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"Wir stecken als Gesellschaft in der Sackgasse"

Es war die dritte Nacht in Folge und es waren die schwersten Ausschreitungen, seit Samstag ein Junge durch die Schüsse eines Polizisten zu Tode kam. Heute morgen hat sich die Situation in Athen ein wenig beruhigt. Doch viele halten das nur für die Ruhe vor dem erneuten Sturm, denn heute Nachmittag soll in Athen der getötete Junge beigesetzt werden.

Von Alkyone Karamanolis | 09.12.2008
    "Was passiert ist, ist tragisch. Einer unserer Mitmenschen ist tot. Und so lange die Politik die Polizei deckt, so lange wird es Morde geben."

    Die Aussage dieser Schülerin trifft die Stimmung nicht nur der Jugendlichen in Griechenland, sondern inzwischen auch die der breiten Gesellschaft. Allein seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 kamen 15 Bürger durch Polizeigewalt zu Tode. Da könne man nicht mehr von Einzelfällen sprechen, meint der Journalist Grigoris Roubanis von der linksgerichteten Tageszeitung Elevtherotypia:

    "Die Ereignisse haben mit der Einstellung der Polizei der Gesellschaft gegenüber zu tun. Aus welchen Gründen auch immer glaubt die Polizei, sie könne das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Letztes Jahr ist ein Student durch einen Polizisten krankenhausreif geschlagen worden – seine Familie musste europäische Gerichte anrufen, um ihr Recht zu bekommen. Wir haben Ausschreitungen der Polizei gegen Ausländer, gegen Roma, gegen Arbeitslose. Die Polizei wirkt als langer Arm des Gesetzes."

    Seit dem Wochenende informieren Sondersendungen über die Krawalle und Demonstrationen – und in Gesprächsrunden wird nach Erklärungen gesucht, besonders für die wiederholten Zusammenstöße zwischen Polizei und Bürgern. Die Rede ist von unterbezahlten und schlecht ausgebildeten Sicherheitskräften. Für den Journalisten der Tageszeitung Elevtherotypia liegt die tatsächliche Ursache für die Übergriffe der Polizei jedoch in der Nachkriegsgeschichte Griechenlands: im Bürgerkrieg, der im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg ausbrach und bis 1949 andauerte:

    "Beim Bürgerkrieg hat nicht einfach nur die Rechte gewonnen, sie hat der Gesellschaft auch eine bestimmte Mentalität als Erbe hinterlassen. Eine Mentalität der Willkür gegenüber jedem, der die Staatsgewalt in Frage stellt. Und genau in diesem Geist ist die griechische Polizei verhaftet. Ein beliebter Slogan dort war immer: "Gegen die Linke und ihre Mitläufer". Wer die Willkür der Polizei in Frage stellte, war entweder Kommunist oder Mitläufer. Und bei der Polizei wiederum herrscht bis heute die Einstellung, dass die Staatsmacht sich an der übrigen Gesellschaft rächen darf. Das sind späte Auswirkungen des Bürgerkriegs. Schon Thukydides hat sie beschrieben – in seinem Vorwort zum Peloponnesischen Krieg – doch leider ist seine Botschaft im modernen Griechenland noch nicht angekommen."

    In seiner Rede an die Nation versuchte der konservative Premier Kostas Karamanlis gestern, Haltung zu beweisen – die Staatsmacht werde die Krawalle nicht dulden. Doch die Randale auf den Straßen gingen weiter. Und inzwischen sind es nicht mehr nur Autonome - gestern waren zumindest tagsüber ganze Schulen auf der Straße. Das Potenzial für breite Proteste ist gegeben, meint auch der Journalist Roubanis:

    "Unsere Gesellschaft trägt tiefe Wunden. Sie ist der wirtschaftlichen Willfährigkeit des Staates schutzlos ausgeliefert. Die Bürger haben Politiker reich werden sehen und selber befinden sich viele von ihnen am Rand des finanziellen Ruins. Die Glaubwürdigkeit der Kirche, auf die sich weite Teile der Gesellschaft stützte, ist erst zuletzt durch einen großen Skandal erschüttert worden. Die griechische Gesellschaft wartet außerdem seit Jahrzehnten auf eine Modernisierung. Dazu würde ein funktionierender Rechtsstaat gehören, eine ordentliche Polizei und eine saubere Justiz. Das öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem befindet sich in der Auflösung – kurz gesagt: Wir stecken als Gesellschaft in der Sackgasse."

    Indes konnten die Griechen gestern wieder im Fernsehen sehen, wie Polizisten mit Fußtritten gegen Demonstranten und Demonstrantinnen vorgingen. Wenn sich die politische Kultur Griechenlands nicht ändere, meint der Journalist Grigoris Roubanis, werden die aktuellen Krawalle nur der Anfang sein:

    "Ich habe diese Tage mit einem hochrangigen Politiker gesprochen. Seine Einschätzung: Die Repräsentanten der konservativen Fraktion halten den Staat für ihr Eigentum. Sie glauben, dass alles, was öffentlich ist, ihnen gehört. Wir haben es heute auch in der Rede des Premiers gehört: wenn man seine Position analysiert, dann ist es die Position eines Menschen, der nicht zur Gesellschaft gehört, sondern ihr gegenüber steht."









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