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Wahlkampfprogramme der Parteien
Werben um die Stimmen der Russlanddeutschen

Mit rund 2,4 Millionen Menschen sind die Russlanddeutschen eine der größten Einwanderergruppen in Deutschland. Obwohl die meisten schon lange in der Bundesrepublik leben, fühlen sich viele noch immer nicht akzeptiert. In der Politik wurden ihre Probleme und Ängste lange nicht wahrgenommen - ein Glücksfall für die AfD.

Von Katharina Heinrich | 11.07.2017
    Hunderte von Russlanddeutschen demonstrieren im Januar 2016 in Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg) gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland.
    Russlanddeutsche demonstrieren im Januar 2016 in Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg) gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland. (dpa/picture alliance/Marc Eich)
    In der Fußgängerzone von Pforzheim in Baden-Württemberg ist am Samstagmittag nicht viel los. Nur wenige Menschen sind unterwegs, die an den Info-Ständen von Amnesty International und der örtlichen AfD stehen bleiben könnten. Während sich für die Menschenrechtsorganisation kaum jemand interessiert, kommen nur hundert Meter weiter Waldemar Birkle und seine Parteifreunde immer wieder mit Pforzheimern ins Gespräch: Bekannte schauen vorbei und sogar Sympathisanten, für die der Stadtrat der Alternativen für Deutschland das Radiointerview kurz unterbricht.
    Der aus Kasachstan stammende Russlanddeutsche trat 2013 aus Frust der AfD bei. Grund: Seine jüngste Tochter hat in der SPD-geführten Stadt keinen Hortplatz bekommen. Drei Jahre später, bei der Landtagswahl im März 2016, schaffte es die AfD im Pforzheimer Stadtteil Buckenberg, zu dem das Wohngebiet Haidach zählt, aus dem Stand heraus auf 24,2 Prozent der Stimmen. Birkles Parteifreund Bernd Grimmer zog mit einem Direktmandat in den baden-württembergischen Landtag ein. Seitdem eilt Haidach der Ruf voraus, eine AfD-Hochburg zu sein. Aussiedlerhochburg war das Wohngebiet schon in den 1990er-Jahren, erinnert sich Waldemar Birkle, der seine Jugend dort verbrachte:
    "Die meisten wurden ja hier auch auf dem Haidach einfach, irgendwie abgeschoben, das heißt, hier die Aussiedler aus den Augen, aus dem Sinn. Da sollen sie unter sich sein. Ich weiß, wie es bei mir war, ich habe dann irgendwann meine erste Arbeitsstelle, ich bin gekommen und: Wer bist du? Wo kommst du her? Kann das sein, du bist Russe? Kommst du etwa vom Haidach her? Und dann sage ich: Nein, ich wohne woanders, ach ja, da wurde ich schon anders angesehen. Aber dieser Druck auf den Menschen, diese Nicht-Akzeptanz, die war präsent, die war hart, gerade Anfang der 90er-Jahre."
    Abschlüsse ohne Anerkennung
    Der 44-Jährige Russlanddeutsche hat ein einnehmendes offenes Lächeln, seine legere Kleidung vermittelt einen sportlichen Eindruck. Am 24. September kandidiert Birkle im Wahlkreis Pforzheim/Enzkreis für den Bundestag. Für die rechtspopulitische AfD hofft er auf die Stimmen der fast 19.000 in der Stadt lebenden Aussiedler: Für diese seien vor allem christlich-konservative Werte wichtig, sagt Birkle.
    "Wenn man unsere Programme vergleicht, wie sie vor 20 Jahren waren, die AfD ist nichts anderes wie die CDU vor 20 Jahren. Und die Aussiedler, die weiterhin christlich-konservativ geprägt sind, die familienfreundlich sind, die wählen einfach weiterhin die Partei, die ihren Vorstellungen entspricht, und das ist die AfD zurzeit."
