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Zwei Frauen, ein Land

In ihrem dritten Erfolgsroman "Am Rand" schildert Şebnem Işigüzel das Schicksal zweier Frauen: Leyla, die Königin der Müllhalde, und die bürgerlich intellektuelle Yildiz. In einer fantastischen Mischung aus Horrorfilm, Comic und Märchen erzählt die türkische Jungautorin von dem Einfluss, den Familie und Gesellschaft auf den Menschen ausüben - eine Allegorie auf die Türkei nach dem Militärputsch 1980.

Von Marli Feldvoß | 09.02.2009
    Wenn es um die Türkei geht, lassen sich Literatur und Politik nur schwer auseinanderdividieren. Das gilt nicht nur für den streitbaren Orhan Pamuk, den kein Literaturnobelpreis davor schützen kann, vor den Kadi gezerrt zu werden, sondern genauso für Vertreter der jüngeren türkischen Literatur. So machte die junge Şebnem Işigüzel gleich bei ihrem ersten, mit siebzehn veröffentlichten, Kurzgeschichtenband Bekanntschaft mit der Zensur.

    In ihrem mittlerweile dritten, in der Türkei bereits vor drei Jahren erschienenen Erfolgsroman "Am Rand" (Originaltitel: "Müll") profiliert sich die türkische Autorin als leidenschaftliche Erzählerin, die keine Übertreibung scheut und mit ihrer Grausamkeit à la Grand-Guignol bis an die Grenze des Zumutbaren geht. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, Leyla und Yildiz, die, wie die Autorin selbst sagt, sehr vieles gemeinsam haben und vielleicht nur zwei Entwürfe einer einzigen Figur darstellen.

    "Leyla war ein kleines Land, das die Freiheit gewählt und sich von der Hand der Tyrannei gelöst hatte. Dafür nahm sie den Verlust seines Bluts, seines Zusammenhalts und sein Verderben in Kauf. Eine Gesellschaft und ein Land sind zugleich wie ein einzelner Mensch. Um es ganz direkt zu sagen: Wenn Sie genau lesen, werden Sie sehen, dass Leylas Leben das ihres Landes spiegelt."

    Damit wäre schon verraten, dass man den Roman und seine Protagonisten auch als eine Allegorie auf die Türkei nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 lesen kann und soll. Womit auch eine Erklärung dafür gefunden wäre, warum diese Figuren mit einem schier übermenschlichen Überlebenswillen ausgestattet scheinen. So lebt die als "Wirrkopf" und "Weltvergessene" geschilderte, überdies von Flöhen geplagte Leyla, die zu Beginn des Romans gerade ihren vierzigsten Geburtstag feiert und zu diesem Anlass die letzten Reste aus einer Kaviarbüchse kratzt, schon seit dreizehn Jahren auf einer Müllhalde in Istanbul. Dort hat sie es bis zur Müllkönigin gebracht.

    "Der Müll, das sind die Sachen, die man zu Hause nicht mehr haben will, die man wegtut. Und wenn wir heute die türkische Gesellschaft anschauen, dann sieht das nicht viel anders aus. Man will mit der Vergangenheit, mit der Geschichte der Türkei, nichts zu tun haben. Man schiebt das einfach weg, wie Müll. Es ist aber notwendig, dass man diesen Müllberg abträgt und sich mit ihm auseinandersetzt, ihn aufarbeitet und damit die demokratischen Kräfte in der Gesellschaft verstärkt."

    In einer weit gefächerten Rückblende lässt der Roman die Lebens- und Leidensgeschichte der hochbegabten Schachspielerin Leyla Revue passieren, die als Diplomatenkind in Moskau aufgewachsen war, dort erste Schachsiege verbuchte, dann aber - nach einem ominösen "Verkehrsunfall" ihrer Eltern - als Vollwaise in die Türkei zurückkehren musste.

