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Wohnen der besonderen Art

Vom einstigen Reichtum Leipzigs kündet die großartige Bausubstanz. Gründerzeit und Jugendstil sind in einer solchen Opulenz vertreten, wie sie in Deutschland nirgendwo sonst mehr zu finden ist. Herausragende Architektur und exzellente Wohnkultur sind eine innige Verbindung eingegangen.

Von Thomas Stein | 25.11.2007
    Leipziger Jugendstilvilla.
    Leipziger Jugendstilvilla. (DRadio)
    Schon im kleinen Zentrum Leipzigs - von Nord nach Süd und Ost nach West jeweils gerade einmal 300 Meter -zeigt der Jugendstil stolze Präsenz. Und dies nicht nur äußerlich. Jugendstil verstand sich als Gesamtkunstwerk und so ist der Gang in die Häuser genauso beeindruckend wie der Blick auf die steinerne Hülle. Zum Beispiel am ehemaligen Bankhaus Meyer des norwegischen Architekten Peter Dybvad, direkt gegenüber der Thomaskirche. Eine italienische Kassettendecke prägt das Entrée, der frühere Schalterraum ist durch eine schwere Messingtür geschützt und der Fahrstuhl mit seinem filigranen Eisengitterkörper wirkt beeindruckend. Bodo Pientka, Autor bzw. Koautor von zwei Büchern über Jugendstil in Leipzig, ist in seinem Element:

    "Das ist auch ein Phänomen. Wir haben in der Leipziger Innenstadt wohl - glaube ich - noch um die zehn voll funktionierende Fahrstühle im alten Dekor. Hier ist noch die alte Technik drin. Wir sehen hier zum Beispiel diesen Etagenanzeiger in Form einer Uhr und diese ganze hübsche Dekorationsform ist noch aus der Ursprungzeit dieser Bauwerke."

    Bodo Pientka ist von Beruf Diplomingenieur für Gastechnik in einem großen Leipziger Unternehmen. Die Beschäftigung mit dem Jugendstil ist seine private Leidenschaft. Allerdings wird seine Sachkunde als Fremdenführer auch vom Vorstand des Unternehmens gerne in Anspruch genommen, wenn es gilt, Geschäftspartner mit den Attraktionen der Stadt vertraut zu machen. Bodo Pientkas Outfit allein -Schwarzer Hut mit cremefarbenem Band, Doc-Holliday-Hemd mit rotem Seidenhalstuch, schwarzer Anzug mit Weste - scheinen ihm freien Zutritt zu jedem Künstlerstammtisch zu garantieren. Er fällt auf als Fremdenführer, wenn er am Brunnen vor dem historischen Coffeebaum die Gestalt des gegenüberliegenden voluminösen Jugendstilhauses mit der über drei Straßen reichenden eckigen Form erklärt:

    "Wir sind hier auf dem einzigen Platz in Leipzig, der keinen öffentlichen Namen trägt. Dieser Platz wird im Volksmund genannt "Platz vor dem Coffeebaum". Coffebaum ist das älteste Kaffeehaus Deutschlands, vor dem wir uns befinden. Der Brunnen, Lipsia-Brunnen genannt, der hat Jugendstilformen, genau wie das uns gegenüber befindliche große Gebäude von dem Architekten Ernst-Arthur Haensch. Dieses Gebäude weist eine kleine Besonderheit auf, die Architekturkritiker zu dem Schluss brachten, dass dieses Gebäude im maurisch-arabischen Stil gebaut worden ist. Was natürlich nicht stimmt, weil der Architekt Haensch ein reiner Jugendstilarchitekt ist. Aber einige kleine Zitate der Fensterformen lassen Ähnlichkeiten mit maurisch-arabischen Stil zu. Und das ist eine gewollte Reminiszenz an das Gebäude, welches diesem Haus gegenübersteht, nämlich das Haus "Zum arabischen Coffeebaum"."

    Betritt man das monumentale Jugendstilhaus, ist man erstaunt über die zierlichen Proportionen von Vestibül und Treppenhaus. Hier war alles auf optimale Ausnutzung der Flächen für Wohnen, Handel und Kontore ausgelegt. Der Architekt pflegte im Übrigen an allen von ihm errichteten Häusern eine spezifische Signatur anzubringen.