    In Deutschland leben rund 2,4 Millionen Spätaussiedler, davon sind 1,5 Millionen wahlberechtigt. Die meisten kamen in den 1990er-Jahren hierher. 2012 bescheinigte ihnen eine Untersuchung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge eine so genannte "geräuschlose" Integration. Das heißt: geringe Arbeitslosenquote und eine Zufriedenheit mit ihrer Lebenssituation. Die Aussiedler haben sich – so schien es jedenfalls - zu einer nahezu unsichtbaren Migrantengruppe gemausert. Dann jedoch zeigten die Demonstrationen gegen die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang 2016, dass manche Spätaussiedler Probleme haben, die die Politik bis dato anscheinend nicht wahrgenommen hat: Akademiker arbeiten im Niedriglohnsektor, denn ihre in der ehemaligen Sowjetunion gemachten Abschlüsse wurden nicht anerkannt. Russlanddeutsche Rentner leiden unter Altersarmut und sind auf die finanzielle Unterstützung ihrer Kinder angewiesen. Der AfD-Politiker Waldemar Birkle weiß um diese Unzufriedenheit:
    Die AfD ist ja nicht aufgetreten als eine Partei, die jetzt sich speziell um die Aussiedler kümmert. Die AfD ist eine Partei für Deutschland. Selbstverständlich gibt es auch bei den Aussiedlern gewisse Probleme, ich meine, viele beklagen, dass die Renten kleiner sind, aber ich denke, das größte Problem, was die Aussiedler eigentlich haben: Wir sind hier so lange hier schon in Deutschland und alle anderen Parteien haben das einfach versäumt, unsere Akzeptanz hier der Bevölkerung näher zu bringen. Wir kamen irgendwann und wir waren die bösen Russen."
    Marzahn-Hellersdorf: 23,6 Prozent der Stimmen für die AfD
    Populistische Parteien werden dort gewählt, wo die Menschen sich von der übrigen Gesellschaft abgehängt fühlen, heißt es in einem Kurzbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft. Dmitri Geidel kann das für seinen Wahlbezirk Marzahn-Hellersdorf bestätigen. Der 28-jährige Jurist hat deutsche und russische Wurzeln und ist Direktkandidat der SPD für den Bundestag im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Hier lag die AfD bei der Abgeordnetenhauswahl im vergangenen September mit 23,6 Prozent der Stimmen hauchdünn vor der Linken.
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    Der Bezirksverordnete der SPD, Dmitri Geidel, in Berlin-Marzahn. (dpa/picture alliance/ Britta Pedersen)
    "In Marzahn-Hellersdorf merkt man eine sehr deutliche soziale Spaltung in der Stadt, von einem relativ wohlhabenden südlichen Siedlungsgebiet bis zu sehr großen sozialen Problemen je weiter man Richtung Norden kommt. In Marzahn-Nord, dort lebt wahrscheinlich der größte Anteil der Russischsprachigen. Dort gab es diesen starken AfD-Anteil, wo sie auch das Direktmandat gewonnen haben, aber die gleiche soziale Situation hat man in Hellersdorf-Nord, das gleiche sehr, sehr starke AfD-Ergebnis, aber sehr wenig Russlanddeutsche. Das heißt, man kann daraus eher schlussfolgern, dass die Entscheidung für eine bestimmte Partei eher von der eigenen sozialen Situation abhängt als unbedingt von der ethnischen Zugehörigkeit."
    Der AfD-Bundestagskandidat Waldemar Birkle widerspricht. Haidach, die Trabantensiedlung im baden-württembergischen Pforzheim, habe sich zu einem Musterstadtteil entwickelt. Die Aussiedler besitzen mittlerweile Eigentum und leben gerne hier.
    "Weil da war man unter sich, da waren keine Leute, die dir gegenüber irgendwie feindlich eingestellt waren oder die dich beschimpft haben. Da waren alle demselben Schicksal unterlegen. Wir waren alle gleich hier."
    Waldemar Birkle ist überzeugt davon, dass Russlanddeutsche die AfD wählen, weil sie national denken. Heinrich Daub pflichtet ihm bei:
    "Uns hat man eben Jahrzehnte lang als Ethnie betrachtet und verfolgt, deswegen sind wir so national, vielleicht auch nationalistisch eingestellt im guten Sinne."
