Samstag, 27. April 2024

Archiv

Zum Tod Harun Farockis
"Er hat die Grenze zwischen dokumentarischem Arbeiten und Kunst aufgelöst"

"Was ist eigentlich Arbeit?" - Diese Frage stand im Zentrum des Schaffens von Harun Farocki. Das Verhältnis von Arbeit und Theatralisierung war ein roter Faden in den Arbeiten des Filmemachers, Drehbuchautors und Künstlers und machte ihn einzigartig, sagte der Kulturredakteur der "taz", Stefan Reinecke, im Deutschlandfunk.

Stefan Reinecke im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 31.07.2014
    Der deutsche Filmkünstler Harun Farocki in seiner Ausstellung "Spiel und Spielregeln" im Edith-Ruß-Haus für Medienkunst in Oldenburg, April 2013
    Der deutsche Filmkünstler Harun Farocki in seiner Ausstellung "Spiel und Spielregeln" im Edith-Ruß-Haus für Medienkunst in Oldenburg im April 2013. (picture alliance / dpa)
    Stefan Koldehoff: Der Filmemacher, Drehbuchautor und Künstler Harun Farocki ist tot. 1944 im damals von den Deutschen annektierten Teil der Tschechoslowakei geboren, kam er 1962 nach Berlin und studierte dort ab 1966 im ersten Jahrgang der neu gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie. Im selben Jahr begann er, eigene Filme zu drehen, die sehr unterschiedlich, in jedem Fall aber schnell wahrgenommen wurden.

    "Nicht löschbares Feuer" von 1969 zum Beispiel wurde sowohl als wichtigster Agitpropfilm der Vietnambewegung gelobt als auch als marxistisches Agitpropstück abgelehnt. Experimentell, dokumentarisch, essayistisch und immer mit eigener Haltung blieben seine Filme, die oft scharfsinnig die moderne Arbeitswelt analysiert haben. Später arbeitete Farocki auch fürs Fernsehen, fürs Theater und immer häufiger auch im Kontext der bildenden Kunst, 2007 zum Beispiel bei der documenta in Kassel.

