts. Dass man einen langen Atem haben muss in der Bekämpfung der Kriminalität hat ja nichts damit zu tun, dass man nicht am Anfang die richtigen Dinge tun muss. Ich muss mit Moschee-Gemeinden zusammenarbeiten, die bereit sind, das zu tun. Und wer da nicht bereit ist, wie die Salafisten, muss man schließen.
    In der Präventionsarbeit sind wir mit homöopathischen Dosen unterwegs. Warum gibt es eigentlich keine Gegenpropaganda? Wir haben im Kalten Krieg die Geheimdienste "Radio Free Europe" bezahlt, das sozusagen Propaganda gegen den Ostblock gemacht hat. Nun will ich keine Geheimdienstradios mehr haben. Aber warum gibt es kein "Network Free Europe", wo wir in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, wo wir gucken, wo sind sozusagen die Propagandisten und suchen ihre Anhänger? Und deswegen glaube ich, beide Dinge gehören zusammen.
    "An öffentlichen Plätzen Videoüberwachung verschärfen"
    Capellan: Aber dann lassen Sie uns auch über das andere noch sprechen.
    Gabriel: Gerne.
    Capellan: Also über die Gesetzesveränderungen, die ja jetzt auch beschlossen worden sind. Heiko Maas – der Justizminister von der SPD – hat gesagt, die Leute haben den Eindruck, es ist jetzt genug geredet worden, wir müssen was tun. Und man hat jetzt auch beschlossen, als Konsequenz aus dem Fall
    Amri , wir müssen solche sogenannten Gefährder auch frühzeitiger in Haft nehmen können, wenn sie die öffentliche Sicherheit bedrohen. Da gab es ja genügend Hinweise in diesem Fall. Glauben Sie, dass man, wenn man beispielweise auch die elektronische Fußfessel solchen Gefährdern gewissermaßen vorbeugend, ohne dass sie straffällig geworden sind, glauben Sie, dass man solche Veränderungen durchbekommt beim Bundesverfassungsgericht?
    Gabriel: Ja, sicher. Sehen Sie, den Gefährder in Haft nehmen, der ausreisepflichtig ist, das dürfen wir heute schon bis zu 18 Monaten.
    Capellan: Ist aber nie gemacht worden.
    Gabriel: Ja. Die Frage stellt sich übrigens auch an die deutsche Justiz: Warum wird die Abschiebehaft für Gefährder, die ausreisepflichtig sind und die ihre Identität versuchen zu verschleiern, warum wird davon nicht Gebrauch gemacht? Offensichtlich, weil die zuständigen Gerichte den Eindruck hatten, dass die Führungsaufsicht für den Gefährder ausreichend ist. Es gibt manchmal ausreichende Gesetze, die nicht sozusagen mit der notwendigen Härte angewandt werden. Da sind wir sicherlich in der Vergangenheit ausgesprochen liberal gewesen. Und es gibt Dinge, die wir auch verschärfen müssen. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass die Polizei häufig Schwierigkeiten hat, an öffentlichen Plätzen Videoüberwachung zu machen. Jedes Kaufhaus hat es leichter, das zu tun. Und da zum Beispiel glaube ich, dass die rechtlichen Möglichkeiten für die Polizei erweitert werden müssen.
    "Die Herkunftsländer sagen: Das sind gar nicht unsere Staatsbürger"
    Capellan: Da möchte ich gleich drauf zu sprechen kommen, aber vielleicht können wir vorher noch über das Thema Abschiebung sprechen. Rückführung, Rückführung, Rückführung – das hat auch die Kanzlerin gesagt im Kontext der Flüchtlingspolitik – das sei jetzt das Gebot der Stunde. Es gibt ja viele, die nur noch eine Duldung haben, die ausreisepflichtig sind. Und da zeigt sich, dass es immer noch gravierende Unterschiede in den Ländern gibt, wer abschiebt und wer nicht. Also in Bremen war es jeder Siebzigste, der abgeschoben wurde im Jahr 2015. In Bayern war es jeder Vierte. Warum kann es da solche regionalen Unterschiede geben, wenn doch die Gesetze eigentlich einheitlich für alle gelten müssten?
