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Zusammenstoß der Generationen

Freunde der russischen Literatur müssen mit Bedauern feststellen: Neuerscheinungen zeitgenössischer Prosa aus Russland lassen sich an den Fingern abzählen. Umso erfreulicher, dass die großen sozialpsychologischen Romane, mit denen Russland im 19. Jahrhundert in die Weltliteratur eintrat, wieder mehr und mehr ins Blickfeld kommen und - ein Beweis für ihre zeitlose Gültigkeit - zunehmend neu übertragen werden. Nun liegt auch Iwan Turgenjews berühmtester Roman "Väter und Söhne" von 1862 in einer neuen Übersetzung vor und atmet eine ganz überraschende Frische.

Von Karla Hielscher |
    Dieses Buch - entstanden in der Zeit der umwälzenden Reformen Alexanders II., mit denen das rückständige Russland Anschluss an die Entwicklungen in Westeuropa finden sollte, hatte gleich bei seinem Erscheinen in Russland Furore gemacht. Der hier dargestellte Konflikt zwischen der idealistischen Generation der "Väter", der humanistisch gebildeten liberalen Adeligen der 40er Jahre einerseits und der rebellischen, einem kruden Vulgärmaterialismus anhängenden Jugend der 60er Jahre andererseits bewegte damals das gesamte geistige Russland. Turgenjews Roman wurde zum Ausgangspunkt erbitterter politisch-ideologischer Debatten.

    Seine Hauptgestalt, der Medizinstudent und radikale "Nihilist" Basarow, der keinerlei Autoritäten anerkennt, alle bestehenden Werte verneint und zuerst "reinen Tisch machen" will, verkörpert in zugespitzter Form die damals in der russischen revolutionären Jugend verbreiteten Ansichten. Der Begriff "Nihilist" - von Turgenjew in die Literatur eingeführt - wurde zum Schlagwort, und Generationen von Kritikern und Lesern stritten darüber, ob in der kraftvollen Gestalt Basarows die revolutionäre Bewegung bösartig verzerrt oder idealisiert dargestellt sei.

    Die Handlung des Romans spielt kurz vor der Abschaffung der Leibeigenschaft, einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, in der alles Bestehende in Frage gestellt wurde.

    Während eines Sommers auf dem väterlichen Landgut, wo der junge Arkadi und sein von ihm angebeteter Freund Basarow nach Abschluss ihres Studiums die Ferien verbringen, kommt es zum Zusammenstoß der Generationen. Da sind die handlungsschwachen Väter: der weiche, liebenswürdige Nikolai Petrowitsch, der Cello spielt, Puschkin liest und halbherzige Verbesserungen für die Bauern plant, während sein Gut verkommt; sowie sein Bruder, der aristokratische anglophile Grandseigneur Pawel Petrowitsch, der nach einer unglücklichen Liebe zurückgezogen seine Melancholie pflegt. Sie werden mit den ungeschliffenen Manieren und provozierenden Ansichten des Rasnotschinzen Basarow, also eines nichtadeligen Arztsohnes, konfrontiert, der seine Zeit auf dem Gut dazu nützt, Frösche zu sezieren und seinem Gastherrn das materialistische Kultbuch der Zeit, Büchners "Kraft und Stoff" als Lektüre empfiehlt. Kunst und Naturschwärmerei hält er für nutzlosen romantischen Unsinn. Ein "ordentlicher Chemiker" sei "zwanzigmal nützlicher als jeder Dichter". Die Natur sei nur eine Werkstatt, in der der Mensch zu arbeiten habe, und die Liebe betrachtet er allein als physiologisches Phänomen. Alles andere sei "fauler Zauber."

    Neben diesem Hauptkonflikt, der in einem komisch missglückten Duell endet, bietet Turgenjew ein detailreiches Bild der gesellschaftlichen Situation dieser Jahre. Er zeigt die Reste des alten patriarchalischen Russland in der rührenden Gestalt der Eltern Basarows, sowie eine unruhige Jugend, die nach neuen Lebensformen sucht. Und in der satirisch gezeichneten Figur der Kukschina zeigt sich die Problematik der breit diskutierten "Frauenfrage".

    Alle Romane Turgenjews spiegeln die sozialen und geistigen Auseinandersetzungen ihrer Zeit. "Väter und Söhne" aber ist noch stärker als die anderen ein eindrucksvolles und unverzichtbares Dokument zum Verständnis der russischen Geschichte. Darüber informiert kenntnisreich das ausführliche Nachwort des Slawisten Peter Thiergen und eine detaillierte Zeittafel.

    Aber das ist nur ein Grund, weshalb Turgenjews "Väter und Söhne" einen so wichtigen Platz in der russischen Literatur und in der Weltliteratur überhaupt einnimmt. Ein weiterer und noch wichtigerer Grund ist: In diesem Buch wird das immer wiederkehrende Problem des Generationenkonflikts mit ungewöhnlicher Feinfühligkeit und großem psychologischen Einfühlungsvermögen und Verständnis gestaltet. Die berührende Hilflosigkeit der liebenden alten Eltern Basarows, die vergeblich versuchen, dem ihnen längst entwachsenen Sohn alles recht zu machen; die jugendliche Überheblichkeit Arkadis gegenüber seinem Vater, der still und fast schuldbewusst an der Kluft, die ihn von seinem geliebten Sohn trennt, leidet - diese Konflikte - sind sie nicht so oder ganz ähnlich immer wieder aktuell?

    Turgenjew stellt die unterschiedlichen Charaktere und deren Positionen dar, ohne Partei zu ergreifen, er zeigt sie als Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen. Und es ist das Leben in seiner Fülle und Unvorhersehbarkeit, durch das die abstrakten ideologischen Positionen relativiert werden. Basarows anmaßende Haltung gerät ins Wanken und er verliert seine Selbstsicherheit und Arroganz, als er sich wirklich verliebt. Sein plötzlicher Tod infolge einer Leichengiftinfektion, die er sich bei einer Obduktion zuzog, unterstreicht das Scheitern seines theoretischen Zugangs zur Welt.

    Und gerade weil "Väter und Söhne" eben sehr viel mehr ist als ein historischer Gesellschaftsroman, hat es sich gelohnt, ihn noch einmal neu zu übertragen.

    Annelore Nitschkes Neuübersetzung ist eine sehr nah am Originaltext bleibende, genaue Textfassung, jedoch ohne die häufig üblichen "Väterchen" und "Tantchen" und die Umständlichkeiten, die sich aus einer zu wörtlichen Übertragung ergeben.

    Der Roman besteht zum großen Teil aus den Streitgesprächen der Protagonisten, durch deren Sprechweise ihre soziale, ideelle und psychologische Differenzierung deutlich wird. Es kommt also darauf an, die gesprochene Sprache der Dialoge locker und ungezwungen wiederzugeben. Und dies - vor allem auch, den leichtfüßigen, natürlichen Sprachfluss des Originals, die Turgenjewsche Satzmelodie zu bewahren - ist der Übersetzerin wunderbar gelungen.

    Turgenjews Roman "Väter und Söhne", den Thomas Mann zu den Büchern zählte, die er auf eine einsame Insel mitnehmen würde, und den Tschechow "einfach genial" nannte, man sollte ihn in der neuen Übersetzung unbedingt lesen oder wieder lesen!

    Iwan S. Turgenjew: Väter und Söhne
    Winkler Weltliteratur Dünndruck Ausgabe.
    Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke.
    Mit einem Nachwort von Peter Thiergen, Artemis & Winkler 2008, 311 Seiten.