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"Wollen wir tatsächlich nur, dass es der Wirtschaft gut geht?"

"Re-Thinking Marx" ist eine Konferenz in Berlin überschrieben, die einen neuen Blick auf Werk und Denken von Karl Marx werfen will. Heute könne man Marx frei von Ost-West-Gegensätzen und festgefahrenen Vorurteilen denken, sagt der Philosoph Professor Andreas Arndt. Seine Theorien seien weiterhin hochaktuell.

Andreas Arndt im Gespräch mit Christoph Heinemann | 20.05.2011
    Christoph Heinemann: In Berlin findet an der Humboldt-Universität eine internationale Konferenz statt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Karl Marx neu zu denken. Der Koautor des Kommunistischen Manifestes und Verfasser der Schrift "Das Kapital" ist vor rund 20 Jahren mit dem Ende der Regime, die ihn als Paten ge- beziehungsweise missbrauchten, in der Versenkung verschwunden. Teilnehmer der Berliner Konferenz Re-Thinking Marx ist der Philosoph Professor Andreas Arndt. Er lehrt an der Humboldt-Universität, er ist an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften tätig und Autor des Buchs "Karl Marx - Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie". Guten Morgen.

    Andreas Arndt: Guten Morgen.

    Heinemann: Herr Professor Arndt, in der Führung der Linkspartei wurde kürzlich laut über Wege zum Kommunismus nachgedacht. Hat Marx eine tragfähige politische Theorie entworfen, die als Vorlage für das gesellschaftliche Zusammenleben taugt? Oder anders gefragt: Lohnen sich die Wege zum Kommunismus?

    Arndt: Marx hat anders als viele meinen keine ausgearbeitete Theorie einer kommunistischen Gesellschaft hinterlassen. Er hat es sogar mit zunehmendem Alter immer vehementer abgelehnt, irgendwelche Zukunftsprognosen zu machen. Marx ist ein Anhänger einer Theorie negativer Dialektik. Das heißt also, er zeigt, er versucht zu zeigen, warum die bestehende Gesellschaft so auf Dauer nicht weitermachen kann, überlässt es dann aber im Wesentlichen sozusagen den Diskussionen in der jeweiligen Zeit, nun zu bestimmen und den Ablauf der Ereignisse zu bestimmen, was dann folgen könnte. Er hat keinen Plan in der Tasche.

    Heinemann: Und ist es deshalb regelmäßig schief gegangen, wenn versucht wurde, aus der marxschen Philosophie eine politische oder eine Gesellschaftsordnung zu zimmern?

    Arndt: Es ist deswegen schief gegangen, weil es unter Umständen ins Werk gesetzt wurde, die es nicht erlaubten, eine Grundlage von gesellschaftlicher Produktivität zu schaffen, wie es nach Marx Vorausbedingung war jeglichen gesellschaftlichen Experiments jenseits des Kapitalismus. Das war in Russland nicht gegeben, dort wurde die Industrialisierung erst nachgeholt, es war in China nicht gegeben. Und dann geht es ja darum, dass die Potenzen der gesellschaftlichen Entwicklung so gesteigert werden, dass jedenfalls ein Reichtum zur Verfügung steht, der es erlaubt, darüber nachzudenken, was brauchen wir wirklich, und vor allem auch, wie viel wollen wir arbeiten. Marx hat ja immer diese Abwägung zwischen, wie er sagt, dem Reich der Notwendigkeit, dass Bedürfnisse, nicht nur die reinen Überlebensbedürfnisse gedeckt werden, mit einem Reich der Freiheit, und dieses Reich der Freiheit, das Reich selbstbestimmter Tätigkeit, beginnt sozusagen jenseits des Zwangs zur Arbeit. Also es liegt hier eine Theorie vor, wo die selbstbestimmte freie Zeit eine große Rolle spielt, und das ist eben nur auf der Basis einer bestimmten Produktivität möglich.

    Heinemann: Ein topaktuelles Thema!

    Arndt: Das ist ein hochaktuelles Thema, denn ich meine, wir haben ja diese ganzen Diskussionen über Arbeitszeitverkürzung. Wir haben Situationen, wo viele sich kaputtarbeiten, während andere keine Arbeit haben. Diese Widersprüche natürlich lassen sich im Rahmen dessen analysieren, was Marx "Ökonomie der Zeit" genannt hat. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt seiner Theorie, dass er sagt, alle Ökonomie löst sich in eine solche Ökonomie der Zeit auf, und darüber nachzudenken, glaube ich, lohnt sich, und dazu muss man nicht dogmatischer Marxist sein, um hier ein wirkliches Problem zu erkennen.