    Gabriel: Erst mal finde ich es gut, dass das Land, das am meisten zur Ausreise beigetragen hat, Nordrhein-Westfalen ist. Auf Platz zwei steht Niedersachsen und erst auf Platz drei Bayern. Das heißt, wir haben drei Länder, die das massiv tun. Jetzt die Frage: Warum gibt es Unterschiede? Es gab in der Vergangenheit beispielsweise Verabredungen darüber, dass zum Beispiel Nordafrikaner auf bestimmte Bundesländer verteilt wurden. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat eine unglaublich große Anzahl von Nordafrikanern aufnehmen müssen in den letzten Jahren. Das sind nun ausgerechnet Menschen, die praktisch keine Bleibeperspektive bei uns haben. Bloß, die kommen aus Ländern, die ihre Staatsbürger nicht zurücknehmen wollen, die keine Passpapiere ausstellen. Das heißt, es gibt Bundesländer, die strukturell ein Problem haben, die Leute loszuwerden, weil die Herkunftsländer sagen: Das sind gar nicht unsere Staatsbürger. Deswegen sage ich: Es kann nicht sein, dass die Bundesrepublik Deutschland in vielfältiger Weise diesen Staaten hilft, aber umgekehrt die ihre Staatsbürger nicht zurücknehmen. Die Länder müssen bereit sein, mit uns Verträge zu schließen über eine schnellere Rückführung ihrer Staatsbürger.
    Capellan: Da haben Sie eine Kürzung von Entwicklungsgeldern jetzt wiederholt ins Gespräch gebracht…
    Gabriel: Nein, erst mal habe ich gesagt, dass …
    Capellan: Oder auch Wirtschaftssanktionen. Ich möchte gerne erzählen, dass ich mit Ihnen im vergangenen Jahr in Marokko war.
    Gabriel: Ja.
    Capellan: Und da war ja genau das auch Thema.
    Gabriel: Umgekehrt. Erst mal sagen wir, wir geben mehr, wenn ihr bereit seid, mit uns zusammenzuarbeiten.
    Capellan: Also Sie wollen belohnen?
    Gabriel: Beides. Ich will sagen, derjenige, der mit uns zusammenarbeitet, bei dem zum Beispiel sind wir bereit, auch dort zu helfen, dort Sicherheit auszubauen, Entwicklungsunterstützung zu machen, wirtschaftliche Unterstützung zu geben, und zwar mehr, als wir heute tun. Aber diejenigen, die sich strikt weigern, ihre Staatsbürger zurückzunehmen, obwohl sozusagen völlig klar ist, dass das Bürger ihrer Länder sind …
    Capellan: ...wobei, so klar war es nicht! Das wurde uns damals gesagt. Wurde Ihnen auch gesagt, dass die marokkanischen Behörden sagen, wir brauchen biometrische Daten …
    Gabriel: Ja.
    Capellan: … und: Ihr müsst besser mit uns kooperieren!
    Gabriel: Und deswegen haben wir in Deutschland ja inzwischen den Fingerabdruck eingeführt. Das ist ja sozusagen in dem Zentralregister jetzt eingeführt. Es gibt diese Probleme jetzt nicht mehr.
    "Wenn sie helfen, mehr machen. Wenn sie nicht helfen, weniger machen"
    Capellan: Darf ich dann festhalten, Sie halten nichts davon, Entwicklungsgelder zu kürzen? Sie halten nichts von wirtschaftlichen Sanktionen? Wir hatten Gerd Müller, den Entwicklungsminister, gerade im Deutschlandfunk im Gespräch. Der sagte: Ja, da muss der Wirtschaftsminister bei sich selber anfangen. Wir haben die Energiepartnerschaft mit Marokko, zum Beispiel das größte Solarkraftwerk der Welt in Ouarzazate, wo deutsche Firmen – Siemens nenne ich jetzt mal exemplarisch – beteiligt sind. Würde man das alles infrage stellen können – wegen der Rückführung?
