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Weizsäcker rät zu offenen Gesprächen über US-Raketenschild

Nach Einschätzung Richard von Weizsäckers sollte über den von den USA geplanten Raketenschutzschild in Osteuropa auf Ebene der NATO wie der EU beraten werden. Solche sicherheitspolitischen Fragen dürften nicht zwischen beteiligten Staaten alleine verhandelt werden, sagte der ehemalige Bundespräsident angesichts der amerikanischen Stationierungspläne für Polen und Tschechien.

Moderation: Christoph Heinemann | 16.03.2007
    Christoph Heinemann: Angela Merkel begibt sich heute auf politisch vermintes Gelände. Die Bundeskanzlerin und EU-Ratsvorsitzende fliegt nach Warschau. Zwischen Berlin und der polnischen Hauptstadt knirscht es immer wieder. Entschädigungsforderungen, ein geplantes Zentrum gegen Vertreibung, Äußerungen der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und deutsche Außenpolitik werden in Polen schon mal zusammengerührt und als offizielle Haltung des Nachbarlandes missverstanden. Erika Steinbach bezeichnete die polnische Regierung jüngst als hoch neurotisch und verglich die polnischen Regierungsparteien mit Gruppierungen aus dem deutschen Rechtsradikalismus. Heute legt sie in der Tageszeitung "Die Welt" noch einmal nach.

    Die Polen kritisieren außerdem die geplante Gaspipeline, die von Russland durch die Ostsee an Polen vorbei nach Deutschland führen soll. In Berlin wiederum lösten Ausfälle eines polnischen Regierungsmitgliedes gegen Homosexuelle Unverständnis aus. Dessen Vater, der als Abgeordneter im Europäischen Parlament sitzt, wurde gerade vom hohen Haus wegen einer antisemitischen Hetzschrift gerügt. Und dann ist da noch die Außen- und Europapolitik; die EU-Ratsvorsitzende wird erfahren wollen, wie es die Regierung in Warschau mit der EU-Verfassung hält. Ferner wird Frau Merkel versuchen, Präsident und Regierungschef Kaczynski von einem Alleingang beim geplanten amerikanischen Raketenabwehrsystem in Osteuropa abzubringen.

    Es bedarf also viel guten Willens und der Erfahrung. Über beides verfügt Richard von Weizsäcker, der Polen kürzlich besucht hat. Ich habe den früheren Bundespräsidenten vor dieser Sendung gefragt, wie er die gegenwärtigen deutsch-polnischen Beziehungen beurteilt.

    Richard von Weizsäcker: In Polen haben wir eine neu gewählte Regierung, die sich ihrerseits in erster Linie mit der Vergangenheit in ihrem eigenen Land während der kommunistischen Herrschaft beschäftigt und die sich darüber hinaus, zweitens, einarbeitet in die Zusammenarbeit in der Europäischen Union. Über diese Themen miteinander zu sprechen, hatte mich der polnische Präsident Lech Kaczynski zu einem Gespräch eingeladen, und das habe ich neulich mit Freude angenommen und war mit ihm über drei Stunden zu zweit zusammen. Die Beziehungen in der Europäischen Union gehen voran und haben das Ziel, dass wir in allen Fragen, bei denen wir auch manchmal etwas unterschiedliche historische Erfahrungen haben, lernen, mit einer Stimme zu sprechen. Da muss jeder ein bisschen etwas dazu lernen und auch ein bisschen nachgeben. Das wird ja auch der Gegenstand des Gesprächs von Frau Merkel, wenn sie nach Polen reist und mit beiden Brüdern Kaczynski zusammentrifft.

    Heinemann: Seit Polen Mitglied der Europäischen Union ist, steht Warschau eher auf der Bremse. Nennenswerte polnische Vorschläge zur Vertiefung der Union sind nicht erinnerlich. Wie ist diese Zurückhaltung zu erklären?

    Weizsäcker: Bitteschön, wir haben nicht zuletzt durch den Erfolg der Europäischen Union und durch das Ende des Kalten Krieges natürlich einen unaufhaltsamen Erweiterungsprozess gehabt, an dem wir Deutschen uns und zumal auch in Bezug auf Polen ganz besonders aktiv und freudig beteiligt haben. Zugleich aber hatten wir die im Grunde als Voraussetzung dafür zu leistende Arbeit zur Vertiefung, das heißt zur besseren Handlungsfähigkeit innerhalb der EU, doch nicht absolviert. Mit anderen Worten: Die Polen treffen hier auf ein Aufgabenfeld, an dessen Erledigung sie nun mitarbeiten müssen, weil wir vor ihrem Beitritt das noch nicht erledigen konnten. Ich glaube, dass aber nun gerade auf diesem Gebiet auch die Polen mitarbeiten werden und natürlich auch lernen wollen, wie man das macht.

