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Wie im Wilden Westen

Die Fälle von Selbstjustiz in Russland häufen sich. Wer selbst Rache nimmt, kann auf Sympathie zählen, wer eine Anzeige bei der Polizei erstattet, gilt dagegen als Denunziant. Vonseiten der Kirchenvertreter, Politiker und Menschenrechtler herrscht Schweigen.

Von Heide Rasche | 14.08.2013
    Einer der weltweit wohl bekanntesten Fälle von russischer Selbstjustiz liegt fast zehn Jahre zurück: Vitali Kalojew hatte bei einem Flugzeugabsturz über dem Bodensee seine Frau und seine beiden Kinder verloren und erstach einen Schweizer Fluglotsen, den er für die Tragödie verantwortlich machte, bei der insgesamt 71 Menschen ums Leben kamen. Kalojew wurde in der Schweiz verurteilt, saß dort seine Gefängnisstrafe ab und kehrte nach Hause zurück. Dort wurde er als Held gefeiert und stellvertretender Bauminister in der russischen Teilrepublik Nordossetien.

    Für Politologen und Soziologen ist Selbstjustiz kein neues Phänomen in Russland. Ein wichtiger Grund ist für Alexej Lewinson, Soziologe beim unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada, das weitverbreitete Misstrauen der Russen gegenüber der Justiz. Bei einer aktuellen Umfrage gaben mehr als 60 Prozent der Befragten an, einfache Bürger könnten in einem Prozess nicht auf ein gerechtes Urteil hoffen. Von daher, so glaubt Levinson, sei es aus Sicht vieler Beteiligter leichter, zu Selbstjustiz zu greifen.

    "In Ländern, wo Justiz und Polizei effektiv, schnell und sauber arbeiten, gibt es keine Notwendigkeit etwas per Lynchjustiz zu klären."

    Die allgemeine Stimmung im Land fördert solche Einstellungen, genauso wie die der Blick in die leidvolle Geschichte des Landes. Partisanen, das waren die Guten, die im Krieg gegen den Feind gekämpft haben, ohne Gerichte, ohne Polizei. In dieser Tradition sieht sich auch eine Gruppe junger Leute im Fernen Osten. Sie nannten sich Fernost-Partisanen und erklärten der korrupten Miliz den Krieg, ermordeten zwei Milizionäre. Das Verfahren läuft noch, die Bevölkerung steht hinter den jungen Leuten, weiß Alexej Levinson.

    "Wir haben Umfragen dazu gemacht und ich muss sagen, dass viele Befragte russlandweit die Partisanen im Fernen Osten unterstützt haben. In der betroffenen Region selbst war die Unterstützung noch größer. Weil die Tätigkeit der Miliz als kriminell wahrgenommen wurde."

    Und wenn selbst russisch-orthodoxe Kirchenvertreter wie der Priester einer Moskauer Gemeinde explizit zur Selbstjustiz aufrufen gegen – so wörtlich - Gotteslästerer mit ihren Exzessen, ist es eigentlich kein Wunder, dass die offizielle Kirche zu Lynchjustiz und persönlichen Rachefeldzügen schweigt. Aus Sicht von Alexej Lewinson hat das aber auch noch andere – für ihn sehr nachvollziehbare – Gründe.

    "Unsere Kirche kann sich nicht einschalten, sie kann nur beruhigen. Es hat keinen Sinn in Situationen, in denen nicht klar ist, wer recht hat und wer unrecht. Die Kirche kann sich da nicht äußern."

    Auch Politiker und Menschenrechtler schweigen allzu häufig nach Fällen von Selbstjustiz, sei es gegen Kriminelle, gegen korrupte Polizisten oder auch gegen Minderheiten wie Homosexuelle oder Migranten. Für Alexej Lewinson hat das allgemeine Schweigen oder Wegschauen auch historische Gründe.

    "Unseren Mentalität nach würden wir lieber versuchen persönlich alles zu klären, wenn es klar ist, dass dieser Mensch schuldig ist. Und wenn es keinen Sinn hat, das mit ihm persönlich zu klären, dann würden wir uns ganz abwenden. Die Polizei rufen, das machen ganz wenige bei uns. Viele würden sagen: Das geht mich nichts an. Verstehen Sie, bei uns haben Falschanzeigen eine so große Rolle gespielt."

    Eine Anzeige bei der Polizei sei bei vielen Russen nach wie vor als Denunziantentum verrufen. Stattdessen griffen sie lieber selbst zur Waffe, so manch einer lebt nach Überzeugung des Soziologen eben noch heute in einer Gedankenwelt, wie die Amerikaner im 19. Jahrhundert, im Wilden Westen.