    Heinemann: Das Augenfälligste an den sogenannten kommunistischen Regimen, die sich da auf ihn beriefen, war ja die Unfreiheit: in Deutschland Mauer, Stacheldraht, Bautzen und so weiter. Welche Rolle spielt die Freiheit für Marx?

    Arndt: Für Marx spielt Freiheit insofern eine grundlegende Rolle, als er an keiner Stelle gesagt hat, man solle zurückgehen hinter die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution, also der Französischen Revolution. Er hat im Gegenteil das als eine unzureichende Realisierung von Freiheit kritisiert. Er hat gesagt, es gibt so etwas wie eine formelle Gleichheit und Freiheit, aber solange in der ökonomischen Sphäre die Sachen so verteilt sind, dass einige hier, sehr sarkastisch formuliert, sozusagen frei sind von den Mitteln, durch Arbeit ihren Lebensunterhalt wirklich selbstbestimmt erwerben zu können, das heißt, keine Produktionsmittel haben, solange ist die Freiheit nicht wirklich realisiert. Also es geht um einen Zuwachs an Freiheit, aber nicht um das Abschaffen von Freiheit.

    Heinemann: Herr Professor Arndt, "Re-Thinking Marx" ist die internationale Konferenz in Berlin überschrieben. Inwiefern muss oder sollte man Marx heute neu denken und was kann man dabei entdecken?

    Arndt: Na ja, das Erste ist: Man kann ihn, glaube ich, jetzt erst mal völlig frei denken von irgendwelchen Ost-West-Gegensätzen und festgefahrenen Vorurteilen auf beiden Seiten. Das heißt also, man muss ihn historisch denken, das Ausleuchten des ganzen historischen Kontexts. Wir verstehen inzwischen, glaube ich, viel mehr von den Bedingungen, unter denen Marx seine Theorie entwickelt hat, worauf er sich wirklich bezieht. Also eine der großen Stärken der marxschen Theorie, wie er an Gesellschaft rangeht, ist, glaube ich, dass er sozusagen das jenseits heute festgefahrener Arbeitsteilungen in den Wissenschaften tut. Er verbindet ja ganz viele Aspekte miteinander, auch naturwissenschaftliche Aspekte kommen bei ihm mit rein in seine Gesellschaftstheorie, und ich glaube, das ist sowieso schon mal ein sehr interessanter Ansatz. Und dann solche Überlegungen, über die wir vorhin gesprochen haben, wie zum Beispiel das Reich der Freiheit, der Notwendigkeit einer Ökonomie der Zeit, wollen wir uns tatsächlich sozusagen scheinbar objektiven Zwängen aussetzen, wollen wir tatsächlich nur, dass es, wie es so schön heißt, der Wirtschaft gut geht und dann ist alles gerichtet, oder ist die Frage - das sage ich jetzt natürlich als Philosoph - nach dem guten Leben noch eine Frage, die dann überhaupt erst entsteht.

    Heinemann: Im Zeitalter der sozialen Netzwerke bestimmt immer mehr der Schein, also mein Bild oder mein Second Life, mein Avatar, meine Schöpfung in den sozialen Netzwerken das Bewusstsein. Würde er heute vielleicht ein digitales Manifest schreiben?

    Arndt: Ich glaube, er würde gegenüber allen Theorien, die es ja nun auch gibt, im Bereich dieser Medientheorien, die sozusagen von einer zweiten Welt dort sprechen, die sozusagen mit einer handfesten Realität gar nichts mehr zu tun hat, würde er doch geltend machen, dass diese virtuelle Welt rückgebunden bleibt an harte Bedingungen, die nicht innerhalb dieser virtuellen Welt erzeugt werden und die dort auch gar nicht kontrolliert werden können.

    Heinemann: Zum Schluss eine Empfehlung. Welches Werk von Marx sollte lesen, wer den Philosophen bisher noch nicht kennt?

    Arndt: Ach das ist sehr schwer zu sagen, welches Werk man lesen sollte. Ich würde natürlich spontan sagen, man sollte "Das Kapital" lesen, aber dann sollte man es auch nicht bei dem ersten Band bewenden lassen. Die ganz spannenden Sachen kommen eigentlich so im dritten Band. Da geht es um Aktien und Börsenspekulationen und Finanztransaktionen und so, und man sieht dort, wie er das Ganze versucht, in einen großen Zusammenhang zu stellen. Aber ich würde sagen, wenn man Marx als Denker tatsächlich kennenlernen will, auch im Blick auf philosophische Sachen, dann würde ich das sogenannte Methodenkapitel zu den "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" empfehlen.

    Heinemann: Eine Empfehlung von Professor Andreas Arndt. Er lehrt Philosophie an der Humboldt-Universität und referiert dort selbst bei der internationalen Konferenz "Re-Thinking Marx", die heute in Berlin beginnt. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Arndt: Bitte.