    Gabriel: Ich wiederhole, was ich eben bereits gesagt habe. Wenn sie helfen, mehr machen. Wenn sie nicht helfen, weniger machen. Selbstverständlich bin ich dafür, dass es auch Konsequenzen haben muss, wenn sich jemand der Zusammenarbeit mit Deutschland bei der Rücknahme seiner eigenen Staatsbürger verweigert. Und da gibt es Möglichkeiten, was die Entwicklungszusammenarbeit angeht, da gibt es Möglichkeiten bei der Wirtschaft. Da gibt es andere politische Möglichkeiten. Niemand kann verstehen, wenn wir Tausende … Tausende von Staatsbürgern anderer Länder bei uns haben und es sich um Länder handelt, die genau wissen, dass es ihre Staatsbürger sind, wo wir das im Zweifel per Fingerabdruck nachweisen können und sie sich nicht bereitfinden, die zurückzunehmen oder nur in homöopathischen Dosen.
    "Wir sind ein erwachsener Rechtsstaat"
    Capellan: Trotzdem muss man sagen, die Parteipolitik spielt natürlich da rein, auch mit Blick auf Koalitionen, wie sie beispielsweise abschieben. Da haben wir eben nicht drüber gesprochen. Also da, wo die Grünen oder auch die Linken beteiligt sind, wird es schwieriger mit der Abschiebung. Ähnliches zeigt sich beim Thema Videoüberwachung. Sie haben auch in Ihrem Papier davon gesprochen, dass es wichtig sei, öffentliche Plätze – wie den Alexanderplatz in Berlin – mit Videokameras zu überwachen. Michael Müller, der regierende Bürgermeister in Berlin, hat da große Probleme. Daraus wird wohl nichts. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?
    Gabriel: Erstens stimmt das nicht, sondern er hat ja gerade gesagt, dass er sich zu dieser Frage auch wünscht, dass sich die Haltung dort verändert. Zweitens: In Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen regieren die Grünen mit und tragen diese Maßnahmen auch mit. In allen Parteien gibt es unterschiedliche Auffassungen dazu. Herr de Maizière gehört der CDU an und seine Schwesterpartei ist die CSU. Die streiten sich auch über Einzelfragen. Das ist ja auch in Ordnung. Es gibt Menschen, die sagen: Mensch, wenn der Staat jetzt anfängt, öffentliche Plätze zu überwachen, dann schränkt das ja auch sozusagen die Freiheit derjenigen ein, die nicht kriminell sind. Meine Antwort ist: Ich glaube, dass wir ein erwachsener Rechtsstaat sind, der in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, dass die Bürgerrechte nicht gefährdet sind. Und Messerstechereien am "Alex" und das Unsicherheitsgefühl von Frauen oder von älteren Menschen im öffentlichen Nahverkehr … Ich finde, darauf muss man mal reagieren. Vor allen Dingen …
    "Nur reiche Leute können sich einen schwachen Staat leisten"
    Capellan: Sie haben gesagt, das wird zur Klassenfrage.
    Gabriel: Ja, ja, weil nur reiche Leute sich einen schwachen Staat leisten können. Sehen Sie in den USA. "Gated Communities". Da ziehen die sich hinter hohe Zäune zurück und bezahlen das selber. Ganz normale Menschen sind auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen. Ich halte ja Sicherheit für ein soziales Bürgerrecht.
    Capellan: Und in Sachen Videoüberwachung haben Sie eine klare Meinung?
    Gabriel: In der Tat. Und wir haben übrigens gerade im Bundeskabinett einen Gesetzentwurf verabschiedet, der die Videoüberwachung im öffentlichen Raum ermöglichen kann. Ich finde, es gibt auch Grund, in die Fähigkeit des Rechtsstaates zu vertrauen, die liberalen Bürgerrechte zu schützen und gleichzeitig handlungsfähig zu sein gegen die, die sie missachten.
