Archiv


"Wir dürfen nicht von dem ausgehen, was wir zu wissen glauben"

Interdisziplinäres Arbeiten ist für Ulrich Großmann in der Kunsthistorie sehr wichtig. Der Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums will zudem erreichen, dass in Deutschland mehr Offenheit gegenüber neuen Forschungsergebnissen zu bestehenden Kunstangaben ensteht.

Stefan Koldehoff im Gespräch mit Ulrich Großmann |
    Stefan Koldehoff: Anders als der Deutsche Kunsthistorikertag findet der Internationale Kunsthistoriker-Kongress nicht alle zwei, sondern nur alle vier Jahre statt. Diesmal in Nürnberg und zeitgleich mit der grandiosen Dürer-Ausstellung dort im Germanischen Nationalmuseum. "Die Herausforderung des Objekts" heißt das Thema, und im Ankündigungstext heißt es dazu unter anderem, gerade Museen, "deren zentrale Aufgabe die Sammlung, Bewahrung, Erforschung und Präsentation von Objekten ist", seien prädestiniert, über dieses Thema nachzudenken. Na ja, da frage ich dann doch den Gastgeber und Direktor des Germanischen Nationalmuseums, Ulrich Großmann: Das klingt ja zunächst mal banal, denn was wäre ein Museum ohne Objekte - das ist ja eigentlich ihr tägliches Geschäft ...

    Ulrich Großmann: Das Objekt ist natürlich das tägliche Geschäft des Museums, das ist völlig richtig, aber das Objekt ist nicht das tägliche Geschäft der Kunstgeschichte und die Kunstgeschichte, also die Fachwissenschaft, hat sich auch an den Universitäten in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer stärker vom Objekt gelöst und immer allgemeiner diskutiert. Begriffe wie Bildwissenschaften sind in die Debatte hineingekommen, das mag ja interessant sein und es ist sicherlich auch vieles an Anregung dadurch gekommen. Aber wir wollten den Blick zurücklenken auf das Objekt und mit der Dürer-Ausstellung bei uns im Museum können wir eben gerade zeigen, dass man mit dem Blick auf das Objekt selbst, nicht einer Abbildung des Objektes, zu neuen Erkenntnissen kommen kann.

    Koldehoff: Was heißt das im Umkehrschluss? Ihre Kolleginnen und Kollegen haben am Original eigentlich gar kein großes Interesse mehr, Hauptsache die Theorie dazu stimmt?

    Großmann: So weit würde ich nicht gehen. Manches von den Theorien, die da entwickelt worden sind, ist auch sehr inspirierend und bringt uns sicherlich zu einem neuen Blick auch auf das Objekt. Nur wenn man den neuen Blick auf das Objekt weglässt, dann schwimmt die Theorie tatsächlich irgendwo im luftleeren Raum und macht nicht so viel Sinn.

    Koldehoff: Also den Blick zurücklenken aufs eigentliche, aufs Objekt, haben Sie gerade gesagt. Was heißt das konkret, wie kann das aussehen, was diskutieren Sie?

    Großmann: Wir diskutieren die verschiedensten Erscheinungsformen des Objektes. Wir haben ja in der Gegenwartskunst, die jetzt nur einen kleinen Teil des Kongresses ausmacht, auch das Phänomen, dass wir etwa virtuelle Objekte haben oder virtuelle Kunst haben, muss man eigentlich sagen, im Internet, per Video, Inszenierungen, Installierungen. Was ist daran das Objekt, ist die Frage, also da kann man durchaus wieder sehr theoretisch diskutieren. Wir haben aber auch das pragmatische Fragen, wie können wir das Objekt genauer untersuchen, wie können wir es genauer kennenlernen, was müssen wir alles machen, um das Objekt nach seiner Geschichte, nach seiner Genese zu befragen, und da kommen wir eben tatsächlich, wenn wir dies mit verschiedensten Mitteln machen, auch mit naturwissenschaftlicher Technik, aber natürlich auch mit neuen geisteswissenschaftlichen, kritischen Überlegungen zu einer ganzen Reihe neuen Ergebnissen.

