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Wider die Fixierung auf die Shoa

Juden, raus aus der Opferrolle! Das fordert der Wiener Publizist Peter Menasse in seiner viel beachteten Streitschrift "Rede an uns". Die Antisemitismus-Keule gehöre weggepackt. Kritik an Israel oder an bestimmten Aspekten der israelischen Politik müsse auch für Nichtjuden möglich sein.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Peter Menasse, 65, ist kein Unbekannter in der jüdischen Community Wiens. Sein Vater wurde 1938, als Halbwüchsiger, mit einem der berühmten "Kindertransporte" der Quäker nach England geschickt und überlebte dort, wie auch Menasses Mutter, die Shoa. Nach dem Krieg kehrten Menasses Eltern nach Wien zurück, um am Aufbau eines neuen, demokratischen Österreich mitzuwirken. Das heißt: Peter Menasse, Jahrgang 1947, ist Angehöriger der "Zweiten Generation". Als Chefredakteur der jüdischen Vierteljahreszeitschrift "Nu" ist der Cousin der Schriftsteller Eva und Robert Menasse eine nicht ganz unumstrittene, jedenfalls aber einflussreiche Persönlichkeit in der jüdischen Gemeinde Wiens. Dass er flott und provokant zu formulieren versteht, beweist Peter Menasse in seiner Streitschrift "Rede an uns" auf das Anschaulichste. Die europäischen Juden sollten ihre retrospektive Fixierung auf die Shoah endlich aufgeben, fordert Menasse:

    "Juden, die sich ständig als Opfer gerieren, benehmen sich wie kleine Kinder, die auf den Tisch klettern und brüllen, wenn ihnen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sie nerven."

    Peter Menasse: "Man muss einmal sagen, dass es nur mehr wenige gibt, die tatsächlich Opfer der Shoah waren. Denen gebührt aller Respekt, das waren Opfer. Manche aus der zweiten Generation leiden auch noch stark unter den Erfahrungen ihrer Eltern. Aber alle anderen sind ja keine Opfer, und es ist ihnen auch anzuraten, den Blick von der Vergangenheit hin in die Zukunft zu richten, sich wirklich um 180 Grad umzudrehen und nach vorne zu schauen."

    Peter Menasse greift eine Diskussion auf, die in Israel, ausgehend von dem Publizisten Avraham Burg und anderen Intellektuellen, schon länger geführt wird. Die Fixierung auf den Holocaust schade der jüdischen Sache und dem Selbstbewusstsein der Jüdinnen und Juden, diagnostizieren diese Autoren. Psychohygienische Argumente sind es auch, die Menasse in seiner Streitschrift ins Treffen führt.

    "Jeder blöde Bursche, der dumme Parolen krakeelt, ohne zu wissen, was er da von sich gibt, wird zur großen Gefahr hochstilisiert, und bei jeder Diskussion, sei es zur Beschneidung oder zu dümmlichen Ansagen rechter Politiker, wird die Shoah hervorgeholt. Wenn wir Juden alles ernst nehmen, was uns da an Idiotie vorgesetzt wird, enden wir in einer tiefen, lähmenden Depression."

    Die Antisemitismus-Keule, zu der man in Deutschland und Österreich gerne greift, um etwa Einwände gegen die israelische Außenpolitik zum Verstummen zu bringen, diese Antisemitismus-Keule gehört Peter Menasses Einschätzung nach mit sofortiger Wirkung weggepackt. Menasse hat, typisch wienerisch, eine passende Anekdote zum Thema parat:

    "Rudi Wein, Jude und ein Wiener Original, pflegte, wenn er beim Kartenspiel – und zwar beim österreichischen Nationalspiel 'Schnapsen' – verlor, die Karten auf den Tisch zu werfen und zu rufen: 'Pogrom!' Er meinte das als Spaß und persiflierte damit eine Haltung, die manche Juden einnehmen: nämlich, dass alles, was ihnen schiefgeht, als Machwerk der Antisemiten gesehen wird."

    "Wir sind die Nachkommen von Gustav Mahler und Leonard Bernstein",

    schreibt Menasse:

    "… von Heinrich Heine und Stefan Zweig, von Karl Kraus und Sigmund Freud, von Karl Landsteiner und Albert Einstein, von den Marx Brothers und Samuel Goldwyn. Dieses Vermächtnis müssen wir pflegen und fortsetzen. Wir müssen die Bürde der Opferrolle ablegen."

    Kritik an Israel, oder an bestimmten Aspekten der israelischen Politik, müsse auch für Gois – also für Nichtjuden - möglich sein, befindet Peter Menasse. Der Autor setzt sich in seinem Essay auch mit Günter Grass' heiß umstrittenen Israel-Gedichten auseinander:

    "Ich habe Günter Grass immer sehr verehrt, er hat ein großes Werk geschaffen, aber ein wenig muss man den Eindruck haben, dass er sich als alter Mann immer mehr seiner nicht so netten jugendlichen Wurzeln besinnt, die er aufgedeckt hat."

    Israel zum atomaren Aggressor hoch zu schreiben, der den Weltfrieden gefährde, wie Grass es getan habe, gehe an den Realitäten vorbei, meint Menasse:

    "Was nun sein Gedicht zu Israel und dem Iran betrifft, so sehe ich die Aggression eindeutig vonseiten des Iran kommen. Dorther kommt die Gefahr, von dort kommen Äußerungen, von wegen: Man wird alle Juden ins Meer werfen und Ähnliches. Vor dem Iran müssen sich nicht nur die Juden fürchten, vor dem Iran muss sich meiner Ansicht nach die ganze westliche Welt fürchten."

    Peter Menasse führt eine gewandte Feder. Teilweise kommt seine Streitschrift nicht ganz unprovokant daher, wie es sich für eine Streitschrift gehört, aber im Großen und Ganzen bemüht sich der gelernte PR-Fachmann um eine differenzierte und differenzierende Position. Bedenkenswert sind Menasses Argumente allemal. Und wer wollte dem diskussionsfreudigen Mittsechziger ernsthaft widersprechen, wenn er über die deutschen und österreichischen Juden schreibt:

    "Wir sind heute keine Opfer, wir sind aufrechte Juden, von denen die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht profitiert. Wir brauchen kein Mitleid und wir bekommen auch keines. Wir sollten uns auf unsere eigene Kraft verlassen."

    Peter Menasse: Rede an uns.
    Verlag edition a, 112 Seiten, 14,90 Euro
    ISBN: 978-3-990-01053-2