    "Die linksliberalen Ideen, das sind weltfremde Ideen"
    Daub war bis 2008 Chefredakteur von " Ost-West-Panorama", einem Blatt, das sich an Aussiedler richtete und eigenen Angaben nach einige hundert Abonnenten hatte. Als herauskam, dass in der Zeitschrift, in der die Bundesregierung mit Anzeigen für Integration warb, auch Artikel der NPD erschienen, wurde sie eingestellt. Früher war Heinrich Daub Mitglied der CDU. Heute sympathisiert er offen mit der AfD. Er glaubt, für alle Russlanddeutschen sprechen zu können:
    "Oft macht man auch den Vorwurf: Wer hat dir das erlaubt im Namen des Volkes? Keiner erlaubt das. Diese Erlaubnis gibt man sich selber. Und ich mache mir Sorgen um mein Volk, und ich habe das Recht dazu. Das Recht ist mir von Gott gegeben. Ich brauche da keinen Kongress jetzt, der mir diese Befugnis gibt. Verstehen Sie? Die linksliberalen Ideen, das sind weltfremde Ideen, das sind Ideen des Volkstodes."
    Bei einem Treffen älterer konservativer Russlanddeutscher im vergangenen März hat Daub auch über eine Neuauflage der Zeitschrift "Ost-West-Panorama" diskutiert. Dieses Treffen hatte Heinrich Groth, der Vorsitzende des "Internationalen Konvents der Russlanddeutschen" organisiert. Der Verein hat 20 bis 30 Mitglieder. Groth hat in Berlin auch die erste flüchtlingsfeindliche Demonstration organisiert. Wie groß die Unzufriedenheit unter den Aussiedlern ist, hat die Öffentlichkeit erst durch die Proteste im "Fall Lisa" bemerkt. Bundesweit gingen russischsprachige Migranten wegen der angeblichen Vergewaltigung einer 13-Jährigen durch Flüchtlinge auf die Straße. Später sollte sich herausstellen, dass sie gar nicht vergewaltigt wurde – trotzdem hat das russische Fernsehen ausführlich darüber berichtet. Und auch Groth trat zum Thema in Talkshows der Kreml-nahen Fernsehsender auf. Sein und der Einfluss von Daub auf die Gruppe der Aussiedler werde allerdings stark überschätzt, sagt der russlanddeutsche Osteuropa-Historiker Alfred Eisfeld:
    "Beide sind marginale Persönlichkeiten, die vor allem für Medien interessant sind. Medien, die etwas Aufregendes suchen und darüber berichten wollen."
    Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein
    Nicht zu unterschätzen sei dagegen der Einfluss der AfD auf die Unzufriedenen unter den Aussiedlern. Denn die rechtspopulistische Partei habe die Probleme und Ängste dieser Wählergruppe erkannt und versucht, sie für sich zu nutzen. Seit den 1990er-Jahren haben die Aussiedler den Ruf, in Deutschland privilegierte Migranten zu sein, obwohl sie sich selbst weder als Migranten noch als privilegiert ansehen. Fakt aber ist: Direkt nach ihrer Übersiedlung bekamen sie die deutsche Staatsbürgerschaft und zahlreiche Eingliederungshilfen. Viele von ihnen haben jedoch das Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein: Verwundert registrierten sie deshalb, wieviel Zustimmung syrische Flüchtlinge in Deutschland bekamen, sagt der Osteuropahistoriker Alfred Eisfeld:
    "Bei Geflüchteten hat man in der Politik eine andere Einstellung gezeigt: " Wir schaffen das!" Und eine sehr wohlwollende Begleitung durch die Medien. Aussiedlern war ganz bewusst, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird."
    Vor allem die Älteren unter den Russlanddeutschen reagieren heute mit Unverständnis darauf, dass als Asylbewerber anerkannte Flüchtlinge ihre Familienangehörigen nachholen dürfen. Petra Pau von der Partei "Die Linken", deren Wahlbezirk der Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf ist, kennt das Problem:
    "Ich habe in meiner Sprechstunde Familien, die schon seit über zehn, 15 Jahren versuchen, entweder erkrankte Familienmitglieder nachzuholen, oder aber noch in Russland geborene Enkelkinder, deren Eltern aus welchen Gründen auch immer sich nicht um sie kümmern können."
    Inzwischen haben fast alle Parteien für die Bundestagswahl am 24. September russlanddeutsche oder russischsprachige Kandidaten aufgestellt. Die AfD gründete einen "Arbeitskreis der Russlanddeutschen in der AfD", wobei auch Nicht-Parteimitglieder willkommen seien. Auch andere Parteien erkannten das Wählerpotential der Aussiedler und riefen entsprechende Netzwerke ins Leben. Bei der SPD beispielsweise ist es das Netzwerk russischsprachiger Sozialdemokraten. Dmitri Geidel, der Direktkandidat in Marzahn-Hellersdorf:
    "Damit soll möglichst eine große Gruppe umfasst werden, also von biologischen Russen, die nach Berlin gekommen sind, um hier zu arbeiten, das sind natürlich die klassischen Russlanddeutschen, jüdische Kontingentflüchtlinge und alle anderen, die irgendwie eine russische Biografie mit haben und an russischen Themen arbeiten."
