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Weniger wäre hier mehr gewesen

Alina Bronsky hat ihren zweiten Roman - mit guter Absicht zwar - aber dennoch überfrachtet. Nur mit Mühe folgt man den Lebensläufen der drei Frauen und es kostet wahrlich Mühe, bis zum Schluss durchzuhalten.

Von Oliver Seppelfricke | 19.01.2011
    Eines ist klar, wenn man Alina Bronskys Roman mit dem Titel "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche" in die Hand nimmt und aufschlägt: Erstens: Er ist sehr dick, eng bedruckte 319 Seiten, aus denen sich bei höherem Schriftgrad und größerem Zeilenabstand ohne Probleme 400 Seiten machen ließen; und zweitens: Die Sprache ist eine andere als im Debüt "Scherbenpark". Sie ist weniger schnoddrig, weniger auf Slang und Geschwindigkeit angelegt, sie ist ruhiger und behutsamer geworden. Liegt es daran, dass die Autorin älter geworden ist und Kinder bekommen hat? Dass sie gar gesetzter geworden ist? Alina Bronsky verneint:

    "Ich würde eher sagen, das liegt daran, dass die Hauptfigur also nicht älter geworden ist, aber einfach eine andere Generation ist. Es geht ja nicht um meine Sprachvorlieben als um einen authentischen Tonfall. Und eine Großmutter, die am Anfang des Buchs 40 ist und am Ende 70, spricht nicht ganz so wie eine 17-Jährige. Das wäre ja auch verdächtig gewesen."

    Als meine Tochter Sulfia mir sagte, sie sei schwanger, wisse aber nicht, von wem, habe ich verstärkt auf meine Haltung geachtet. Ich hielt meinen Rücken sehr gerade und die Hände würdevoll im Schoß gefaltet.
    Sulfia saß auf einem Küchenhocker. Ihre Schultern waren hässlich hoch gezogen und die Augen rot, weil sie die Tränen nicht einfach laufen ließ, sondern mit dem Handrücken im Gesicht verrieb. Und das, ob wohl ich sie von klein auf gelehrt hatte, wie man weint, ohne hässlich zu werden, und wie man lächelt, ohne zu viel zu versprechen. Aber Sulfia war nicht begabt. Ich muss so gar sagen, sie war ziemlich dumm. Dabei war sie meine Tochter, schlimmer noch, sie war meine einzige Tochter. Aber als ich sie so an sah, wie sie mit krummem Rücken und laufender Nase auf dem Sitz hockte wie ein Wellensittich auf der Stange, da hatte ich gemischte Gefühle. Am liebsten hätte ich sie angeschrien: "Halt den Rücken gerade! Schnief nicht! Guck nicht so blöd! Versuch doch mal, nicht zu schielen!"
    Aber sie tat mir auch leid. Sie war ja irgendwie doch meine Tochter. Eine andere habe ich nicht bekommen, auch keinen Sohn, denn mein Leib war seit vielen Jahren innen hohl und unfruchtbar wie der Sand in der Wüste. Und diese Tochter, die ich bekommen hatte, war verunstaltet und passte nicht so recht zu mir. Sie war klein und ging mir bis zur Schulter. Sie hatte überhaupt keine Figur und kleine Augen und einen schiefen Mund. Dumm war sie, wie gesagt, auch. Sie war schon 17 Jahre alt, und es bestand keine Hoffnung, dass sie noch mal klüger werden würde.


    So beginnt der Roman "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche". Rosalinda Kalganowa, die Hauptfigur und Ich-Erzählerin in dem Werk, ist die Großmutter, die ihre eigene Lebensgeschichte über drei Generationen hinweg erzählt. In einem Artikel für die FAZ im September hat Alina Bronsky davon berichtet, dass sie ihre eigene Großmutter vom Frankfurter Flughafen abgeholt habe. Die beiden hätten sich sechszehneinhalb Jahre lang nicht gesehen, nur miteinander telefoniert, jetzt seien beide gespannt, wie die andere in Wirklichkeit aussieht und wie sich verhält. Und Alina Bronsky gibt zu, dass sie auf das Urteil der Großmutter über die Großmutter im Roman sehr gespannt sei. Pate gestanden habe diese für die Hauptfigur nämlich nur bedingt. Alina Bronsky:

    "Ja, da muss ich sehr aufpassen. Die Hauptfigur im Buch ist natürlich keine rundum sympathische. Sie ist eine ziemliche Tyrannin. Insofern habe ich nicht damit meine Großmutter porträtiert. Aber einige Charakterzüge, was den Überlebenswillen angeht. Was auch einen bestimmten Wortwitz angeht, was auch die Neigung zu scharfen Urteilen angeht. Das habe ich oft bei meiner Großmutter erlebt, als auch bei anderen Frauen dieser Generation, die so um mich herum waren."

