Dienstag, 14. Mai 2024

Archiv


Wider den Triumph der Jugend

Der alte Herr, von dem Gerhard Köpf in seiner Novelle erzählt, lebt allein, in schöner Zurückgezogenheit, in einem behaglichen Haus. Zeitlebens hat er sich als Geisteswissenschaftler mit den schönen Dingen des Lebens befasst, mit Kunst und Literatur, mit Musik und immer wieder mit Büchern.

Von Harro Zimmermann | 13.12.2006
    Eine Reihe bekannter Schriften hat er selber verfasst. Diese stille Einkehr genießt der Professor seit Jahren, nur seine Haushälterin duldet er um sich, gelegentlich konsultiert er einen Arzt. Der alte Herr mag die Außenwelt nicht besonders, den tosenden Großstadtbetrieb, die jungen Ehepaare mit ihren vierrädrigen Vehikeln, in denen schreiende Kinder kauern. Seine Empfindsamkeit war schon immer erheblich, doch ist sie in den letzten Jahren beständig größer geworden, manchmal nimmt sie groteske Züge an:

    "Nicht die Mitglieder von Al Kaida, nicht Osama Bin Laden oder die letzten Versprengten von Oberst Khadafi, nicht die ETA und nicht die IRA, sondern harmlos erscheinende junge Väter und Mütter, die strotzend vor Stolz ihre Brut der Umwelt zumuten und der Frischluft aussetzen, sind die wahren Terroristen. Mit ihren Kindskutschen, die mehr und mehr Unheil bringenden Tarnkappenpanzern gleichen, walzen sie alles nieder, was ihren Weg kreuzt, und sie hinterlassen eine blutige Spur des Verderbens unter uns Alten und Gebrechlichen". "

    Der feinnervige Professor leidet unter diesem Triumph der Jugend über das Alter. Schweißgebadet wacht er manchmal aus Angstträumen auf, in denen er sich als Opfer von Attentaten erlebt, dann wieder grämt er sich wegen solcher hysterischen Anwandlungen - sein zunehmendes "Depressionat" macht ihm Sorgen. Draußen tobt die Barbarei und drinnen kultiviert er eine "hoffnungslos unangebrachte Contenance". Kein Wunder, dass dieser Lebenszustand immer wieder in einer "äußerst angestrengten Affektinkontinenz" zum Ausbruch kommt. Sprich: der Professor neigt zu auffahrendem Jähzorn, wenn er nicht gerade in den trüben Nebeln periodisch wiederkehrender Melancholien versinkt. Kann dieser Doktor Luca Locollo, sein Hausarzt, ihm wirklich helfen?

    " "Nach den diagnostischen Kriterien der Weltgesundheitsorganisation WHO könnte durchaus der Verdacht auf PTSD aufkommen.

    Ich leide an keinem, PT-Dingsbums, sondern an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Habe ich doch gleich gesagt, oder?
    So beruhige dich doch, lieber Freund, wir Mediziner nennen die posttraumatische Belastungsstörung eben PTSD, kommt von Post Traumatic Stress Disorder.

    Ihr seid wohl alle vom amerikanischen Affen gebissen, maulte der Professor. Und was gedenkst du nun zu tun? Willst du mir nicht irgendwelche Pillen aus Deinem Giftschrank verschreiben, die meine Persönlichkeit verändern, wenn nicht gar zerstören. Wie heißt doch eure euphemistische Bezeichnung dafür? Psychopharmaka."

