Donnerstag, 25. April 2024

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Wirtschaftsweiser: "Wir brauchen eine gesunde Lohnentwicklung"

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat sich für Lohnerhöhungen zur Entlastung der Sozialsysteme ausgesprochen. Lohnsteigerungen in Höhe von zwei bis zu drei Prozent seien vertretbar, so das Mitglied des Sachverständigenrates. Angesichts der angespannten Lage in den Rentenkassen brauche Deutschland eine "gesunde Lohnentwicklung und keine reale Lohnsenkung, wie wir sie in den vergangenen Jahren hatten."

Moderation: Jürgen Zurheide | 06.08.2005
    Jürgen Zurheide: Herr Bofinger, zunächst einmal, es gibt ja so ganz unterschiedliche Fragen in diesem Zusammenhang: Soll sich die Politik zum Beispiel einmischen? Die Gewerkschaften sind nicht unbedingt dafür. Auf der anderen Seite könnte man sagen: Wenn die Politik Druck macht, gibt es ein gesellschaftliches Klima und das geht ein bisschen gegen den Mainstream. Ist das hilfreich, wenn die Politik sich einmischt?

    Peter Bofinger: Ich glaube, die Politik muss sich in Deutschland fragen: Was ist unser Problem? Steigen bei uns die Löhne zu stark oder steigen sie zu schwach? Das ist ja eine ganz wichtige diagnostische Frage – ähnlich wie beim Patienten, der ein Kreislaufproblem hat, man sich auch dann fragen muss: Ist der Blutdruck zu hoch oder ist er zu niedrig? Und wenn der Blutdruck zu niedrig ist und man gibt ein blutdrucksenkendes Mittel, dann hat man ein Problem. Und so ist eben bei uns die zentrale diagnostische Frage: Ist der Lohnanstieg tendenziell zu stark, ist er zu schwach? Ich meine, dass der Lohnanstieg in Deutschland zu schwach ist. Das sieht man vor allem im Vergleich mit anderen europäischen Ländern. Wir haben den niedrigsten Lohnanstieg von allen europäischen Ländern. Und deswegen finde ich es richtig, dass die Politik dieses Problem erkennt und sagt: Wir brauchen eigentlich in Deutschland eine gesunde Lohnentwicklung. Ich meine, das wären Lohnerhöhungen im Bereich von zwei bis drei Prozent, wobei ich eher drei als zwei Prozent für richtig hielte.

    Zurheide: Nun gibt es ja ganz unterschiedliche Auswirkungen. Lassen wir uns in der Diagnose da mal etwas feiner rangehen: Auf der einen Seite die Sozialkassen, über die wird im Moment gesprochen. Dann auch die Konjunktur, der Einzelhandel. Beginnen wir mal mit den Sozialkassen: Dort beobachtet man ja ganz wesentlich, dass in den letzten Jahren immer weniger in die Sozialkassen eingezahlt wird. Das hat nicht nur, aber eben auch mit den zu niedrigen oder relativ niedrigen Löhnen zu tun, oder?

    Bofinger: Die sozialen Sicherungssysteme haben ein doppeltes Problem: Sie haben zum einen das Problem, dass der Lohnanstieg zu gering ist – das heißt natürlich, auch die Beiträge nicht richtig zunehmen. Konkret würde das bedeuten, rein von der Lohnentwicklung, dass eigentlich die Renten sinken müssten bei uns. Das ist aber politisch nicht sinnvoll. Ich halte das auch nicht für richtig. Deswegen kriegen wir dann Probleme bei den Rentenkassen. Wir haben bei den sozialen Sicherungssystemen aber auch ein zweites Problem: Dass die Zahl der Beitragszahler immer weiter zurückgeht. Wir haben derzeit einen Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung um 350.000 im Jahr. Das heißt, immer weniger Leute zahlen ein, die Ausgaben bleiben aber gleich und das ist natürlich auch ein großes Finanzierungsproblem für die sozialen Sicherungssysteme.

    Zurheide: Und wir haben damit prekäre Beschäftigungsverhältnisse – die nehmen eben zu. Müssen wir das so hinnehmen? Kann man da was daran machen?