    "Die Kritik des Rechnungshofes trifft nicht für diese Legislaturperiode zu"
    Capellan: Deutschlandfunk, das Interview der Woche – heute mit dem SPD-Vorsitzenden und Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel. Lassen Sie uns über Ihr Thema sprechen, das sie als Minister überwiegend ja auch beschäftigt – die Energiewende. Da gibt es heftige Vorwürfe – wieder einmal, muss man sagen – vom Bundesrechnungshof, dass Sie den Überblick über die Kosten der Energiewende verloren hätten. Ziehen Sie sich den Schuh an?
    Gabriel: Na, erst mal muss man, wenn ein Bundesrechnungshofbericht kommt, den immer anständig lesen und nicht vorschnell in eine Verteidigungshaltung gehen. In diesem Fall allerdings würde ich sagen, die Kritik des Rechnungshofes trifft zu für die Vergangenheit, aber gerade nicht für diese Legislaturperiode. Ich mache mal ein paar Beispiele.
    Wir haben in dieser Periode als Hauptaufgabe gehabt, die Kosten zu reduzieren im Bereich der Energiewende. Wir haben in diesen drei Jahren nicht, wie in der Zeit davor, ständig steigende EEG-Umlagen oder ständig steigende Strompreise gehabt. Zweitens: Wir haben dafür gesorgt, dass die Erneuerbaren Energien stärker in den Wettbewerb kommen. Wir haben ja erlebt, dass immer, wenn der Staat die Preise festsetzt, sich sozusagen diejenigen, die solche Anlagen betreiben, entlang dieser Preise optimieren. Wir haben gigantische Grundstückskosten zum Beispiel gehabt. Seitdem wir zur Ausschreibung übergehen, stellen wir fest: Die Preise reduzieren sich, weil die Leute sich am Markt behaupten müssen. Der Rechnungshof fragt dann an einer Stelle: Was sind die steuerlichen Auswirkungen? Die würden wir nicht gut berechnen. Ehrlich gesagt, diese Frage ist unmöglich zu beantworten. Dazu müsste ich losgehen und müsste bei einem Kugellager-Unternehmen in Nordrhein-Westfalen klären:
    Wie viele dieser Kugellager führen eigentlich dazu, dass damit Windenergieanlagen betrieben werden können? Und wie viele sind für was anderes produziert? Und welche Wertschöpfung entsteht aus denen für die Windenergieanlagen und wie viele Steuern kommen dadurch in den Haushalt? Das finde ich … da übertreibt der Bundesrechnungshof.
    "Wir sind eindeutig dafür: Vorfahrt für Investitionen!"
    Capellan: Geld hat der Bund ja offenbar genug. Wir reden gerade über drei Milliarden, die vom Bundesrechnungshof beanstandet wurden mit Blick auf die Energiewende. Wir erfahren jetzt, es gibt einen Überschuss von sieben Milliarden Euro im Bundeshaushalt. Und die Flüchtlingsreserven, die man aufbringen wollte für die Finanzierung eben der Integration von Flüchtlingen unter anderem, musste man noch nicht einmal anknabbern. Also da kommt die Union jetzt mit dem Vorschlag: Wir müssen Steuern senken. Sind Sie dabei?
    Gabriel: Nein. Ich halte das für … Die Union kommt übrigens nicht mit dem Vorschlag "Steuern senken", sondern sie will Schulden tilgen. Und ich sage, wenn wir einen Sanierungsbedarf von 34 Milliarden an Deutschlands Schulen haben, wenn wir Brücken stilllegen müssen, weil kein Auto mehr drüberfahren kann aus Sicherheitsgründen, und wenn wir bei der digitalen Infrastruktur – wie Frau Merkel ja selber sagt – Entwicklungsland sind, dann kann es nicht sein, dass wir alle diese Sanierungsmaßnahmen weiter aufschieben, möglichst bis zu dem Zeitpunkt, wo aus 34 Milliarden 68 geworden sind und die Zinsen hoch sind. Das kommt die Bürger teuer zu stehen. Eine Steuersenkung oder eine Schuldentilgung, da sozusagen brüstet sich der Finanzminister heute. Wenn wir dann die Schulen in fünf Jahren erst sanieren oder vielleicht noch später, haben erstens die Schüler drunter zu leiden, wahrscheinlich ist es dann aber viel teurer und die Zinsen sind höher. Und dann kommt es die Bürger teurer. Wir sind eindeutig dafür: Vorfahrt für Investitionen!