    Der Professor weiß es besser. Er gehöre, sagt er, einer unglückseligen Generation zwischen den alten und den neuen Zeiten an. Viel eher leide er deshalb an einer "posttraumatischen Verbitterungsstörung", was nicht verwunderlich sei angesichts jenes tosenden jugendlichen Lebens rundherum, das ihm vorkommt wie eine umfassende Verschwörung gegen das Alter. Nahezu körperlich verspürt der Professor seine tiefer werdende Resignation und Depression, sein sinkendes Selbstwerterleben, seine inneren Schuldzuweisungen. Und dennoch, über einige Strecken in dieser Novelle kann er seine Contenance dagegen setzen, entkommt er der Routine des Resignierens und übt sich in der "würdevollen Kunst des Verschmerzens". Aber Demut und Dankbarkeit als innere Widerstandskräfte müssen Tag für Tag erkämpft werden, wenn man sich als ein in die "fremde Gegenwart verschlepptes Stück Vergangenheit" begreift. Nur selten glaubt der Professor seine Lebenssituation "lichter" sehen zu dürfen, überraschend möchte er sich selbst dann noch einmal "auswildern" und mitten hineinstoßen in eine Welt, die immer weniger Sinn für Anstand, Bildung, Eleganz und Noblesse besitzt. Doch sein geistesverwandter Autor Gerhard Köpf lässt wenig Zweifel daran, dass diesem alten Mann das "Verweile doch, du bist so schön" nur noch als Hoffnung, als flüchtige Besessenheit erfahrbar ist. Der letzte Versuch des Professors, sich einer bekannten Dame erotisch zu nähern, scheitert kläglich, ja, er wird zum Auslöser einer finalen Krisis. Gerhard Köpf beschreibt dieses unerhörte Lebensereignis eindrucksvoll als zunehmende Konfusion und Vergesslichkeit seines Helden, dem nun eine "Wirrnis von Angst und Niedergeschlagenheit" widerfährt, die tief greifende Veränderungen seiner Persönlichkeit - einem inneren Beben gleich - ankündigt. Am Ende bleibt dem alten Herrn nur eine Hoffnung, sie hängt zusammen mit der geschriebenen Kunst, mit einer Hommage an die Bücher und das Lesen. Welches Buch, so fragt er sich, nähme er wohl am liebsten mit auf eine einsame Insel?

    "Es sollten drei Blindbände sein, in die er seine eigenen Erfahrungen und Gedanken schreiben würde. Darin könnte ich meine Hoffnungen begraben und mir erzählend die Aufwartung machen. Hinter dieser Barrikade könnte ich lügen wie gedruckt und wissen: solange ich lese, gibt es mich noch. Ich könnte in dem Buch leben, aus dem ich nicht mehr herausfinden will. Lesend könnte ich mich erfinden und mein Leben lesen, anstatt es mühsam hakenschlagend leben zu müssen. Lesend hielte ich mir den Tod vom Leib, die Einsamkeit und alles Endgültige. Lesend träumte ich das Unfassliche. Es würde für mich anschaulich"

    Ein Buch ohne Anfang und Ende, ein labyrinthischer Imaginationsraum entsteht nun im Kopf des allmählich von der Welt scheidenden Professors, schreibend und lesend werden ihm die Schatten des letzten Augenblicks vorstellbar. Und dann löst sich seine Zerstreutheit und Vergesslichkeit auf in tanzende Buchstaben, jeder Sinn verflüchtigt sich. Sein Zeitgefühl, seine Ich- und Weltverbindungen zerfallen, die schleichende Enteignung seiner Sprache ist unaufhaltsam.

    Nüchtern nimmt sich am Ende der ärztliche Befund zu diesem Fall aus. Doch den "bitteren Weg" des Professors in die "Finsternis" ist der Leser derweil beeindruckt mitgegangen. Mit kunstreicher Empathie, in einer federnden, und doch ältlich patinierten Sprache hat Gerhard Köpf gezeigt, wie ein beredtes Leben an der Grenze zur Wortlosigkeit in sich zusammensinkt. Wie so oft in seinem Werk ist von einem Helden die Rede, der sich am Ende zum Verschwinden bringt, sich verliert in närrischen Lesephantasien, in verschrobenen Einbildungen oder eben im biologischen Finale. Weit liegt heute das heiter-melancholische, nicht selten satirisch gestimmte Erzählörtchen "Thulsern" hinter dem Autor Köpf zurück, auch zu postmodernen Sprach- und Erzählspielereien fehlt ihm dieses Mal die Laune. Der "alte Herr" verliert sich nicht in intertextuellen Wortexperimenten, sondern im realen Leben. Schreiben, so hat Gerhard Köpf einmal formuliert, sei die "Kunst der Einsamen, der Verletzlichen, die sich in sich selbst verkapseln". Ganz so wie der alte Herr. Aber ist nicht das Leben überhaupt - wie die Literatur - ein pathologischer Fall? fragt uns Gerhard Köpf.

    Gerhard Köpf:
    "Ein alter Herr"
    (Verlag Klöpfer & Meyer).