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Wie wird man Romanschriftsteller?

Wie wird man Schriftsteller, ja, schärfer gefragt, Romanschriftsteller? Am besten wohl, indem man alle Hoffnung fahren lässt und die Angst vor der weißen Seite zur Angstlust wendet. Oder indem man, wie Karla Distelkamp in dem Roman "Die Aufgeregten", die Schreibschule von Elena und Glen Kullen besucht und alle dort postulierten Regeln und Gebote gründlich auf den Kopf stellt.

Von Hanns Zischler | 09.06.2005
    "Nehmen Sie sich irgendeinen noch so banalen Gegenstand, eine Tasche, einen Schuh, greifen Sie ihn an, zeigen Sie ihm die Zähne..." verkündet die kreative Frau Kullen, und Karla Distelkamp macht sich an die Arbeit: "Ihre Gedanken kehrten, entzündet wie durch ein Brennglas, immer wieder zu ihrem Vorhaben zurück."

    Gesagt, getan, nein geschrieben. In einem unwirtlichen Gelände hinter der Rostlaube ("Nirosta") der Berliner Freien Universität– "Natur auf dem Vormarsch, Natur auf dem Rückmarsch" –, das die Bodenlosigkeit und Fährnisse des Erkundens wie des Schreibens gleichermaßen veranschaulicht, verliert Karla bei einem dämlichen Sturz das mitgeführte Exemplum, den noch unbeschriebenen Schuh. Und sie entdeckt, als sie nach ihm sucht, eine Leiche. Ein riesiges Sujet tut sich unversehens vor ihr auf: Schauplatz, Tatort, Zeugenschaft und das unvermeidliche Eintreffen eines Hundes (samt Spaziergänger), die Szene weitet sich im Handumdrehen zu einer grotesken Anhörung, in der Karla nolens volens ihre wackliges Berufsbild "Schriftstellerin" zu Protokoll geben muss – mit dem halbgaren Anhängsel: "ich würde es gern werden".

    Aber ich greife vor. Bis es zu dieser hochkomischen, peinlichen Szene kommt, sind wir bereits mit Karlas Welt recht gut vertraut, haben uns eingerichtet in einem geräumigen Roman, der – von einem melancholischen Abstecher ins Braunschweigsche abgesehen – in einem fremd vertrauten Westberlin zwischen Larnaca Allee und Sargasso Platz spielt. Dort hausen jene alt und älter gewordenen Herren und Damen wie in einem Gehege (was Westberlin ja unbestritten war), das sie um nichts in der Welt verlassen wollen. Henks Mühle, eine Art verstädterter Domäne, heißt das Anwesen, auf dem sie ihre Idiosynkrasien pflegen und verfeinern können. Und außer von Karlas ausschweifendem Schreibradar, das auf eine heute verpönte "vorpsychologische Zeit" getrimmt ist, werden sie gelegentlich auch von der sanft mokanten Supervision ihrer Freundin Ella Hermann erfasst. Ehe wir uns versehen haben wir auch schon - klarer Verstoß gegen die Kullensche Regel Nummer 3 "Du sollst keine besonders originellen Namen verwenden" - Friedrich Tergeune, Seppelainen, Waltraud Andermatte, Auwacki (ihm verdanken wir die berlinische Berufsbezeichnung seiner Mutter: "Jet ne"n" [Geht nähen]), Manfred "Manne" Mahnke und die unsägliche Maklerin Eleonore Redden kennen gelernt. Und seltsam, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, es ist, als kämen diese Figuren und was sie an Merkwürdigkeiten und sonderbaren Redensarten mit sich führen, wie gerufen.

    Über dem wachsenden Lesevergnügen, den elastischen Bezirk dieser abgeklärt Aufgeregten kennen zu lernen, hat man Frau Distelkamps Schreibschwierigkeiten aus den Augen verloren, nein, erst ihre scheinbar kunstlos verstreuten Zumutungen und Selbstbezichtigungen haben uns rasch immer tiefer in den Roman hineingezogen, so dass wir recht bald und frohgemut einem weiteren Regelverstoß zustimmen: "Du sollst die Vorstellungskraft des Lesers nicht vergewaltigen".