    Bofinger: Na ja, das Problem ist ja, dass diese Minijobs, dass die Ein-Euro-Jobs, dass die Ich-AGs – also das, was Sie als prekäre Beschäftigungsverhältnisse bezeichnen –, dass das ja nicht von selber kommt, sondern dass das vom Staat massiv gefördert wird. Das heißt, der Staat nimmt Geld in die Hand, subventioniert Arbeitgeber, die zum Beispiel einen Minijob anbieten, in dem Maße eben, dass nur die halben Sozialabgaben bezahlt werden müssen. Und das ist ganz klar: Der Markt nimmt das, was billiger ist. Und billiger ist eben der Minijob als der reguläre Job. Mit dem Ergebnis, dass wir eben jetzt sehen, dass diese Art der Erwerbstätigkeit deutlich zunimmt. Und das Problem haben die Leute, die ihren Arbeitsplatz verlieren – zum Beispiel in der Industrie, weil sie nicht so sehr qualifiziert sind –, die dann große Schwierigkeiten haben, im Dienstleistungsbereich wieder eine reguläre Beschäftigung zu finden.

    Zurheide: Auf der anderen Seite taucht dann natürlich die Frage auf: Wie kann man mit diesem Problem umgehen? Denn, Sie haben es gerade angesprochen, es trifft vor allen Dingen jene, die weniger qualifiziert sind. Diese Spaltung des Arbeitsmarktes, die wir da beobachten, die gibt es in anderen Ländern ja auch. Haben wir eine Chance, dagegen anzugehen?

    Bofinger: Ich meine, man muss sich fragen bei der Wirtschaftspolitik, die dann – von welcher Regierung auch immer – im nächsten Herbst betrieben wird: Was kann man tun, um für die Geringqualifizierten die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern? Und ich meine, sinnvoll wäre, dass man die von der Union ja geplante Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung, dass man die nicht durchgängig um zwei Prozent macht, sondern gezielt im Niedriglohnbereich. Da könnte man für die ersten 1000 Euro den Beitrag um fünf Punkte senken – man könnte also sehr viel mehr Entlastung in diesem Bereich bringen – und man hätte natürlich etwas weniger Entlastung bei jemandem, der 3000 oder 4000 Euro im Monat verdient. Aber ich glaube, da wäre das auch nicht so wichtig.

    Zurheide: Lassen Sie uns zurückkommen zu den Löhnen insgesamt. Da gibt es natürlich, seit die Debatte läuft, schon wieder das Gegenargument der Arbeitgeber, die vehement darauf hinweisen, dass dann die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie leidet. Dieses Argument überzeugt Sie ja seit langem nicht. Warum nicht?

    Bofinger: Na ja, was ich fordere, ist ja nicht, dass man die Löhne nun exzessiv erhöht. Das ist ja bei Lohnentwicklung ähnlich auch wieder wie bei der Medizin: Es kommt auf die richtige Dosis an. Und das war ja in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg ein Konsens, dass man sagte: Löhne dürfen produktivitätsorientiert steigen – und die Produktivität in Deutschland steigt um etwa ein Prozent im Jahr – und außerdem – das war auch der Konsens – soll ein Ausgleich gegeben werden für die Preisentwicklung. Und da würde ich sagen, die Inflationskomponente von knapp zwei Prozent wäre dann angemessen. Dann würde man etwa bei drei Prozent landen, ...

    Zurheide: Das wäre verteilungsneutral?

    Bofinger: Das wäre neutral und hätte dann aber im Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit keinerlei Nachteile, weil nämlich die Lohnstückkosten der deutschen Industrie dann im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern nicht steigen würden, sondern konstant bleiben würden. Das heißt also, bei einer solchen Lohnentwicklung würde die außerordentlich gute Wettbewerbsposition, die unsere Unternehmen derzeit haben, auch erhalten bleiben.

    Zurheide: Und das Argument, dass die Differenzierung nicht ausreichend weit getrieben ist, dass manche Unternehmen so etwas eben bezahlen können, andere nicht – da heißt es ja auch immer, wir brauchen eine viel größere Differenzierung, vielleicht sogar weg mit den Tarifverträgen insgesamt, mindestens mit dem Flächentarifvertrag?

    Bofinger: Ich meine, man muss ja mal sehen, dass die Unternehmen ja auch sonst für die Inputs, die sie verwenden – also für den Strom, für die Energie, für die Maschinen, für die Zinsen, die sie kriegen –, dass das ja auch nicht nach der Ertragslage eines einzelnen Unternehmens differenziert wird. Das heißt, die Frage ist: Macht es Sinn, dass nun bei der Arbeitsentlohnung eine solche Differenzierung stattfindet? Denn wenn man die Löhne einigermaßen gleichmäßig steigen lässt – wie das der Flächentarifvertrag ja vorsieht –, dann ist es richtig, dann müssen auch mal ein paar ausscheiden, die nicht so gut sind. Auf der anderen Seite, die Unternehmen, die wirklich sehr produktiv sind, die machen dann auch sehr hohe Gewinne, machen überdurchschnittliche Gewinne. Und das ist etwas, was für den Strukturwandel durchaus förderlich ist.