    CDU und SPD werben um die Stimmen
    Bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland geben sich Politiker fast aller Parteien die Klinke in die Hand. Die CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, empfing vor wenigen Wochen Vertreter der Landsmannschaft in Berlin. CDU und SPD werben mit russischsprachigen Flyern um die Stimmen der Aussiedler. Die AfD Brandenburg übersetzte sogar das Parteiprogramm ins Russische. Während die Alternative für Deutschland mit Islamophobie und Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik bei den Russlanddeutschen punkten will, haben die CDU und die SPD Themen wie Anerkennung der ausländischen Berufsabschlüsse in ihre Wahlprogramme geschrieben. Die SPD hat allgemein die Altersarmut im Fokus. Und der neue nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Armin Laschet, hat im Wahlkampf versprochen, die Renten der Aussiedler zu verbessern. Dafür hat der CSU-Politiker Bernd Fabritius, der Präsident des Bundes der Vertriebenen, einen Plan ausgearbeitet:
    "Die wichtigsten Punkte sind die Deckelung der Entgeltpunkte, die im Fremdrentengesetz geregelt ist und die eben bewirkt, dass man ganz egal wie viel man in seinem Leben gearbeitet hat, eben nur eine Rente unterhalb der Armutsgrenze bekommt. Der zweite Ansatz wäre, dass man die Anrechnung von Leistungen zu Gunsten der Betroffenen verändert, so dass sie was sie aus dem Herkunftsgebiet bekommen, zumindest zum Teil zur Deckung des eigenen Bedarfs einsetzten können. Der dritte Ansatz war, dass mit den Herkunftsgebieten über Sozialversicherungsabkommen dafür Sorge getragen wird, dass Leistungen aus den Staaten, die Beiträge vereinnahmt haben, an die Betroffen möglich werden."
    BdV-Präsident Bernd Fabritius, spricht am 07.11.2014 bei der Bundesversammlung des Bundes
    BdV-Präsident Bernd Fabritius (dpa /picture alliance /Bernd von Jutrczenka)
    Verhandlungen über das Sozialversicherungsabkommen werden zwischen Deutschland und Russland schon seit den 1990er-Jahren geführt. Bislang ergebnislos, sagt der Osteuropa-Historiker Alfred Eisfeld. Er hat einen anderen Lösungsvorschlag:
    "Nicht die Anpassung der Deckelung dieser Entgeltpunkte ist entscheidend, sondern eine Gleichstellung der Aussiedler mit der einheimischen Bevölkerung. Wir reden ja davon, dass die gesetzliche Rente auf einem Generationenvertrag beruht, das heißt, die Arbeitsleistung der Rentner wird berechnet in diesen berühmten Entgeltpunkten. Bezahlt wird nicht aus irgendwelchen fantastischen Rücklagen, sondern aus den Rentenbeiträgen, die die jetzt arbeitende Generation erbringt. Und nun haben wir ein sehr merkwürdiges Bild: Kinder dieser älteren Generation von Aussiedlern arbeiten hier, zahlen Steuern, Sozialabgaben zu 100 Prozent wie alle anderen, aber ihre Eltern kriegen eine herab gesetzte gedeckelte Rente. Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun."
    Seit 1991 wurden die Renten der Spätaussiedler, die das Fremdrentengesetz regelt, kontinuierlich gesenkt. Seit 1996 liegen sie 40 Prozent unter denen der bundesdeutschen Rentner, unabhängig davon, ob und wie lange die Aussiedler gearbeitet haben. Ihre nicht-deutschen Ehepartner haben keinen Rentenanspruch und sind auf Grundsicherung angewiesen. Über die Rentenkürzungen wurde seinerzeit im Bundestag diskutiert, weil man die Kosten der Integration der Aussiedler nicht einschätzen konnte. Wenn Aussiedler heute in seine Sprechstunden kommen, gehe es genau um solche Themen, erzählt der SPD-Kandidat Geidel:
    "Ganz normalen Themen, die auch die Deutschen beschäftigen, ob jetzt die Schulen und Kindergärten, die ausgebaut werden müssen, die Renten-, Verkehrsthemen. Was besonders ist an Russlanddeutschen, merkt man auch, wenn die Menschen bestens integriert sind, fließend deutsch sprechen, hier arbeiten, Unternehmer sind oder irgendwie einen guten Job haben, in der Verwaltung arbeiten oder ähnliches, immer noch so ein gewisses Gefühl von, nicht dazugehören."