    Auf der einen Seite muss zwischen den großen und den kleinen Staaten ein gegenseitiges Verhältnis des Respekts herrschen. Auch die so genannten mittleren Staaten, also Länder in der Größenordnung von Spanien und Polen vor allem, müssen selbstverständlich zur Geltung kommen im Rahmen dessen, was sie zu sagen haben. Bitte, also diese Entscheidungsmechanismen, dass wir Schritt für Schritt einer wirklichen gemeinsamen politischen Union näher kommen wollen, dass wir lernen, in Fragen der Sicherheit oder auch der Energieversorgung mit einer Stimme zu sprechen, so wie wir es in Bezug auf den Außenhandel in der Welthandelsorganisation ja bereits geschafft haben, das steht jetzt auf der Tagesordnung, und da werden die Polen schon auch mitarbeiten. Ist doch ganz vernünftig und ganz normal, dass sie dabei ihre Wünsche zunächst anmelden.

    Heinemann: Und diesen Willen zur Mitarbeit haben Sie erkannt in Warschau?

    Weizsäcker: Ich glaube, dass das wirklich doch in Polen ebenso wie in anderen Ländern je länger desto deutlicher erkannt wird. Wir werden sowohl in Fragen der Sicherheit, insbesondere auch der militärischen oder antiterroristischen Sicherheit, wie auch in Fragen der Energieversorgung unter den EU-Mitgliedern dann etwas zustande bringen, wenn wir es gemeinsam machen. Aber nicht dass wir uns in der Energiefrage auseinander dividieren lassen durch Russland oder umgekehrt in sicherheitspolitischen Maßnahmen vielleicht auch von unserem hauptatlantischen Partner, von den Vereinigten Staaten. Mit denen werden wir ja auch weiterhin unsere Sicherheit gemeinsam gewährleisten müssen, aber gemeinsam, das heißt, USA und Europäische Union zusammen, aber nicht Amerika mit einzelnen Mitgliedern ausgesucht aus der Europäischen Union. Na gut, und das müssen wir eben jetzt besprechen und lernen und vorankommen.

    Heinemann: Sie sprachen über die Energie. War es vielleicht ein Fehler, die Polen nicht einzuweihen in das Projekt der deutsch-russischen Ostseepipeline?

    Weizsäcker: Na bitte, also dass es sich um eine Nichteinweihung handelt, ist etwas, was ich so nicht bestätigen kann. Aber bitte, ich bin ja im Ruhestand und kann das im Einzelnen nicht genau nachprüfen. Richtig ist, dass wir die Erfahrungen der Polen und der baltischen Republiken durch die lange Geschichtsperiode heraus selbstverständlich ernst nehmen müssen, die sie mit den Russen immer zu verzeichnen hatten. Und auf der anderen Seite haben wir alle miteinander auch Interessen in Bezug auf unsere Beziehung zu den Russen. Wiederum gilt das also für die Frage des Mittleren Ostens, für die Sicherheit gegenüber dem Iran, oder die Russen wollen nicht nur Energievorräte liefern, über die sie verfügen, sondern sie wollen auch sichere Abnehmer haben. Mit anderen Worten: Natürlich ist Russland keine Demokratie in unserem Sinne und wir haben vielerlei vorzubringen gegenüber den Russen, wenn wir mit ihnen sprechen. Aber die Russen sind doch nicht unser Feind, und das auch vernünftig zu lernen, gemeinsam innerhalb der EU, das ist etwas, worüber wir uns mit den Polen beraten müssen, dabei etwas lernen können, aber vorangehen müssen und uns nicht gegenseitig innerhalb der EU behindern dürfen.

    Heinemann: Herr Bundespräsident, Warschau befürwortet den amerikanischen Plan eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa. Wie sollte die Bundesregierung auf dieses Vorhaben reagieren?

    Weizsäcker: Na ja, Frau Merkel hat darauf auch schon deutlich reagiert. In Wirklichkeit sind die Fragen von Raketenabwehrsystemen große Probleme, an denen wir alle miteinander, über das wiederum, sowohl die Amerikaner wie die Russen wie die ganze EU, daran beteiligt sind. Wozu haben wir die NATO? Wozu haben wir innerhalb der Europäischen Union die ESVP, die Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit? In diesen Dingen muss das vorbesprochen werden, denn es handelt sich ja nicht darum, dass einzelne EU-Mitglieder hier besonders bedroht sind, sondern es handelt sich insgesamt darum, dass der Nichtverbreitungsvertrag, der ja einst geschlossen worden ist, auch wirklich zur Geltung kommt. Dazu muss allerdings auch beitragen, dass die atomar gerüsteten Mächte ihrerseits die Verpflichtungen erfüllen, zu denen sie sich damals bei dem Nichtverbreitungsvertrag nämlich verpflichtet haben, das heißt, selber auch abzurüsten. Bitte, das sind alles Fragen, die nicht zu einer bilateralen Sicherheitsvorkehrung zwischen zwei Staaten innerhalb der NATO führen können, sondern die wir gemeinsam miteinander erörtern müssen.