    Zurheide: In dem Zusammenhang wird dann auch immer mal ins Spiel gebracht, dass man möglicherweise über höhere Gewinnbeteiligungen zu mehr Differenzierung kommt. Das überzeugt Sie dann nicht wirklich?

    Bofinger: Der Punkt bei der Lohnentwicklung ist ja der: Wie viel Risiken wollen die Unternehmen tragen, wie viel Risiken sollen die Arbeitnehmer tragen? Flächentarifvertrag sagt, dass natürlich die Unternehmen den Hauptteil des unternehmerischen Risikos tragen sollen – dafür sollen sie auch ordentliche Gewinne kriegen. Wenn man das nun bei der Lohnentwicklung immer differenzierter macht, dann werden die Arbeitnehmer sozusagen Mitunternehmer, werden also immer mehr am unternehmerischen Risiko beteiligt. Und das ist die Frage, ob das sinnvoll ist. Und wenn man sie beteiligt, dann müsste man ihnen auch entsprechend eine Beteiligung am Gewinn geben, am Risikoentgelt, das die Unternehmer bekommen.

    Zurheide: Das würden Sie durchaus befürworten?

    Bofinger: Ich meine, dass das zu überlegen ist. Wobei ich schon dafürhalten würde, dass immer mehr Risiken auf die Arbeitnehmer zu übertragen, möglicherweise der falsche Weg ist. Denn wir sehen schon jetzt, dass die Arbeitnehmer ein Problem haben mit der zunehmenden Unsicherheit über die Arbeitsplätze, mit der zunehmenden Unsicherheit über die soziale Absicherung im Fall der Arbeitslosigkeit. Und das Resultat ist ja ein ganz ausgeprägtes Angstsparen in Deutschland – die Geldersparnis der privaten Haushalte hat sich 2004 gegenüber '99 verdoppelt. Und das ist für die Konjunktur außerordentlich schädlich. Deswegen meine ich, muss man sehr vorsichtig sein, wenn man glaubt, immer mehr Risiken auf die Arbeitnehmer und die privaten Haushalte übertragen zu können.

    Zurheide: Nun gibt es auch da das Gegenargument, das lautet: Die Leute müssen mehr sparen, um für ihre Altersvorsorge zum Beispiel und für die Lücken, die aus dem staatlichen System erwachsen – oder auch aus privaten Absicherungen, die nicht so auskömmlich sein werden, wie man das irgendwann mal geglaubt hat. Die Leute müssten mehr sparen. Sie sagen, da wird deutlich zu viel getan? Für die Konjunktur.

    Bofinger: Also das ist eine Gratwanderung. Natürlich müssen die Bürger in Deutschland mehr sparen, weil einfach die Absicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung schwächer sein wird. Die Frage ist nur: Wie kann man Formen finden, dass dieses zusätzliche Sparen sich nicht nachteilig für die konjunkturelle Entwicklung auswirkt? Und wir haben das Problem, dass die staatliche Förderung, die wir im Augenblick haben, eigentlich ausschließlich eine Förderung des Geldsparens ist – also in Versicherungen, bei Banken – und diese Formen sind eigentlich für die Konjunkturentwicklung relativ ungünstig.

    Zurheide: Welche würden Sie präferieren?

    Bofinger: Ich meine, man sollte sich durchaus überlegen, ob man diese staatliche Förderung nicht auch aufs Immobiliensparen ausweiten könnte. Denn wenn in Immobilien gespart wird, ist das für die konjunkturelle Entwicklung sehr viel günstiger, als wenn das in Geld oder in Versicherungen angelegt wird.

    Zurheide: Und die Leute bilden Eigentum?

    Bofinger: Ja. Das ist ja auch so, wenn man sich die Präferenzen anguckt der Menschen, dann ist ja das Eigentum an Wohnungen, an Häusern etwas, was sehr stark den Bedürfnissen entspricht und wo ich, glaube ich, auch sehr viel mehr direkte Affinität habe, als wenn die Leute ihr Geld einfach in Versicherungen oder in Sparpläne stecken. Und von daher meine ich, sollte man schon die gesamte Förderung der privaten Altersvorsorge überdenken und mal überlegen, ob es da nicht eine Möglichkeit gibt, auch den Immobilienerwerb besser zu stellen als das derzeit der Fall ist.