    Rosalinda Kalganowa, die Ich-Erzählerin im Werk, beginnt ihre Lebensbeschreibung mit der Schwangerschaft ihrer Tochter Sulfia. Begeistert ist sie nicht darüber, Großmutter zu werden, doch das Leben nimmt seinen Lauf. Denn verhindern lässt sich die Schwangerschaft nicht mehr. Rosalinda hat zwar eine Abtreibung arrangiert, Klavdia, die angeblich in einer Entbindungsklinik arbeitet, aber nach Meinung Rosalindas höchstens als Putzfrau dort tätig ist, soll sie durchführen. Mit Erfolg. Doch da Sulfia mit Zwillingen schwanger ist, wird nur einer der beiden Embryonen abgetötet. Der zweite lebt. Und Rosalinda versucht vor allem ihrem Mann zu erklären, wie ihre Tochter schwanger geworden sei. Sie gibt ihm eine Traumzeugung als Grund vor. Doch sie weiß, dass das nicht überzeugen wird. Das Kind kommt zur Welt, wird Aminat genannt, und Alina Bronsky läßt Rosalinda auf gut 320 Seiten ihr Leben davor und danach Revue passieren. Frauenschicksale in Russland. Das Ganze umfasst dreißig Jahre, von der Nachkriegszeit in Russland bis zu unseren Tagen in Deutschland.

    "Ja das war für mich eine selbstverständliche Konstellation für einen Familienroman. Denn eine Großmutter brauchte erstens eine Tochter, zweitens mindestens eine Enkelin, und dann wollte ich so ein Frauentrio daraus machen. Weil das nicht die einfachste Konstellation ist und auch eine anfällige. Und auch damals in Russland so eine schwache war. Weil ohne einen starken Mann an der Seite ging es einer Frau damals nicht immer nur gut. Und deswegen habe ich mich dafür entschieden."

    Ich sperrte mich auf der Toilette ein und ließ die Tränen laufen, laut los, da mit man mich nicht hörte, da mit die Augen nicht rot wurden. Sulfia saß auf einem Hocker in der Küche, streichelte ihren Bauch, lächelte kuhäugig und kaute Käsebrote, Wurstbrote, frische Gurken, die ich auf dem Markt gekauft hatte, saure Gurken, die ich im Sommer eingelegt hatte, Essigtomaten, Äpfel, ein Stück Apfelkuchen, eine Schüssel Landquark und einen großen Teller Grießbrei mit Rosinen.
    Da ich wusste, dass mein Mann uns die Geschichte mit der Traumzeugung nicht glauben würde, sagte ich ihm einfach, Sulfia sei vom Nachbarn zwei Stockwerke über uns vergewaltigt worden. Der Nachbar war mit dem wichtigsten Vorgesetzten meines Mannes verwandt. Danach sagte Kalganow gar nichts mehr, nicht zu mir, nicht zu Sulfia und auch nicht zum Nachbarn, und wir begannen, auf das Kind zu warten, niemals die leise Hoffnung aufgebend, dass irgend eine hilfreiche Kalamität, eine Krankheit oder ein medizinischer Pfusch, doch noch dazwischen kommen würde.


    Alina Bronsky lässt ihre Ich-Erzählerin Rosalinda deren Familienchronik so vortragen, dass man als Leser häufig nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Mal ist es schockierend, wie Rosalinda über ihre Familienmitglieder urteilt, mal scheint Ironie durch, vor allem dann, wenn Rosalinda über die Lebensverhältnisse in Russland berichtet. Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie? Alina Bronsky hat darauf nur eine Antwort:

    "Das muss der Leser entscheiden. Jemand hat ja gesagt, eine Tragödie ist das für jemanden, der viel fühlt, und eine Komödie für jemanden, der denkt. Ich bringe das Zitat nicht mehr ganz zusammen. Ich freue mich, wenn es beides ist. Natürlich sind da sehr tragische Ereignisse beschrieben. Aber ich erlebe auch, es wird sehr viel gelacht in meinen Lesungen. Und irgendwie freut es mich dann auch, denn sonst wäre es ja unerträglich gewesen."

    Unerträglich ist das Ende des Romans. Rosalinda, die erzählende Patriarchin tatarischer Abstammung, ist in Deutschland als Putzfrau angekommen, ihre Konsequenz im Leben hat sie dorthin geführt, Sulfia, die einzige Tochter, ist tot, und die Enkelin wird im Fernsehen als "tatarisches Wunderkind" und Magermodel vorgeführt. Das ist ziemlich viel Stoff für 320 Seiten! Zu viel gar! Alina Bronsky hat ihren zweiten Roman mit guter Absicht zwar, aber dennoch überfrachtet. Nur mit Mühe folgt man den Lebensläufen der drei Frauen, Männer kommen gar nur als komische und traurige Gestalten vor, und es kostet wahrlich Mühe, um bis zum Schluss durchzuhalten. Mühe und Kraft, die mit vielen Kapriolen in der Handlung immer wieder aufgelockert, aber doch spürbar werden, wenn man mit dem Erzähltempo Schritt halten will. Die Erzählerin springt zwischen den Zeiten, Ereignissen und Personen hin und her, für den Leser ist das anstrengend. Zu anstrengend. Es gilt die alte Tugend: Weniger wäre hier mehr gewesen!

    Alina Bronsky: "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche". KiWi, 319 Seiten, Euro 18,95