    "Das Werk des Architekten Ernst-Arthur Haensch ist sehr reich in Leipzig. Er hat also viele Gebäude errichtet, überwiegend Wohnhäuser und zum Teil mit Geschäftseinbauten wie hier. Und an der Fassade gibt es immer ein Motiv, was für ihn typisch ist, die Eule, die in Fachkreisen oder in Kunstkennerkreisen die Haensch-Eule genannt wird. Sie wissen ja, Haensch, ein toller Architekt, und die Eule ist ja das Attribut der Göttin Athene, das Symbol der Weisheit, der Weisheit und Klugheit, und man kann davon ausgehen, dass der Architekt damit dem Bauherren etwas schmeicheln wollte, weil er so weise war, ihn als Architekt zu beschäftigen."

    Aus dem großen Œuvre der Jugendstilarchitekten, die im Stadtzentrum von Leipzig ihre Spuren hinterlassen haben, sei stellvertretend noch ein Gebäude herausgesucht. Es ist vor allem deshalb interessant, weil es ganz bewusst alte Gewerke und traditionsreichen Handel mit dem Fortschrittsglauben jener Zeit zu Beginn des 20 Jahrhunderts verbindet: das Zeppelinhaus in der Nikolaistraße. Sie führt vom Kern des kleinen Stadtzentrums in nördlicher Richtung zur Straße mit dem Namen Brühl und beide Straßen bildeten über Jahrzehnte das Zentrum des internationalen Rauchwarenhandels. Hier wurden die edelsten Pelze hergestellt und gehandelt.

    "Wir sehen an der Fassade das Portrait des Grafen Zeppelin, darunter die Inschrift in Bronze. Das soll darauf hinweisen, dass der Architekt, der hier einen für die damalige Zeit sehr modernen Bau geschaffen hat, sich an der Modernität des damaligen Flugpioniers Zeppelin orientierte und diesem Objekt diesen Namen verliehen hat. Dass hier ein Pelzgewerbe in diesem Haus war, können wir erkennen: An den oberen Abschlusskanten der vier Halbrunderker sind Motive von Tieren, aus denen Pelze gewonnen wurden: Bären, Wölfe, Löwen, Panther. Und alle diese Tiere hat man dort als Motiv an der Fassade angebracht, um damit darauf hinzuweisen, welches Objekt in diesem Haus bearbeitet worden ist."

    Verlassen wir das Gebiet des Leipziger Innenstadtrings und wenden wir unsere Schritte ins Waldstraßenviertel. Es handelt sich dabei um das ehemals jüdische Viertel, ursprünglich vor den Toren der Stadt gelegen, innerhalb derer Juden das Bürger- und Wohnrecht vorenthalten wurde. Gründerzeit und Jugendstil in diesem Quartier geben Auskunft über den sozialen Status der Erbauer: In stadtauswärtiger Richtung links der Waldstraße die Häuser der jüdischen Handwerker und kleinen Leute - gediegen, aber recht bescheiden. Rechts der Waldstraße die imposanten Häuser der jüdischen Elite, Industrielle, Wissenschaftler, Ärzte, Rechtsanwälte, erfolgreiche Kaufleute. Eines der schönsten Zeugnisse des Leipziger Jugendstils findet sich hier, erbaut von dem Baumeister Paul Bastänier für sich selbst nach Plänen des früh verstorbenen Architekten Paul Möbius. Drei Wohnungen auf drei Etagen und eine Hausmeisterwohnung im Dachgeschoss werden von einer wuchtigen Fassade eingehüllt: Ein bossierter, also nur grob behauener Granitsockel beherbergt Souterrain und Hochparterre, darüber erhebt sich eine fein strukturierte Sandsteinfassade mit vertikalen und horizontalen Bändern, Köpfen von Fabelwesen und anderem Zierrat. Ein flacher angedeuteter Runderker endet in einem Turmaufbau. Charakteristisch für den Architekten Paul Möbius ist auch die ausladende Kehle des Traufgesimses. Innen führt eine Rundtreppe mit Absätzen in die oberen Geschosse. Wie so oft beginnt und endet der Handlauf an einem Pfosten mit Löwenkopf. Die Türen sind mit farbigen, bleigefassten Segmentfenstern versehen. Wir sind im Hochparterre verabredet mit der Künstlerin Sabine Coch, die mit ihrem Mann die 300 Quadratmeter Wohnfläche auf kongeniale Weise belebt.

    "Der erste Eindruck bei Besichtigung dieser Wohnung: diese repräsentative, für damalige Zwecke des Eigentümers gedacht, denke ich, Eingangshalle, diese hohen Decken von 3,80 Meter und Jugendstil für sich sprechend, die Leichtigkeit des Seins, sage ich mal, dieses Stils, unglaublich viel Stuck, der nicht Stuck im herkömmlichen Sinne ist, sondern die Decken voll mit Rosetten und Verzierungen, Malereien, Friese bis hin zu detaillierten Türklinken in Messing und Frauenköpfe, fast unbeschreiblich schön und originell."