    Heinemann: Noch mal zum deutsch-polnischen Verhältnis: Sie kennen die Äußerungen von Frau Steinbach. Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb in dieser Woche, es gebe in der polnischen Regierung eine rechtsextreme Strömung. Die Zeitung fügte hinzu, Präsident und Regierungschef Kaczynski seien davon weit entfernt. Welchen Rat erteilen Sie, wie sollte man mit dieser Strömung umgehen?

    Weizsäcker: Wir haben, was die Vertreibung anbetrifft, immer davon auszugehen, entstanden ist das schreckliche menschliche Unglück der einzelnen Person, die das als persönliches Schicksal erlebt hat, dadurch dass Deutschland über Polen hergefallen ist und den ganzen Zweiten Weltkrieg entfacht hat. An seinem Ende gab es Vertreibungen sowohl von Polen aus ihrer Heimat wie auch von sehr vielen Millionen Deutschen aus ihrer Heimat. Damit fertig zu werden, ist umso besser dann möglich, wenn wir uns nicht nur der Ursachen, sondern auch der Verbindung dieser Schicksale besinnen.

    Darf ich ein kleines Beispiel nennen: Ich war neulich im Park von Muskau an der Neißegrenze. Da bin ich über eine kleine Brücke auf die polnische Seite rübergefahren, dort wurde ich vom polnischen Bürgermeister empfangen. Ich kam meinerseits mit dem deutschen Bürgermeister vom anderen Neißeufer rüber. Und dann sagte er, wissen Sie, wir vertragen uns hier deswegen so gut, weil ich, der Bürgermeister auf der polnischen Seite, ein Vertriebener aus der Ukraine bin, und mein Kollege auf der deutschen Seite, das ist ein Vertriebener aus Oberschlesien. Wir teilen diese schicksalhaften Erfahrungen, und wir wissen, dass wir uns gegenseitig respektieren können und müssen und auf diese Weise friedlich zusammenleben. Und da haben dann solche Äußerungen über die zweifellos sehr fehlerhaften Kommentare des einen oder anderen Kabinettmitglieds in der gegenwärtigen polnischen Regierung keine sehr hilfreiche Wirkung.

    Heinemann: Jetzt haben Sie die letzte Frage fast schon beantwortet: Wie kann zwischen Polen und Deutschen entstehen, was zwischen Franzosen und Deutschen geschaffen wurde, nämlich Partnerschaft und Freundschaft?

    Weizsäcker: Das wird im Zeitablauf auch möglich sein. Sehen Sie, Frankreich hatte ein großes Interesse daran, gleich nach dem Kriege gemeinsam mit der Bundesrepublik Deutschland und vier anderen Partnern schnell eine europäische Gemeinschaft aufzubauen und auf diese Weise auch wieder unter französischer Führung eine Stimme zur Geltung zu bringen in einem weltpolitischen Sinn. Polen gegenüber zu dieser Art von Verständigung zu kommen, war von vorneherein viel schwerer. In Polen waren die Hauptschäden entstanden. Die Schäden, die den Deutschen zugefügt worden sind, kamen auch in erster Linie vom Osten her auf uns zu und nicht vom Westen. Und deswegen haben wir ja Jahrzehnte noch gebraucht, um schließlich auch die neue Westgrenze Polens anzuerkennen. Das war doch mit Recht eine Frage, die die ganze Bevölkerung auch tief bewegt und erregt hat. Aber wir haben es dann zum Glück mit der Ost- und Entspannungspolitik geschafft.

    So, jetzt sind wir eben erst am Ende des Kalten Krieges zum ersten Mal in dem Zustand, dass wir Deutschen hier in der Mitte Europas mit allen unseren Nachbarn und insbesondere auch mit unseren östlichen Nachbarn in einer Form zusammenleben können, wo keiner vor dem anderen Angst hat und keiner den anderen bedroht. Und auf diesem Wege, wenn da hinzukommt die gemeinsame Einsicht unserer Handlungsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung dann, wenn wir zusammen arbeiten, dann entsteht daraus auch ein wirkliches Entspannungsverhältnis oder ein Nachbarschaftsverhältnis, wie wir es zwischen den Polen und den Deutschen ohne jeden Zweifel brauchen und woran, wenn ich das noch hinzufügen darf, auch mir persönlich, solange ich in der Politik tätig gewesen bin, immer ganz besonders viel gelegen ist.

    Heinemann: Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Das Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.