    Dort heiratet Leyla den alkoholkranken Sohn eines Putschgenerals, wird von der Familie drangsaliert, bis sie irgendwann auf der Straße landet. Weniger abenteuerlich ergeht es ihrer Doppelgängerin Yildiz, die im Selbstbehauptungskampf gegen ihr "Muttergespenst" aufgerieben wird und unter allen Umständen die Biografie des Dirigentengotts Eşref Şefik Karacan schreiben will, der plötzlich auf mysteriöse Weise verschwindet. Mord? Die bürgerliche Intellektuelle Yildiz soll wohl das äußerlich unversehrte, dafür innerlich verderbte Spiegelbild der körperlich geschundenen, seelisch aber rein gebliebenen Leyla darstellen.

    Zwei türkische Frauenschicksale also, die unter den Lebensbedingungen nach dem dritten Militärputsch aufgewachsen sind, in die Vorbilder wie "Anna Karenina" oder "Madame Bovary" eingeflossen sind; aber dann taucht neben Anspielungen auf Hitler, Karajan oder Schiwago groteskerweise auch noch ein Papagei namens Flaubert auf und serviert vielleicht den Schlüssel zum bunten Zitatenschatz.

    "Die Ironie macht den Menschen nervös. Sie führt uns vor Augen, wie bedeutungslos das Leben ist. Deshalb liebe ich die Ironie sehr und verwende sie gern als Erzählinstrument. Wie einer von meinen Lehrern, etwa Nabokov, liebe ich es, Spielchen zu machen. Ich will meine Scherze und meine Witze vor dem Leser ausbreiten. Für mich ist die Ironie nur ein freundliches Spiel und ein nettes Vergnügen."

    Der Roman führt die beiden Frauenschicksale in alternierenden Kapiteln parallel, lässt sie - wie bei einem von Leylas Schachspielen - Zug um Zug, gegeneinander vorrücken. Solange, bis Leyla tot und Yildiz verschwunden ist. Şebnem Işigüzel entwirft mit ihren surrealen Szenarien ein barockes Universum des Schreckens, das geradewegs einem Horrorfilm oder auch einem Comic entsprungen scheint und die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit ständig verwischt.

    Die merkwürdigen Gestalten, die auf den Müllhalden der Millionenstadt Istanbul hausen oder im Untergrund ihren schmutzigen Organhandel betreiben sind allesamt Opfer oder auf schreckliche Weise die Gewinner einer Gesellschaft, der jegliche Wertmaßstäbe oder so etwas wie Moral abhanden gekommen scheint.

    Aber dann - in der zweiten Hälfte - fordert die Autorin plötzlich ihre Leser in direkter Ansprache auf, das Buch als einen "autobiografischen Roman" oder als eine Art Tatsachenbericht zu lesen. Den Beweis dafür soll der lange, aus Interviews bestehende Anhang liefern, die sie angeblich selbst geführt habe.

    "Ich wollte den Leser dazu bringen, dass er, wenn er den Roman fertig gelesen hat, ihn gleich noch einmal liest. Ich wollte, dass er herausfindet, wie er übertölpelt wurde. Der Roman geht also nicht still und leise zu Ende, sondern braust noch einmal heftig auf wie ein großes Orchester. Wenn ich mich zuletzt als reale Person mit meinen Figuren treffe und mich heftig von ihnen beschimpfen und kritisieren lasse, führe ich den Leser ganz bewusst auf eine falsche Fährte und habe dabei sehr viel Spaß."

    Şebnem Işigüzel führt mit ihren postmodernen Spielereien den Leser mit Erfolg an der Nase herum. Da zeigt sich noch die frühere Karikaturistin, die ihre scharfen Messer heute lieber als Autorin wetzt. Ihr ganz besonderer gruseliger schwarzer Humor ist aber durchaus Geschmacksache. Am besten lässt man sich einfach vom Strudel ihrer Erzählfreude mitreißen und in dunkle Gewässer abtreiben, wo man nicht nur auf europäische Romanvorbilder stößt, sondern auch auf die Tradition des anatolischen Geschichtenerzählens.

    Die Türkei, so Şebnem Işigüzel, sei vielleicht der Ort, wo sich die Erzählströme von Okzident und Orient zu einem großen gemeinsamen Erzählfluss vereinen. Paradebeispiel sei schließlich ihr großer Bruder und Vorbild Orhan Pamuk.

    Sebnem Isigüzel: Am Rand
    Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann
    Berlin Verlag 2008, 431 Seiten, 19,90 Euro