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"Was ist dir an der Geschichte wichtig?"

Drei Erzählungen legt Ralf Rothmann vor: "Othello für Anfänger" beschreibt einen nicht ganz typischen Eifersuchtskonflikt, "Sterne tief unten" schildert eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem Pathologie-Hilfsarbeiter und einem Jungen - und "Der Hunger der Vergesslichkeit" erzählt von der menschlichen Seite der deutschen Vergangenheiten.

Von Martin Krumbholz | 03.09.2012
    Die Hühner flattern durch die Erzählung "Othello für Anfänger": Zwei junge Damen, Dinah und Fritzi, brechen nach dem Abitur in Mutters Cabriolet zu einer Reise durch Südfrankreich auf. Vorher haben beide in der Theater-AG gespielt: Othello und Desdemona. Was zunächst die Geschichte eines homoerotischen Coming-Out zu sein scheint, entpuppt sich – der Titel nimmt es vorweg – als Entfaltung eines Eifersuchtskonflikts; Fritzi, die Ich-Erzählerin, lernt in Avignon einen Bundeswehrrekruten kennen, es kommt dadurch zum Bruch zwischen den Frauen. Der kryptische Buchtitel wiederum geht auf einen schlichten Lesefehler zurück: In der angejahrten Sekundärliteratur, die die Schülerinnen studiert haben, war nämlich von "Shakespeares Hünen" die Rede, ein Begriff, mit dem die Mädchen nichts anfangen konnten und den sie kurzerhand durch "Hühner" ersetzten. Leben wir nicht alle gewissermaßen wie hinter Maschendraht? Im Gespräch weist Ralf Rothmann darauf hin, dass es hier nicht etwa provokativ um junge Frauen als "Hühner" gehe, sondern geschlechtsunspezifisch um Menschen im allgemeinen, die sich ständig mit Nebensächlichkeiten beschäftigten, seien es Lockenstäbe oder Handymarken.

    "Wir sind doch alle gefangen in dem, was man das Realitätsgefüge nennt. Und uns allen wird in diesem Leben, das voller Kleinkram ist, der Blick in andere Dimensionen des Daseins verstellt."

    Nun hat die Erzählung auch eine explizite moralische Ebene. Die Tatsache, dass Dinah eine notorische Diebin ist, bleibt dabei eher außen vor; thematisiert wird stattdessen ein anderer "Diebstahl": Ihr, Dinah, kommt unverhofft die Geliebte abhanden, und nun, im Hotelzimmer, konfrontiert sie die Gefährtin mit der provokanten Frage: Glaubst du eigentlich, dass du ein guter Mensch bist?

    "Das ist der Ausdruck eines gewissen Zickenkriegs. Die eine, Dinah, ist frustriert, weil sie sich von der Beziehung mehr versprochen hat, als Fritzi ihr geben kann. Nun will sie die andere verletzen, holt zu einem Tiefschlag aus: Sie fragt, glaubst du eigentlich, du bist ein guter Mensch. Fritzi antwortet: Wer tut das nicht, und dann wieder Dinah: Nun ja, ein guter Mensch , würde ich denken. Sie hat einen rhetorischen Trick parat, und Fritzi in ihrer Naivität fällt darauf herein. Naivität meine ich hier ganz auszeichnend."

    In der Tat: Die scheinbar Naiven, die nicht Durchtriebenen, die Schüchternen sind in diesen Texten oft die positiveren Figuren. Rothmann räumt ein, dass es in "Othello für Anfänger" vordergründig auch um die Tatsache einer homo- oder heterosexuellen Orientierung gehe, entscheidend aber sei etwas anderes:

    "Zwei Menschen lassen eine gewisse Schwelle hinter sich. Sie haben das Abitur gemacht und erwarten nun ein Leben voller Freiheit und schönster Dimensionen, und dabei machen sie die Feststellung, dass sie doch verschiedene Vorstellungen davon haben. Das mag der Konflikt in dieser Erzählung sein."