    Stefan Reinecke, Kulturredakteur bei der "taz" in Berlin, hat Harun Farocki lange gekannt. Ihn hab ich gefragt, ob Farocki selbst eigentlich wichtig fand, in welchem Umfeld seine Arbeit wahrgenommen wurde.
    Stefan Reinecke: Er war wie alle Dokumentarfilmer natürlich interessiert an dem Diskurs. Gerade dokumentarische Filme, dokumentarisches Arbeiten ist angelegt auf Diskussion mit Publikum, und das wollte er. Er wollte sein Publikum erreichen, wie groß das Publikum war, hat für ihn nicht so eine große Rolle gespielt.
    "Schnittstelle zwischen dokumentarischem Arbeiten und künstlerischer Performance"
    Koldehoff: Und ob das, was er da macht, als Kunst angesehen wird oder einfach als Handwerk, ist das wichtig gewesen?
    Reinecke: Ich glaube nicht. Er hat sich ja verwandelt, verändert, er hat diese Grenze zwischen dokumentarischem Arbeiten und zur Kunst hin immer mehr aufgelöst. Die letzte große Arbeit von ihm, "Eine Einstellung zur Arbeit", ist ja genau auf dieser Schnittstelle zwischen dokumentarischem Arbeiten und künstlerischer Performance. Das ist eine Arbeit, die er mit Studenten oder mit Filmschaffenden auf der ganzen Welt gemacht hat, die in kurzer Zeit eins, zwei Minuten Arbeit zeigen, und zwar global.
    Und das ist eine Arbeit, ich glaube wirklich eine letzte große Arbeit, die im zentralen Begriff von Farockis Schaffen gewissermaßen noch mal reflektiert hat, nämlich was ist eigentlich Arbeit. Und das war, glaube ich, ein Thema, über das er seit 40 Jahren in Bildern nachgedacht hat. Das ist das, was ihn so einzigartig gemacht hat. Weil er, glaube ich, als Dokumentarist und in diesem Graubereich zur Kunst hin so genau wie kein anderer Dokumentarfilmer in der Bundesrepublik die tektonischen Veränderungen dieser Gesellschaft in Bildern und analytisch beschrieben hat.
    Koldehoff: "Es ist wichtig, dass es so viele bewegte Bilder in der Kunstwelt gibt, so kommt es zu neuen Sichtweisen", hat Farocki einmal über sein eigenes Arbeiten gesagt. Wir würden Sie diese neuen Sichtweisen, die er versucht hat einzuführen, beschreiben?
    Reinecke: Ich glaube, was ihn interessiert hat, war zu analysieren, zu zeigen, was ist ein Bild. Und ich glaube, es gab keinen anderen Dokumentarfilmer seiner Generation, der so präzise es verstanden hat, Bilder zu lesen, und zwar nicht in dem Sinne zu lesen, dass man irgendwie auf eine These kommt, dass man ein Bild als ein komplexes ästhetisches Phänomen in einen Satz verwandelt, sondern indem man Dinge, die in diesem Bild sind, herausliest.
    Ich erinnere zum Beispiel an einen sehr wichtigen Film von ihm, "Arbeiter verlassen die Fabrik", ein Essayfilm, der als allererstes Bild das allererste dokumentarische Bild zeigt, nämlich Arbeiter verlassen die Fabrik, 1895, die Lumière-Fabrik. Und Farocki zeigt in diesem Film, dass dieses erste dokumentarische bewegte Filmbild der Filmgeschichte selbst ein Narrativ ist, ein Narrativ in dem Sinne, dass der Fabrikbesitzer Lumière das Interesse hat zu zeigen, er hat viele Arbeiter, er will seinen Reichtum dokumentieren, deswegen strömen so viele Arbeiter gleichzeitig aus dem Fabriktor.
    Und die Arbeiter verhalten sich so, dass sie ganz deutlich, theatralisch gehen, um zu zeigen, dass sie sichtbar sind. Und das ist ein Aspekt, den er in sehr vielen Filmen, Bildern immer wieder aufgenommen hat, die Theatralisierung – in welchem Verhältnis stehen Arbeit und Theatralisierung. Das ist auch ein roter Faden durch sein ganzes Schaffen.
    "Arbeit als Inszenierung von Leuten, die Rollen spielen"
    Koldehoff: Würden Sie sagen, dass er damit den dokumentarischen, den essayistischen Film geprägt hat, hinterlässt er etwas?
    Reinecke: Ja, geprägt auf jeden Fall. Geprägt in dem Sinne, dass eben niemand so präzise, so genau, so intellektuell Bilder inszeniert, Bilder gedacht hat wie er und das eben verknüpft hat – und das fand ich das eben Bemerkenswerte an seiner Arbeit immer – verknüpft hat mit analytischen Bildern der Gesellschaft.
    Was er gezeigt hat – ich erinnere an den Film "Managerschulung" (*) Mitte der 80er-Jahre oder "Leben: BRD", wo er gezeigt hat, die Bundesrepublik als eine Gesellschaft, in der sich Arbeit eigentlich theatralisiert, in der Arbeit in dieser postfordistischen Gesellschaft, die nicht mehr geprägt ist durch Fabriken, gezeigt hat, diese Arbeit funktioniert im Grunde genommen als eine Inszenierung von Leuten, die Rollen spielen. Und das hat er – das gab's gewissermaßen in der soziologischen Theorie, ich erinnere an Chiapello/Boltanski, "Der neue Geist des Kapitalismus", aber 15 Jahre später, das hat Farocki schon Mitte der 80er-Jahre verstanden, in Bildern zu erzählen.
    Koldehoff: Stefan Reinecke war das, vielen Dank, Kulturredakteur der "taz", zum Tod des Filmemachers und Künstlers Harun Farocki.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (*) Anm. d. Red.: Gemeint ist an dieser Stelle der Film "Die Schulung".