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Zweck seiner selbst

Der Mensch ist Zweck seiner selbst, seine Würde nicht verhandelbar, vor allem aber ist und bleibt er ein Sich selbst Wählender. Das hebt ihn heraus aus der Natur. Es ist dieser Zwang zur Freiheit, der ihn bestimmen lässt, wer er sein will, und auch, wie sein Verhältnis zum Tier ist. Guillebaud möchte darum ein ontologisches Fundament legen für eine autonome politische Willensbildung in der Zukunft.

Von Werner Köhne | 03.11.2004
    Vielleicht wird von der Postmoderne später nur in Erinnerung bleiben, dass sie ein Aufstand gegen die Über-Väter Sartre und Marx war - ein ironischer Diskurs, den andere Zeitgenossen wörtlich nahmen - allzu wörtlich.

    Aus klingenden Begriffmünzen wurde andernorts bare Münze gemacht. So jedenfalls lesen wir es bei Jean- Claude Guillebaud. Direkt neben amerikanischen Literaturinstituten, in denen Dekonstruktion und "la differrance" gelehrt wurde, werkelten Ökonomen und Biokraten längst an der Zukunft des entfesselten Marktes. Die hörten von hübschen Studentinnen nebenan, das Subjekt sei tot, das Reale im Verschwinden begriffen und der Humanismus am Ende – und sie folgerten zynisch: wohl wahr wir werden das durchführen! Und während der Theorie von Lyotard und Co lustvoll der Garaus gemacht wurde, schwoll das Selbstverständnis der Märkte auf metaphysisches Niveau an. Jedem Unternehmen seine Philosophie! Das Geschwisterpaar Wissenschaft und Wirtschaft wilderte fortan auf menschlichem Terrain, drang unter die Haut bis in die Gene vor. Guillebaud sieht in diesem Tabubruch ein Indiz für die Umkehrung einer zweitausend Jahre währenden Maxime: Das Prinzip Mensch galt als unantastbar. Nun droht es zwischen Biotechnologie, Informationsgesellschaft und Marketingstrategien zerrieben zu werden.

    "Das Gefährliche an der biologischen Revolution ist nicht, daß wir den Baum der Erkenntnis entdeckt, sondern daß wir ihn an der Wallstreet verkauft haben." Der Markt ist überall und hat die politische Willensbildung der Lächerlichkeit preisgegeben. Daran ändern nach Guillebaud auch Ethikkommissionen nichts, mittels derer eine verunsicherte Klientel den Entwicklungen in der Eugenik und Neuronenforschung nach hechelt . Während Forscher längst als Unternehmer auftreten, ist die Frage nach den Grenzen der Forschung am Menschen in die Obhut von "Spezialisten gelehrter Unwissenheit" geraten: der Vertreter des Apothekerverbandes und die Professorin für Pädagogik sondieren ihre Felder des Sagbaren, notieren bedächtige Empfehlungen – und im Bundestag findet eine Session mit ernsten Gesichtern statt, die spätestens ein halbes Jahr später durch veränderte Sachlage konterkariert wird.

    An der Schraube der conditio humana wird munter weiter gedreht. Derlei Prozesse sind schleichend, von jener Unheimlichkeit, die wirklichen Veränderungen in der Geschichte der Menschen immer eigen war. Jean Claude Guilleband nennt ein Beispiel für die Absurdität der neuen Schieflage zwischen Moral und der Kraft des Faktischen: Ein Arzt wurde jüngst dafür verurteilt, dass er den Eltern eines ungeborenen Kindes dessen Behinderung verschwieg, die so des Rechts verlustig gingen, den Fötus legal abtreiben zu lassen. Die Logiken fortschreitender Biokratie, gepaart mit Ex- Ästhetiken und Hopp-Ethiken treiben inzwischen skurrile Blüten. Wie in einem Gemischtwarenladen werden die unterschiedlichen Handlungsmaximen in Anschlag gebracht – und dabei ergibt sich eine enorme Sortimenttiefe des Markenartikels Mensch.

    Dem möchte der Autor sein entschiedenes Veto entgegenschleudern.
    Der Mensch- so wird Kant zitiert - ist "Zweck an sich selbst", seine Würde nicht verhandelbar, vor allem aber ist und bleibt er dem Autor zufolge ein Sich selbst Wählender. Das hebt ihn heraus aus der Natur. Obwohl er 95 Prozent seines Erbgutes mit den Schimpansen teilt, ist es dieser Zwang zur Freiheit, der ihn bestimmen läßt, wer er sein will, und auch, wie sein Verhältnis zum Tier ist. Zudem gehen die Herrscher über die Neuronen fehl in der Annahme,daß zu irgendeinem Zeitpunkt das menschliche Hirn mit künstlicher Intelligenz eine Fusion eingehen könnte. Guillebaud beläßt es aber nicht bei den bekannten Einwänden, er möchte seinerseits ein ontologisches Fundament legen für eine autonome politische Willensbildung in der Zukunft.
    Dabei bezieht er sich auf christliches Gedankengut, das allerdings nicht jeder teilen mag: die Passion Christi – so sein Gedanke - schaffe ein Bewußtsein für das Inkommensurable, Nicht -Verfügbare des Menschen. In der christlichen Tradition des Leidens und der Empathie werde der Imperativ der Machbarkeit und Zerlegung des Menschen überstiegen. Eine solche Begründung ließe allerdings auch den Umkehrschluß zu, wie ihn Nietzsche gezogen hat: die Passion Christi bedeutete ja für Nietzsche geradezu das Modell eines verkümmerten Willensbildungsprozesses nach der Art von Sklaven.

    Es steht zu befürchten, dass derlei Alternativen der Zukunft nicht gewachsen sein könnten. Guillebaud fordert angesichts der unheilvollen Verflechtung von Markt und Wissenschaft zu Recht das Primat eines kritischen Denkens zurück, das in den letzten zwei Jahrzehnten verloren ging. Aber ontologisches Rüstzeug wird uns dabei kaum weiterhelfen. Ist es ein Zufall, dass zu den bewegendsten Filmaugenblicken der letzten Jahrzehnte jene Szene in Ridley Scott´s Film "Blade Runner" gehört , als der Roboter, der Replikant, auf der Suche nach seinem Ursprung dem Killer, der ihn töten will, das Leben rettet – aus reinem Prinzip tut er das: das Leben ist ihm heilig. Das ist Science Fiction, bringt jedoch ein Dilemma und eine ethische Alternative auf den Punkt: der Replikant hält uns einen Spiegel vor, in dem wir erkennen, wohin wir uns entwickeln könnten, wenn wir uns so wählten, wie wir als Menschen angelegt sind: Wesen mit Erinnerung, auf der Suche nach dem Sinn, vor dem Tode schaudernd, keinen Wert höher veranschlagend als das Leben.

    Jean Claude Guilllebaud
    Das Prinzip Mensch. Ende einer abendländischen Utopie?
    Luchterhand, 480 S., EUR 25,-