    Koldehoff: Ist denn da eigentlich der Generalist im Museum überhaupt noch denkbar, der all diese Aufgaben in einer Person des Kurators vereint, also das Sammeln, das Bewahren, das Erforschen, das Präsentieren, oder muss man da nicht inzwischen längst diversifizieren, weil es eben so viele Aufgaben geworden sind und so viele unterschiedliche Objekte?

    Großmann: Beides! Der Generalist ist gefragt, weil der Kunsthistoriker, im Museum der Kurator, der Abteilungsleiter, der Sammlungsleiter, auch der Generaldirektor in der Lage sein muss, kritisch Fragen zu stellen. Er muss in der Lage sein - und das ist inzwischen ein bisschen aus der Mode gekommen -, sich bewusst zu machen, dass das, was wir in den Büchern lesen, zwar interessant ist, aber häufig nicht richtig, und er muss wissen, wo habe ich Fragen zu stellen, und da muss er wissen, mit welchen Methoden kann ich eventuell diese Fragen beantworten. Diesen Weg dann, mit welchen Methoden kann ich die Fragen beantworten, das wird er nur noch zum Teil ausführen können. Da muss er dann mit anderen Kollegen zusammenarbeiten, mit anderen Geisteswissenschaftlern, aber auch mit Naturwissenschaftlern.

    Koldehoff: Müsste im Umkehrschluss eigentlich bedeuten, dass Sie mit neuen Volontären bei sich im Museum als erstes mal ins Depot gehen, um zu gucken, was ist eigentlich da und wie schaut's aus.

    Großmann: Ja es muss nicht einmal im Depot sein. Wir können die Fragen auch an die Objekte in der Schausammlung stellen und stellen fest, dass wir vieles davon so selbstverständlich hinnehmen, dass wir auf manche Fragen gar nicht kommen. Für mich ist immer das Beispiel diese berühmte Dürer-Reise nach Venedig, 1494/95. So steht es seit 200 Jahren fest. Als ich dann irgendwann festgestellt habe, auf dem einzigen Aquarell, was man datieren kann, ist ein Baugerüst hintendrauf, das ist 1496, das kann Dürer weder1994 noch 1995 gesehen haben. 200 Jahre lang hat das keiner gemerkt!

    Koldehoff: Wie reagieren Ihre Kollegen auf so was - jetzt nicht nur an dem konkreten Fall, sondern allgemein, wenn Sie denen sagen, wir müssen wieder hingucken?

    Großmann: Das ist sehr unterschiedlich. In dem konkreten Fall: Die deutsche Dürer-Forschung hat anfänglich bestürzt reagiert, auch weil ich kein Dürer-Forscher bin und man sozusagen als Außenseiter etwas findet. Das ist aber gerade das Prinzip des Germanischen Nationalmuseums, diese Interdisziplinarität. Wir lassen eben auch mal einen Bauforscher da heranschauen, obwohl niemand käme auf die Idee, das eigentlich zu tun, wir lassen einen Textilforscher da heranschauen und so weiter. Die ausländische Forschung hat zum Teil sehr viel offener reagiert und hat auch diese neuen Datierungen sofort übernommen. Ich möchte erreichen, dass auch in Deutschland die Offenheit besteht, dass man sagt, ja fantastisch, da haben wir einmal ein neues Ergebnis, oder zumindest haben wir eine neue Fragestellung. In der Ausstellung haben wir ja versucht, oder haben meine Mitarbeiter versucht, daraus auch eine neue Theorie zu entwickeln. Ob diese neue Theorie Bestand haben wird, das wissen wir in 50 Jahren, aber zumindest haben wir einmal festgestellt: wir müssen neu darüber nachdenken, wir dürfen nicht von dem ausgehen, was wir zu wissen glauben.

    Koldehoff: Ulrich Großmann, Direktor des Germanischen Nationalmuseums, zum 33. Internationalen Kunsthistoriker-Kongress in Nürnberg.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.