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Zum Dichterstaat verfestigt

Die "Süddeutsche Zeitung" nannte das Buch eine "virtuose Gespenstergeschichte". Geschrieben hat sie Ulrich Raulff, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Und die Gespenster, um die es darin geht, sind die Jünger des Dichters Stefan George.

Von Alexandra Kemmerer |
    Es ist Stefan Georges letzter Atemzug, am frühen Morgen des 4. Dezember 1933 in der Klinik von Muralto bei Locarno. Das Herz des "Meisters", wie ihn seine Getreuen nennen, steht still. Zehn Freunde und eine Frau sind um das Totenbett versammelt, darunter Georges letzter Gefährte Frank Mehnert, sein Berliner "Leibarzt" Walter Kempner und die drei Brüder Stauffenberg, Berthold, Alexander und Claus. George ist tot, es beginnt der Kampf um sein Erbe. Die Entscheidung für das Grab im schweizerischen Minusio anstelle einer Gruft in Bingen oder Bamberg lässt sich zugleich als politische Verortung des Dichters jenseits der Grenzen des nationalsozialistischen Deutschland lesen. Während viele seiner Jünger mit den Ideen der Nazis sympathisierten, hatte sich George kulturpolitischen Vereinnahmungsversuchen stets entzogen. Sein Reich war nicht von dieser Welt.

    In Gesten und Codes, inspiriert von Dante und Hölderlin, Hellas und Kyffhäuser, hatte sich sein homoerotisch geprägter Freundesbund zum Dichterstaat verfestigt, zur pädagogischen Provinz, in der Jüngere von älteren Mentoren im Geist des "Meisters" geformt wurden, sich in Dichtung und Bildhauerei übten. Alle Differenz schien im Ästhetischen, in einem geheimnisvoll überhöhten "wahren Deutschtum" aufgehoben, dessen Essenz freilich unbestimmt blieb. Hinter der Loyalität zu George traten alle andern Zugehörigkeiten zurück – auch das Judentum vieler seiner Getreuen. Doch durch den antibürgerlichen Gegenstaat gehen tiefe Risse. George vermeidet deutliche Worte, sein Schweigen im ersten Jahr des Dritten Reiches ist unüberhörbar. Juden und Liberale auf der einen, junge Nazis auf der anderen Seite – dieses Schisma will sich George ersparen. Aber die Wege seiner Jünger trennen sich: Sie führen für die einen in Emigration oder Vernichtung, für die andern an Schaltstellen der Macht. Gegenwärtig aber bleibt das Bild des "geheimen Deutschlands", selbst bei denen, die sich – wie der Historiker Ernst Kantorowicz - später kritisch mit den Abgründen politischer Prophetie auseinandersetzen.

    "Noch lange nach dem offenkundigen Scheitern des Unternehmens "George-Staat" klammerten sich die Jünger an dessen Bruchstücke, so als fürchteten sie in der Flut des Banalen unterzugehen. Wie hoch auch immer der Preis an Zwanghaftigkeit, ja Lächerlichkeit war, den sie zu zahlen hatten – gegenüber einem Leben in der Hölle des Gewöhnlichen schien ihnen ihr altes Leben im Fluidum des Außerordentlichen und in der Gewissheit des Erwähltseins vorzuziehen. Auch in Weltbildruinen lässt sich lange überwintern, und der Staat Georges war eine besonders spektakuläre Ruine: Ein failing state, wie man heute sagen würde, der allmählich in dark networks zerfiel."

    Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt sich Ulrich Raulff bei der Rekonstruktion dieser dunklen Netzwerke zwischen Korrespondenzen, Typoskripten und Zeitzeugenberichten, Gerüchten und Geheimnissen. In der postumen Biografie Georges begegnen dem Leser die federal families der Bundesrepublik, die Weizsäckers, Pichts und Beckers; auch Carlo Schmid, maßgeblicher Autor des Grundgesetzes, hat seinen Auftritt. Wo die personellen Kontinuitäten verblassen, wagt Ulrich Raulff eine, wie er selbst bekennt, "reichlich unbekümmerte Beschreibung" von hoher Präzision, die viele Fäden zu einem lockeren Gewebe verknüpft. Der Autor demontiert mit feiner Ironie die wuchernden Deutungen und Gegendeutungen der George-Interpreten.

