Archiv


Wissen ist nicht gleich Wissen

In seinem Kinderbuch "Wecke niemals einen Schrat!" zeigt Wieland Freund, dass Wissen eine relative Größe ist. Ein Junge wird aus seiner Heimat, dem Elfenwald, verbannt und muss sich von nun an mit einem Schrat durchschlagen. Sein Schulwissen hilft ihm hierbei nicht.

Von Ursula Nowak |
    "Wecke niemals einen Schrat!", rät der Lehrer den Schülern im Elfenwald. Denn der Schrat bringt Unglück und es kommt noch schlimmer, man wird den Schrat nie wieder los. Ausgerechnet dem miserablen Schüler Jannis passiert dieses Unglück. Er wird aus dem Elfenwald verbannt. Als dann der große Sturm des Zauberers Holunder ausbricht und die Tiere aus dem Elfenwald in alle Himmelsrichtungen verstreut werden, ist Jannis’ Hilfe gefragt.

    Eine klassische Heldengeschichte also. Auch diesmal bleibt der Autor Wieland Freund seinem Genre, der Tiergeschichte, treu. Elfen sind in seinem Buch keine Flügelwesen, sondern den Eichhörnchen verwandt. Der Lehrer ist ein Storch. Es gibt Insekten, allerhand Vogelsorten, aber auch Kobolde und Zauberer. Joelle Tourlonias hat zusammen mit Jann Kerntke die Geschichte mit vielen Details illustriert. Ihr Schrat ist ein morcheliger Typ, halb Baumstumpf, halb Pilz. Ein verwunschener Zauberwald entsteht vor den Augen des Lesers. Wieland Freund kennt sich dort sehr gut aus.

    "Ich bin in Krumme Sieben gefahren in Brandenburg und da rumgestromert. Und ich habe beim Schreiben verwendet die Artenliste des Hainich in Thüringen, sodass also wirklich nur Namen oder Tiere bei mir auftauchen, die in diesem alten Buchenurwald wirklich heimisch oder wieder heimisch sind. Mein Verdacht ist, dass die Natur der beste fantastische Autor ist und aus diesem Grund sind meine Elfen auch als Eichhörnchen erkennbar. Fantastischer als die Natur selbst scheint mir keine Vorstellungskraft sein zu können."

    In der Tierwelt von Wieland Freund gibt es höchst menschliche Probleme. Jannis mag nicht gerne zur Schule gehen, vor allem, wenn eine Prüfung ansteht. Er ist ein regelrechter Schulversager im Gegensatz zu seiner Freundin Motte. Sie ist des Lehrers Liebling und schafft alle Prüfungen mit Auszeichnung. Nach bestandener Prüfung werden die Elfenschüler aus der Schule entlassen, Jannis ist leider sitzen geblieben. Nun geht es um die Frage: Wer kommt besser durch im Leben? Und was braucht man überhaupt, um zu überleben? Wieland Freund zeigt mit seiner humorvollen Geschichte, dass Wissen notwendig und vielfältig ist. Das Wissen aus Büchern genau so wie das Wissen des Lebens.

    "Beide lernen was. Der Jannis lernt, dass dann und wann ein bisschen Wissen nicht schaden kann und die Motte lernt, dass Wissen eine bewegliche Größe ist, dass Wissen sich verändert, dass auch Wahrheiten nicht auf ewig Wahrheiten sind."

    Das große Buch des Wissens in der Schule ist das "Buch über alles" des Elfen-Ältesten Anselm Salamander. Und auch hier ist Wissen eine bewegliche Größe. Vor Urzeiten hat Anselm Salamander sein "Buch über alles" als eine poetische Erzählung über den Zauberer Holunder begonnen. Doch irgendwann hat er nur noch Fakten notiert und Listen geschrieben. Wenn in der Schule aus dem Buch zitiert wird, wechselt die Gegenwartsebene der Geschichte in die Vergangenheit. Frühere Waldbewohner und deren gute oder schlechte Taten werden zitiert. Der Zeigefinger ist so hoch oben, dass schon klar wird, dass das nicht gut gehen kann. Und tatsächlich, nach dem großen Holundersturm sind nur noch vereinzelte Blätter des großen Buchs im Elfenwald zu finden. Der Storchenlehrer ist verzweifelt, doch der Autor Anselm Salamander sammelt unbeirrt neue Fakten.