    Betritt man die Eingangshalle von 45 Quadratmeter Größe, wird man zunächst von gewaltigen Flügeltüren und ausladender Holztäfelung beeindruckt. Ein übermannshoher Spiegel wird von einem hölzernen Rundbogen überwölbt, die Hohlkehle des Traufgesimses taucht als Zitat am oberen Ende und an den Türen wieder auf, die Holzwangen rechts und links des Spiegels laufen in Sitzen aus, die an Chorgestühl erinnern. Zwischen Halle und Arbeitszimmer hat der Hausherr drei Rennräder abgestellt, die Komponenten wie Schaltung, Kurbeln und Pedale von der italienischen Edelschmiede Campagnolo, das dritte Rad vergoldet - fahrtüchtig, versteht sich. So nobel, diese Räder aufzunehmen, kann auch der eleganteste Fahrradkeller der Welt nicht sein. Goldfarben auch die Heizkörper in der Halle, selbst sie Kunstwerke mit Symbolen aus der Welt der Pflanzen.

    "Das sind auch noch die originalen Heizkörper, die hier - ich sag mal - ganz originell erhalten und auch restauriert wurden. Ähnlich wie die Türklinken, wenn man so in Details guckt, die Wendetür, vielleicht politisch auch gesehen - Ost und West - ist das wirklich eine Tür der Wende, und zwar abgrenzend, wo die Herrschaften damals wohnten im Vergleich zu dem Personal. Man sieht in den Räumen den Stuck oder auch Messingtüren mit Jugendstilköpfen und wenn man nun die Tür öffnet ...
    - Ich darf das mal tun!
    Ja, das kann der Zuhörer nun nur ahnen, ist die Rückseite fürs Personal eine einfache, jetzt gedrechselte zwar, aber einfache Holzklinke, das heißt der Stuck und das vornehme Jugendstilmessing wurde da außer Acht gelassen.
    - Wir sind hier inzwischen weiter gegangen in ein Wohnzimmer, von dem ich annehme, dass es etwa 50 Quadratmeter hat ...
    Ja, ja.
    - ... und dass Sie sicher besser als ich beschreiben können, allein, was die Qualität der architektonischen und handwerklichen Ausstattung betrifft.
    Ja, überwältigend in diesem Raum - in den anderen Räumen ist auch sehr viel Stuck zu sehen - aber hier ist die gesamte Decke mit floralen Motiven, als Quadrate aufgeteilt die ganze Decke durchgezogen und in der Mitte dann jeweils Kreuze die auch wunderschön jugendstilmäßig diese floralen Motive, mit Gold ausgemalt, sehr schön restauriert, handwerklich, und von der Decke zu den Wänden übergehend, bestimmt in ein Meter Breite bemalte, üppigst bemalte Blumenmotive, die sich eben in diesen typischen Jugendstilmotiven durchziehen, das heißt, das Handwerkliche hat mich hier in dieser Restauration auch sehr beeindruckt, in der Ausfertigung."

    Die Einrichtung dazu - es versteht sich fast von selbst - ist ausgesucht edel und mit viel Geschmack gewählt, stilistische Brüche sind gewollt und ergeben ein Gesamtkunstwerk. Viel Art Deco ist zu finden, dazu beispielsweise eine Biedermeier-Trommelkommode. Im Esszimmer ein Biedermeier-Sofa unter den Fenstern, in der Mitte des Raumes ein Dreimeter-Esstisch mit einer Platte aus Sicherheitsglas auf zwei gegossenen Betonsockeln. An den Wänden aller Räume hängen Bilder befreundeter Maler, auch einige Werke der Künstlerin selbst sind dabei. Sabine Coch entwirft und produziert darüber hinaus Bühnenkostüme und arbeitet als Innenarchitektin. Zu ihrer eigenen Wohnung kann es aber kaum eine Steigerung geben.

    Eine der Sensationen des Leipziger Jugendstils ist zweifellos die Villa Görke im Stadtteil Leutzsch, errichtet ebenfalls nach Plänen des Architekten Paul Möbius. In der Frontansicht wird der schwelgerische Umgang mit baulichen Formen und ebensolchem Zierrat deutlich. Der kaum erwähnenswerte Mittelteil wird überragt von zwei seitlichen Risaliten. Aus dem Mittelteil seinerseits tritt ein niedrigerer, aber die vordere Begrenzung des Gebäudes bildender eigener Risalit hervor. Wieder trägt ein grob behauener Granitsockel das Gebäude. Die Rückseite ist erstaunlich klar gegliedert und die Reduktion der Schmuckattribute auf horizontale und vertikale Bänder lässt das herannahende Ende der Jugendstilepoche erahnen. Das Innere wird dominiert von fast hellbraunem Holz mit einem leichten Rotton, einem vom Erdgeschoss bis zu ersten Etage strebenden reich verzierten Fenster und von Decken, die Stuck und Malereien in voller Pracht entfalten. Die Villa war nicht, wie so viele andere des Architekten Möbius, für einen Künstler entworfen, sondern als Wohnsitz für die Familie eines Fabrikanten. Auch heute wohnt wieder eine Familie darin. Verena Tintelnot auf die Frage, ob sie die Zimmer in ihrem Haus schon einmal gezählt habe.

