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Wirtschaft statt Umweltwissen

In den kleinen baltischen Staaten hat sich eine Menge verändert, seit sie unabhängig geworden sind. Am deutlichsten ist das an der wirtschaftlichen Entwicklung abzulesen. Den Anschluss an den Westen Europas zu finden, das hat jetzt Vorrang. Auch in Estland. Traditionelle Werte sind in den Hintergrund gerückt. Zum Beispiel die Naturverbundenheit. Und das sieht man dem Land allmählich auch an: Luftverschmutzung, Müll - wir kennen das alles. Es sieht so aus, als müssten die Esten alle Fehler des Westens noch einmal machen. Das meint ein engagierter Naturschützer.

Von Birte Detjen | 03.11.2004
    Ich denke, wir werden viel verlieren, bevor wir zurückblicken können und sagen: "Wir haben viel verloren". Vor zehn Jahren kamen die Europäer und meinten: "Wir haben so viele Fehler mit der Umwelt gemacht. Wir wollen Euch helfen, damit Ihr nicht die gleichen Fehler macht". Doch es scheint, dass uns niemand einen Weg anbietet, so weit zu kommen wie die Westeuropäer, ohne dass wir all unsere Rohstoffe abbauen und all unsere Bäume fällen...

    Robert Oetjen lebt in Estland und engagiert sich seit über 10 Jahren im Naturschutz. Lange arbeitete der Amerikaner beim ELF, dem Estonian Fund for Nature. Die Organisation bemüht sich um den Erhalt gefährdeter Lebensräume und möchte Kinder und Jugendliche für die Natur begeistern. Das ist sehr wichtig, meint Roberts Kollege Jüri-Ott Salm. Der 28jährige hat die Erfahrung gemacht, dass sich immer weniger Esten für ihre Umwelt interessieren:

    Die Menschen haben sich in den letzten 10 Jahren von der Natur entfernt. Die Hauptstadt Tallinn zieht viele Leute an, weil es hier Arbeit gibt. ... Und die Generationen, die eine Großmutter auf dem Land hatten, sterben langsam aus. Das Gefälle zwischen Mensch und Natur wird immer größer.

    Weil Jüri und seine Mitstreiter diesen Trend aufhalten wollen, organisieren sie seit einigen Jahren Sommerworkcamps für junge Leute. "Natur pur" lautet das Motto. Die Jugendlichen arbeiten nicht nur für die Umwelt - sie schlafen in Zelten, essen am Lagerfeuer, waschen sich im Fluss.

    In diesem Jahr bot der ELF zum ersten Mal auch ein Workcamp für junge Leute aus Deutschland an. Die Idee hatte der Global Nature Fund, eine deutsche Umweltorganisation. Das Arbeitsabenteuer in der Natur organisierten ELF und Global Nature Fund für Mitarbeiter und Mitarbeiterkinder von Daimler Chrysler und der Lufthansa. Beide Konzerne unterstützen Umweltprojekte in Estland. Die 18jährige Telse erzählt von ihrer Arbeit in den Naturreservaten rund um die beiden estnischen Seen Wirtzsee und Peisisee:

    Wir haben eine Mole freigeschnitten, die sehr lang war, damit man die wieder begehen konnte, dann haben wir jetzt hier die Weiden geschnitten, damit das Land wieder als Schwemmland genutzt werden kann, wenn der Fluss übertritt, und Müll gesammelt haben wir.

    Die Seen sind wichtige Lebensräume für viele Fisch- und Vogelarten.
    Doch: Das ökologische Gleichgewicht beider Seen ist bedroht. Wohlstandsmüll, Überdüngung und kaum geklärte Abwässer verschmutzen die Gewässer und ihre Ufer. Die Folge: Unzählige Fische sterben. Auch der zunehmende Fischfang bedroht die Bestände. Gleichzeitig gefährdet er Wasservögel, die sich in den Treibnetzen verfangen.
    Hier versucht der Estonian Fund for Nature entgegenzusteuern. Er nimmt Wasserproben und stellt Unternehmen an den Pranger, deren giftige Abwässer die Seen verschmutzen. Er informiert über schonendere Fangmethoden und fördert einen Tourismus, der sich aktiv für die Natur einsetzt. Jüri-Ott Salm:

    Ich finde, diese Art zu reisen ist viel freundlicher - für Mensch und Umwelt. Leute, die ihren Beitrag zur lokalen Natur leisten, geben dem Land etwas – nicht nur Geld, sondern ihre Arbeitskraft, ihre Tatkraft. Das nützt der Natur, die normalerweise nur von den Touristen benutzt wird. Und es nützt den Menschen, denn sie erfahren sehr viel über das Gebiet, in dem sie sich aufhalten.

    Viel gibt es zu erfahren über den kleinen Staat im Baltikum mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern. Auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie Holland, vereint Estland über 1000 Inseln, riesige Seen, Wälder und Tiere, die in Europa selten geworden sind: Elche, Adler, Bären, Wölfe und Luchse. Aber die Natur gerät mehr und mehr in Gefahr:

    Seit Estland sich 1991 von der Sowjetunion unabhängig machte, hat das Land seine Märkte liberalisiert. Die Wirtschaft, die vor allem mit Holz, Textil und Metall handelt, ist gewachsen, der Lebensstandard gestiegen, und die Esten verbrauchen mehr Ressourcen. Größter Strom- und Wärmelieferant des Landes ist Ölschiefer. Dieses Tongestein sorgt gleichzeitig für 90 Prozent des Stickstoff- und Staubausstoßes in Estland – und damit für eine große Luftverschmutzung.

    Ein weiteres Problem: Die Abholzung der Wälder. In Estland wird heute drei bis vier Mal so viel Holz geschlagen wie zu Sowjetzeiten, ein Großteil davon illegal. Doch die meisten Esten möchten sich nicht mit diesen Problemen beschäftigen, meint Robert Oetjen:

    Es ist heute in Estland anders als vor fünf Jahren. Es gibt weniger Interesse an der Umweltbewegung. Estland versucht, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen, und im Moment sehen die Menschen im Umweltschutz eine Behinderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie fühlen sich von Naturschützern gestört, die zum Beispiel daran erinnern, dass erst die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt untersucht werden müssen, bevor eine Fabrik gebaut wird.

    Als Robert nach Estland kam, war er besonders beeindruckt von der tiefen Verbindung der Esten zur Natur, von ihrem Wissen über Pflanzen, Pilze und Vögel. Nun hofft er, dass seine Arbeit dazu beiträgt, künftigen Generationen diese Verbindung zu erhalten - trotz zunehmenden Wohlstands.
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