    In der Erzählung "Sterne tief unten", für mich die beste des Bandes, werden auf höchst elegante Weise drei unterschiedliche Aspekte des Lebens miteinander verknüpft: Kindheit, Eros und Tod. Sehr ungewöhnlich ist dabei der Schauplatz: Die Geschichte spielt in der Pathologie einer Klinik, die doch unmittelbar an das normale bürgerliche Leben grenzt; der Protagonist, ein Hilfsarbeiter, wird damit beauftragt, an den Wochenenden, wenn die Sektionsgehilfen nicht arbeiten, Leichen ins Kühlhaus zu transportieren. An einem solchen Samstag lernt der Mann einen aufgeweckten Nachbarsjungen kennen und freundet sich mit ihm an. Beim wehmütigen Abschied – der Junge zieht fort – scheint geradezu so etwas wie eine erotische Initialzündung stattgefunden zu haben: Der Mann, heißt es da, glaubte "in seiner leeren Hand ( ... ) den warmen Hinterkopf des Jungen" zu spüren.

    "Es ist die Geschichte eines Mannes mit einer etwas dunklen Vergangenheit. Er hat drei sogenannte Knasttränen an der linken Daumenwurzel eintätowiert, seine Vergangenheit wird nicht ganz bürgerlich gewesen sein. Er ist ein eher kontaktarmer Mensch, der nun diesen etwas vorwitzigen Knaben kennenlernt. Der Junge adoptiert quasi diesen gutmütigen Riesen, macht ihn zum Komplizen. Sie schreiben ein Gedicht zusammen, eine harmlose Schnurre über eine tote Maus. Es ist sicher so, dass die Hinwendung zu dem Jungen bei dem Mann etwas löst, da beginnen die Herzränder zu tauen. Er fasst sich nun ein Herz, geht zu der Frau, der Buchhändlerin, und es beginnt so etwas wie Liebe. Und das ist durch die Begegnung mit dem Jungen und der Poesie möglich geworden."

    In einer weiteren Erzählung, "Der Hunger der Vergesslichkeit", geht es um deutsche Vergangenheiten. Ein Mann aus dem Westen trifft in Berlin auf einen kranken alten Mann, der sich als Geschichtsschreiber versteht, dabei aber selbst wiederholt in die Falle von Mythen und Selbstbetrügereien tappt. Auf die Frage des Rezensenten, was ihm an dieser Geschichte wichtiger sei, die Ambivalenz der Figur oder die (aufklärerische) Korrektur eines falschen Bewusstseins, reagiert Ralf Rothmann etwas indigniert:

    "Was wichtig ist an einer Geschichte, das sollte man einen Autor nie fragen. Man sollte eher den Leser fragen, was ist dir an der Geschichte wichtig!"

    Schließlich lässt der Autor sich aber doch auf eine Erklärung ein:

    "Wichtig ist mir, dass am Schluss hoffentlich sichtbar wird, es geht nicht so sehr um Ost oder West, alt oder jung, Stasi- oder Nazivergangenheit, sondern um Menschen. Die irgendwann am Schluss erkennen: Ich habe etwas falsch gemacht; und darin liegt fast schon eine Absolution. Zentral ist für mich eine kleine Stelle, die man vielleicht überlesen mag, wie die: Da hat sich auf der Stirn des kranken Mannes ein Pflaster gelöst, und der andere macht es beim Abschied wieder fest. Diese kleine Geste ist für mich eigentlich der Schlüssel zur ganzen Geschichte."

    Heißt das nun, dass das spannende Thema des Umgangs mit jüngerer Geschichte in dieser Erzählung zu vernachlässigen sei gegenüber dem freundlichen Aspekt des Allgemein-Menschlichen? Die Antwort scheint erstaunlich eindeutig zu sein:

    "Es geht sicher auch um die geschichtlichen Dimensionen. Aber die sind ja auch schon passé, wenn die Erzählung einsetzt. Deswegen geht es mir eben eher um das menschliche Miteinander und Zueinander der Protagonisten, die sich über ideologische Grenzen hinweg dann doch wieder, wenn auch vielleicht nicht die Hand reichen, so doch immerhin ein Schmunzeln schenken."

    Ralf Rothmann: "Shakespeares Hühner. Erzählungen." Suhrkamp, 212 S., 19,95 Euro.