    "Sicher schon mal. Aber ich bin jetzt überfragt, wenn ich 'ne Zahl sagen müsste ... ja.
    - Wollen wir vielleicht mal ein paar Schritte in den nächsten Raum hineingehen. Man hört den Fußboden schön knirschen ... gediegenes großes Stabparkett ... Was bedeutet dieses Haus für Sie aus der Sicht der Fachfrau, der Kunsthistorikerin?
    Schwierige Frage, jetzt 'ne kompetente Antwort zu geben. Was ich aus kunsthistorischer Sicht besonders schätze an dem Haus ist, wie er mit den Räumlichkeiten umgeht, dass er sie stark aufbricht durch Schiebetüren und wie er die Blickachsen nach draußen schafft. Man kann teilweise durchs Haus durchblicken, ja, vielfach, und wie das Haus zum Licht oder zur Natur hinaus gebaut ist und eben auch diese Öffnung der Räume, wenn man sie denn wirklich auch aufmacht, die Schiebetüren.
    - Wie viele Quadratmeter hat das Haus, in etwa?
    In etwa ... soll ich Ihnen das jetzt verraten? Also es sind schon 400 Quadratmeter reine Wohnfläche, ohne den Keller und den Dachboden.
    - Ist keine Schande!
    Nein, und man kann sich durchaus wohlfühlen!"

    Wieder ein Ortswechsel. Treffen mit dem Jugendstilexperten Bodo Pientka auf dem Leipziger Südfriedhof, dem zweitgrößten Parkfriedhof Deutschlands. Künstler, Unternehmer, Geistesgrößen und Erfolgreiche aller Art verlangen hier auch post mortem nach Würdigung. Der Jugendstil hat in der Sepulkralarchitektur des Südfriedhofs bemerkenswerte Spuren hinterlassen. Auch hier treffen wir auf Werke von Paul Möbius. Hinter uns ein freies Gräberfeld, auf dem einige Fliegenpilze in der Herbstsonne hinterlistig leuchten, vor uns das Grabmal des Malers Walter Queck.

    "Dieses Grabmal ist besonders wichtig, es ist die Beziehung zwischen Künstler und Auftraggeber, und das bis zum Tod. Dieses Grabmal besteht aus einem Portikus, der links und rechts flankiert wird von zwei plastischen Wächtern, die von dem wichtigen Leipziger Bildhauer Felix Pfeifer geschaffen wurden. Durch dieses Tor geht man in den Grabbezirk und wird sofort von romantischen Gedanken beeinflusst und umfangen. Man geht auf dem direkten kurzen Weg auf ein Grabkreuz zu, was wieder von zwei Göttinnen bewacht wird, die hier trauernd am Fuße des Kreuzes sind. Links und rechts hinter dem Eingang wieder die für Möbius typischen großen Ruhebänke, so dass man in diesem romantischem Grabbezirk der Verstorbenen gedenken kann."

    Nicht weit entfernt von dieser Grabstätte hängt in einem Stahlgestell eine Glocke. Das Gestell bildet bei näherem Hinsehen das Alpha und das Omega des griechischen Alphabets als Symbol für den Anfang und das Ende des Lebens. Umlaufende Jugendstilornamente schmücken die Glocke, eine Inschrift gibt Auskunft über ihre Herkunft: "Franz Schilling in Apolda goss mich 1909" ist da zu lesen. Die genaue Bestimmung der Glocke ist heute unbekannt. Wahrscheinlich verrichtete sie ihre traurige Pflicht im Krematorium auf dem Südfriedhof. Spät im zweiten Weltkrieg nach Hamburg gebracht, um dort eingeschmolzen und Teil einer todbringenden Waffe zu werden, entging sie doch noch dem Schmelzofen. Die Glocke fand den Weg zurück nach Leipzig. Selbst zeitweilig zum Schicksal der Anonymität verdammt, erinnert sie heute an die namenlosen Toten auf dem Friedhof. Kann man sich eine würdigere Aufgabe für diese Glocke vorstellen?