    "So schlich sich, war mein Eindruck, in meinen angeblich romantischen Wald die so ganz unromantische Wissensgesellschaft, die manisch Fakten sammelt und manisch die Welt in Listen einteilt. Und Anselm Salamander hat ja mal als Erzähler begonnen, er hat mal angefangen eine abenteuerliche Reise aufzuschreiben und ist dann vom Erzählen abgekommen und hat angefangen, alles nur noch in Listen, Daten und Fakten zu sehen. Und auch er muss was lernen, nämlich, dass das Einzelne vor dem Allen Vorrang hat. Anselm Salamander hat die Fähigkeit, sich zu ändern, das ist etwas, was ich sehr an ihm schätze, er ist ein großer Reflektierer. Und in dem Moment, wo er anfängt, das "Buch über alles" kreisförmig auszulegen, hat er ja den Schritt in die richtige Richtung getan."

    Wieland Freunds Kritik an der Wissensgesellschaft ist spielerisch, es ist der Wind, der die Blätter mit den Fakten durcheinanderwirbelt. Für den Lehrer an der Schule ist das ein Drama, aber für Anselm Salamander ist das verwehte Schulbuch die große Chance. Er fängt von vorne an, sammelt neue Erkenntnisse und hält dem verblüfften Lehrer folgenden Vers unter die Nase: Das Ende all unseres Suchens/wird sein, anzukommen, wo wir/angefangen haben, und zum/ersten Mal zu wissen, wo wir sind. Wieland Freund zitiert hier aus T.S. Eliots Gedicht "Little Gidding" und weist in einer Fußnote darauf hin. Insgesamt gibt es in diesem Buch 50 Fußnoten, sie liefern Erklärungen über Wälder und Tiere. Damit die Fußnoten nicht so akademisch daherkommen, haben die Illustratoren eine originelle Lösung gefunden: Alle Erklärungen sind auf illustrierte Buchen- oder Erlenblätter geschrieben.

    "Diese Fußnoten sind sozusagen das Fundament, auf der diese Welt entsteht. Diese halb Natur- und halb fantastische Welt."

    Als Jannis mit seinem Schrat aus dem Elfenwald verbannt wird, versucht er sich mühsam an sein mageres Schulwissen zu erinnern. Aber da fällt ihm wenig ein, denn er hat dem Lehrer selten zugehört. Einige Fakten könnten jetzt nützlich sein. Jannis verlässt sich auf seine praktischen Fähigkeiten und folgt seinem Instinkt. Und er macht eine tolle Erfahrung: Der unheimliche Schrat entpuppt sich als ein treuer Freund. Nur als Team gelingt es den beiden, den Elfenwald zu retten. Der Lehrer bleibt bei seinen Vorurteilen. Doch selbst die schlaue Motte denkt mit Unbehagen an die auswendig gelernten Sätze aus dem Schulbuch. Der Schrat verwirrt den Elfenwald.

    "Er ist das andere Wesen, das der Jannis, die Hauptfigur weckt und ein ganz offensichtlich unbekanntes Wesen, auch deshalb, weil Schrate so furchtbar selten sind. Und dieser Schrat ist mit allen möglichen mehr oder minder mythisch mythologischen Vorurteilen belegt. Und Anselm Salamander, der Autor des "Buchs über alles" in meinem Buch scheint alles Mögliche über Schrate zu wissen und Jannis, der es mit dem Buchstabenwissen ohnehin nicht so hat, muss halt herausfinden, dass das Meiste, was Anselm Salamander über Schrate zu wissen glaubt, nicht stimmt."

    Wieland Freund zeigt mit seinem Buch "Wecke niemals einen Schrat!", dass Wissen etwas ist, was jeden Tag neu verhandelt wird. Das erfährt nicht nur Anselm Salamander mit seinem "Buch über alles”, auch die schlaue Motte und der Lehrer erkennen, dass Reflexion in einer Wissensgesellschaft notwendig ist. Jannis verliert seine Angst vor dem Schrat und gewinnt sogar einen Freund. Wieland Freund ist ein wunderbar spannendes Buch gelungen, das vor dem größten Tabu dieser Tage nicht zurückschreckt: Es hat eine Botschaft.


    Wieland Freund: "Wecke niemals einen Schrat!"
    Beltz Verlag, 14,95 Euro.
    Empfohlen ab 9 Jahren.
    ISBN 978-3-407-82017-4.