    Die Prosa von Karin Kersten – ich muss gestehen, dass ich bis zu diesem Roman nur ihre zart komische Nonsens-Poesie gekannt habe – beherrscht die sanfte Überrumpelung, den Kunstgriff, mit unwahrscheinlichen Situationen aufzuwarten und uns auf deren Lösung neugierig zu machen. So zum Beispiel, wenn Ella Hermann in einer Art Lackmus-Test für die werdende Autorin Distelkamp das aus Russland importierte, kapielskiverdächtige Projekt des "Großen Groschenromans" aufs Tapet bringt: "reißerisch aufgemachte, reißerisch zusammen geklierte Geschichten von Liebe und Gewalt, die ihren Lesern, bei eifrigem Gebrauch, ein dringend erwünschtes zweites Leben ermöglichen." Die schiere Not lässt Karla diesem Vorhaben zustimmen. Wie gewünscht, kasteit sie sich vor den Augen der gesamten Mühle für die Niederschrift des Machwerks. Der erste Entwurf für diesen Großen Groschenroman ist – wie für große Literatur nicht anders zu erwarten – die Karte einer imaginären Landschaft: "Karla schnalzte vor Erwartungsfreude, doch waren es letztlich eher die Wonnen der Erinnerung an längst geschriebene Romane der Weltliteratur, die sie bewogen, ihrer imaginären Landkarte noch eine Weile nachzuhängen." Und wieselflink zieht sie uns am Schnürchen dieser nostalgischen Leseerinnerungen in das Realsubstrat eines ihr vertrauten Geländes. "Sollte dieser erste Große Groschenroman nach russischem Muster etwa in der Heide spielen? Karla schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Das war die Landschaft. Wacholder. Erika. Wackersteine. Hitze. Sand. Fliegengesurr. Heidschnucken. Truppenübungsplätze. Safariparks. Na, da war ja einiges los. Und ganz nebenbei kannte sie sich dort aus."

    Karla und Ella fahren – immer die Fata Morgana des Großen Groschenromans vor Augen - in die Heide. Seit Arno Schmidt hat man keine derart weltentrückte Heidelandschaft mehr lesend durchwandert, in der versandende Fluss- und Flurnamen sich - in Orffscher Manier dröhnend -reimen. Der seltsame und für den Leser verzaubernde Moment entspringt immer wieder aus dem Vermögen der Autorin, diese öde und fast erinnerungsresistente Landschaft so vor uns aufzuschlagen, dass wir auch den abstrusesten Situationen zu folgen bereit sind. Diese in der deutschen Literatur seltene, sachte und gewitzte Manier der Überwältigung durch einen aus der Funktionalen gekippten Realismus erinnert an russische Schriftsteller wie Andrei Sinjavski ("Die Graphomanen") oder Sascha Sokolov ("Die Schule der Dummen"), bei denen das Hochkomische, das Banale und das Lächerliche (der Situation) von der Melancholie (der Betrachtung) durchdrungen und noch gesteigert wird. Angesichts von Karlas kläglichen Versuchen "Material für einen Reißer" zu finden, hakt Ella, nachdem sie die bis dahin mühsam zusammengeklaubten Vorschläge abserviert hat, nach: "Sonst noch was?" "Einmal ist eine Thermosflasche runter gefallen, auf der Straße, beim Aussteigen, und war kaputt." "Och nee, Karla, das ist nun wirklich nicht ausbaufähig. Was anderes?" Und nicht ohne Überraschung wartet die Autorin mit dem wie hingetuschten geheimnisvollen Satz auf: "Karla schwieg eine lange Weile, als warte sie diskret und wolle ihr eigenes Gedächtnis nicht stören."

    Der Große Groschenroman, den die Autorin zu unserem Vergnügen in ihrem eigenen, größeren Roman so verstaut hat, dass kleine Kostproben an unverhoffter Stelle daraus hervor schießen, dieser Große Groschenroman ist ein mit viel Witz getarnter, ernst zu nehmender Roman, dessen Herstellung einiges von der virtuosen Handhabung der Mittel verrät, über die Karin Kersten verfügt.

    Ganz nebenbei, wie wir ja sehr vieles in diesem Roman nebenher erfahren, entfaltet Karlas Welt vor uns ein Tableau des untergegangenen Westberlin. Doch bedarf es keiner besonderen Orts- und Zeitkenntnis, um das Aroma dieser entwichenen Stadt und seiner freiwillig dorthin verschlagenen Bewohner noch einmal zu schmecken. "Die Aufgeregten" haben vieles davon für uns aufbewahrt.

    Wie wird man Romanschriftsteller? Neben dem unverzichtbaren Talent und der Lust zum Erzählen bedarf es wohl einer tollkühnen Anstrengung, die einmal ins Spiel gebrachten Gestalten und Ereignisse mit leichter Hand durch das Terrain des Textes so zu führen, dass wir vergessen, nach der Plausibilität der Erfindungen auch nur zu fragen. Oder, um es mit den Worten von Karla Distelkamp zu sagen: "Sie möchte einfach nur ihres Abdrucks im gigantischen Wildwechsel ihrer Zeitgenossen sicher sein, nicht mehr und nicht weniger. Aber die Aufgabe ist sehr groß". Karin Kersten hat diese Aufgabe groß bewältigt.

    (Klöpfer & Meyer, 2005)