    "Ein schlagendes Beispiel ist der ominöse Ausruf von Claus Stauffenberg vor dem Peloton in der Nacht des 21. Juli 1944. Was hat er in diesem letzten Augenblick wirklich gerufen? Es lebe das heilige Deutschland? Das geheiligte Deutschland? Das geheime Deutschland? Alle Vergleiche der Erinnerung an jene Nacht können die Frage nicht definitiv beantworten. Also entscheiden die Interpreten nach Glaubensrichtung und Temperament, dogmatisch der eine, scholastisch der andere, dieser mit Begründung und jener ohne. Es gibt offenbar Fragen, deren logische und historische Nichtbeantwortbarkeit als unerträglich empfunden wird."

    Bei Ulrich Raulff wird das kluge Spiel mit Wahrscheinlichkeiten, Konstellationen und Kontexten zum faszinierenden Vexierbild historischer Reflexion. Sein Buch ist ein Essay, kein Handbuch. Mit sicherem Griff zieht er rote Fäden, enthüllt Knotenpunkte von Dichtung und Politik, Kultur und Macht, lose Texturen und Verflechtungen. Mehr als sieben Dutzend Fotos ergänzen das Tableau biografischer Vignetten.

    Eine der fesselndsten Szenen des Buches spielt in Nürnberg, von November 1947 bis Juli 1949. Im "Wilhelmstraßenprozess" gegen führende Beamte des Auswärtigen Amtes sitzen sich, auf beiden Seiten der Richterbank, plötzlich alte "Georginen" gegenüber. Die Anklage vertritt der frühere preußische Verwaltungsjurist Robert Kempner, prominentester Angeklagter ist Ernst von Weizsäcker, dem sein Sohn Richard als Hilfsverteidiger zur Seite steht. Marion Dönhoff und der Historiker Edgar Salin sind vor Ort. Das Verteidigerteam Ernst von Weizsäckers leitet ein junger Anwalt, der bald zu einer kulturpolitischen Schlüsselfigur der Bundesrepublik avancieren wird: Hellmut Becker, Sohn des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker. Hellmut Becker ist nicht nur ein Kindheitsfreund der Weizsäcker-Söhne, sondern auch ehemaliger Straßburger Assistent des Verfassungsrechtlers Ernst Rudolf Huber, seinerseits ein Schüler Carl Schmitts. Die biografische Spur Beckers ist die vielleicht faszinierendste der vielen Fährten, die Raulff dem Leser auslegt. Im grandiosen Kapitel über die Wiederkehr der pädagogischen Provinz in der bundesrepublikanischen Bildungsreform wird der charismatische Becker zum zentralen Protagonisten – ein "Menschenfischer", der einen Kreis vielversprechender "Beckerjungen" wie den jungen Alexander Kluge oder Joachim Nettelbeck, später Sekretär des von seinem Mentor initiierten Wissenschaftskollegs, an sich zieht.

    "Um 1960 gab es so gut wie keine bedeutende kulturpolitische Einrichtung in der Bundesrepublik, die Becker nicht beraten, keinen kulturpolitisch wichtigen Beirat, dem er nicht angehört hätte; das reichte vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Direktoren Adorno und Horkheimer er sich eng verbunden fühlte, über den Beirat des Münchener Instituts für Zeitgeschichte und den Beirat für innere Führung der Bundeswehr bis zum Kulturbeirat des Auswärtigen Amtes. Becker nutzte diese Gremien und die sich daraus ergebenden Kontakte im Sinn einer Politik durch Netzwerke: eine Struktur der Feinsteuerung, unsichtbar und machtvoll. Intuitiv wusste der Sohn des Ministers, dass sich in solchen Netzen oder Beziehungssystemen so etwas wie das eigentliche Leben der Gesellschaften abspielte."

    1968 ist alles anders. Georges Geburtstag jährt sich zum hundertsten Male, die Weihrauchschwaden der Devotion haben sich verzogen. Hier lässt Raulff seine Geschichte ausklingen. Ihr Ende bleibt offen.

    Ulrich Raulff, der Marbacher Gelehrte mit feuilletonistischem Sensorium für Zeitströmungen und wachem Blick für kulturpolitische Netzwerke, entführt seine Leser auf eine schrecklich-schöne, eine wundersame und abgründige Reise in die Unterwelten des zwanzigsten Jahrhunderts. Bei der Rückkehr sieht man auch die Gegenwart mit neuen Augen.

    Alexandra Kemmerer über: Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. Erschienen bei C.H.Beck, 544 Seiten kosten 29,90.