    Gesellschaftliche und politische Teilhabe wurde zu wenig gefördert
    Ob dieses Gefühl beim Wahlverhalten am 24. September eine Rolle spielt? In den 1990er-Jahren haben viele Aussiedler die Union gewählt – aus Dankbarkeit für ihre Übersiedlung, wie es heißt. Danach sei man viele Jahre von einer "selbstverständlichen Integration" der Aussiedler ausgegangen, sagt die Soziologin und ehemalige Rektorin der Universität Essen, Ursula Boos-Nüning. Daher habe man sie in der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe nicht besonders gefördert:
    "Also, wenn ich das vergleiche mit der zahlenmäßig deutlich geringeren Zahl der türkischen Einwanderer , wovon ja nur die Hälfte Wahlrecht hat, dann sind die sehr viel stärker präsentiert, sei es in den Kommunalparlamenten, sei es im Landtag, sei es im Bundestag, sei es in offiziellen Funktionen. Es gibt keine einzige offizielle Funktion, die mir einfällt, wo jemand, der aus Russland nach Deutschland gekommen ist, in exponierter Stellung hervorgehoben wird."
    Deshalb hat die Soziologin in Zusammenarbeit mit der Otto-Benecke Stiftung – die Projekte zur Integration von Migranten fördert - ein Handbuch zur interkulturellen Bildung für Vereine der Russlanddeutschen in Nordrhein-Westfalen erstellt. Auch die Landsmannschaft zog nach und führte bundesweit politische Bildungsseminare durch. Und auch die Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltete Ende März eine Tagung zur politischen Teilhabe der Russlanddeutschen und anderer russischsprachiger Gruppen:
    Auf der Tagung wurde vor allem deutlich, dass sich die Migrationserfahrung der eingewanderten Generation von der ihrer Kinder unterscheidet. Die Russlanddeutsche Kristina Rein aus Bielefeld ist ein Beispiel dafür. Sie kam als Achtjährige mit ihren Eltern aus Kasachstan nach Deutschland. Heute studiert sie Sozialwissenschaften und ist Mitglied der Partei "Die Linke". Die 26-Jährige nimmt an einer Demonstration gegen die AfD teil:
    "Politik hat eine große Rolle gespielt, weil meine Eltern sich oft als Ausländer bezeichnet, beziehungsweise gefühlt haben und hatten einfach das Gefühl: Wir können hier in Deutschland eh nichts politisch erreichen, und na ja, für mich war das dann: Ich will aber politisch aktiv sein in Deutschland und ich will auch beweisen, dass eben wir als Gruppe keine Randgruppe sind, sondern zu Deutschland gehören und auch mitentscheiden dürfen."
    Neue Generation ist offen für demokratische Parteien
    Viele der hier geborenen Kinder der Aussiedler sind deutsch sozialisiert, haben das bundesdeutsche Bildungssystem durchlaufen, sprechen oft kein Russisch. Sie unterscheiden sich also kaum von ihren einheimischen deutschen Freunden. Belegbare Zahlen über das Wahlverhalten dieser Generation gibt es kaum. Professor Achim Goerres vom Zentrum für Integrations-und Migrationsforschung der Universität Essen untersucht das derzeit. Mit Ergebnissen rechnet er erst nach der Bundestagswahl. Wenn man jedoch Aussiedler aus Russland mit denen aus Polen und Rumänien vergleicht, dann zeige sich, dass sich mit dem Bildungsgrad auch ihre Wahlpräferenz immer mehr dem Wahlverhalten der einheimischen Deutschen annähert, so war es im vergangenen Jahr im Forschungsbericht aus dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration zu lesen. Die zweite Generation der Russlanddeutschen ist bei den Wahlen also offen für alle demokratischen Parteien.