    Im Wahlkampf habe ich zwei Sorgen. Gar nicht nur eine bei der CDU. Bei denen habe ich die Sorge, dass sie gigantische Steuersenkungsversprechen machen. 35 Milliarden sind da im Gespräch. Gleichzeitig fordert Herr de Maizière einen starken Staat. Wie soll das eigentlich gehen? Und ich gebe offen zu, auf der linken Seite habe ich manchmal die Sorge, dass zu hohe Ausgabewünsche für dauerhafte konsumptive Ausgaben gemacht werden. Mein Rat ist, dass wir Maß und Mitte behalten.
    "Der Hauptgegner ist nicht die CDU, sondern die AfD"
    Capellan: Dann lassen Sie mich abschließend fragen: Mit wem, glauben Sie, könnten Sie eine solche Politik am ehesten realisieren? Egal, in welcher Funktion Sie in die Bundestagswahl gehen, Sie müssen Mehrheiten schaffen, Optionen für die Sozialdemokratie. Es ist viel über Rot-Rot-Grün gesprochen worden. Es fällt auf, dass Sie jetzt auch die FDP wieder ins Spiel bringen. Denken Sie an die Ampel?
    Gabriel: Na, es gibt eine gut funktionierende Ampel-Koalition in Rheinland-Pfalz, die eine kluge Politik macht unter der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Und es gibt gut funktionierende Regierungen mit der Linkspartei. Das Ergebnis der nächsten Bundestagswahl kann doch von uns keiner vorhersagen. Wir haben beim nächsten Mal leider - und das finde ich, ist übrigens der Hauptgegner der SPD. Der Hauptgegner der SPD ist nicht die CDU, sondern die AfD. Die Radikalisierung unseres Landes, und dass da die Volksverhetzer unterwegs sind, das sind unsere eigentlichen Gegner. Wir verteidigen die liberale und die soziale Demokratie. Und ich habe keine Lust mit anzusehen, wie nach Trump und Putin und vielleicht Frau Le Pen oder in Holland Herr Wilders auch in Deutschland diese Kraft sozusagen zum Zünglein an der Waage wird. Aber darüber hinaus wird die SPD – wie, glaube ich, alle anderen Parteien – ohne feste Koalitionsaussage in den Bundestagswahlkampf gehen.
    "Keine Politik gegen den Euro und gegen Europa "
    Capellan: Aber die FDP – das glauben Sie – wird gebraucht?
    Gabriel: Kommt ein bisschen auf die Art der FDP an. Gute Zeiten waren, als die FDP eine sozialliberale Partei war. Schlimme Zeiten für Deutschland waren, als sie zu einer neoliberalen mutiert ist. Ich kann Ihnen das nicht vorhersagen. Es ist auch nicht mein Job, das zu tun. Ich weiß auch nicht, wie die Linkspartei sich entwickelt. Mit der SPD wird es jedenfalls keine Politik gegen den Euro und gegen Europa geben, wie sich das beispielsweise bei Frau Wagenknecht gelegentlich anhört. Und bei uns wird es keine Politik geben, bei der wir diese verhängnisvolle Privatisierung im Öffentlichen Dienst wiederbeleben, die die FDP da so vor sich hatte. Insofern kämpfen wir für sozialdemokratische Politik. Und die heißt im Kern, Deutschland sicherer, aber auch gerechter zu machen. Und wie bleibt das Land wirtschaftlich erfolgreich? Weil nur dann können wir soziale Sicherheit garantieren.
    Capellan: Sagt der Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der SPD-Vorsitzende auch. Ich danke für das Gespräch.
    Gabriel: Vielen Dank.