"Bei dem Band "Offene Unruh" habe ich relativ früh schon den Impuls gehabt, einen geschlossenen Band mit Liebesgedichten zu schreiben. Das war zunächst einmal eine relativ offene Sammlung von vielleicht 20 Gedichten. Dann hatte ich mir vorgenommen, ganz konzise an dem Band zu arbeiten und schnell wurde dann klar, dass das einen gewissen Umfang haben sollte. Und 100 ist eine relativ unverfängliche, im Sinne der Symbolik aber zugleich auch angeberische Zahl – es waren dann aber zum Schluss mehr als 100", sagt Michael Lentz.
Kommt die Liebe, dann geht die Ruhe. Das ist ein Verlust, den Liebende allerdings verschmerzen können, denn sie spüren doch am ganzen Körper, was die Liebe zu bewirken vermag: Liebe versetzt in Unruhe. Michael Lentz spricht im Titel seines Lyrik-Bandes allerdings nicht von "Unruhe", sondern er nennt sein Buch mit 100 Liebesgedichten "Offene Unruh". Dies scheint eine Anspielung auf jenes Teil zu sein, das in mechanischen Uhren Verwendung findet. Die Unruh ist ein Schwungrad – bewegt sie sich, dann geht die Uhr und die vergehende Zeit kann in Stunden, Minuten und Sekunden gemessen werden.
"Das ist ein Fachterminus, aber das ist auch ein Paradox: Die Unruh ist auf der Stelle – Bewegung im Stillstand. Es gibt ja viele kreisende Momente in sich, sich drehende Momente, gewisse Unabgeschlossenheiten formulierter Situationen. Wohingegen ja dann so ein fertig geschriebenes Gebilde wie ein Gedicht mit klar definiertem Anfang und klar definiertem Schluss ein Paradox ist. Da ist etwas, ein Gedicht auf der Papierseite, als vorbefindliche Gestalt statisch. Dann aber die möglicherweise von mir anvisierte gedankliche Tätigkeit des Lesers, der Situationen mit vollzieht, auch über ganz bestimmte versteckte paradoxale Wendungen. Die resultieren ja aus einer gewissen Bewegung heraus, aus einer tatsächlichen Unruhe. (...) In dem Sinne ist der Titel auch eine Miniaturpoetik des Bandes", erklärt Lentz.
Wie die Liebe das lyrische Ich in Bewegung versetzt und es in Bewegung hält, davon handelt das Gedicht "Ich zittre und merke":
ich zittre und merke
ich bin verliebt
das geht vorüber wie hunger
der nicht gestillt wird
den man übergeht auf die heilige speise zu
ein schreiender baum im sommersatten feld
blattlos ohne bodenkontakt
und doch so gänzlich schön
die erhabene krone lenkt ab davon
was wirklich ist
ins geäst ging der blitz
der stamm steht gespalten
jetzt weiß ich nicht wohin
Dass die Liebe kein Ruhekissen ist, weiß Michael Lentz, der nicht davor zurückschreckt, auch solche hinlänglich bekannten Feststellungen in seinen Gedichten zu erwähnen:
"Das ist ja zunächst einmal ein ultrabanaler Sachverhalt. Also, banaler geht es ja gar nicht mehr. Was mich daran interessiert ist das Parallellaufen von körperlicher Selbstwahrnehmung, ohne dafür einen Begriff zu haben. Verwirrung! Irgendetwas ist im Gange und man hat dafür keinen Begriff. Deshalb ist es ja immer wieder das alte Thema: Für etwas Worte zu finden oder für etwas eine Atmosphäre finden. Es ist ja nicht sofort zur Hand und es bedarf auch oft eines längeren Reflektierens über etwas, bis man sich etwas so selbst gegenüber Vergegenwärtigtes auf den Begriff bringen kann."
Michael Lentz gibt sich in diesen Liebesgedichten zwar einem überwältigenden Gefühl hin, hält es aber mit Schiller, der in seiner Kritik zu Bürgers Gedichten davon spricht, dass man "in einem hochgekochten Zustand eher um Worte ringt, als das man sie findet". Wenn in den Gedichten von Michael Lentz das Gefühl zu weit nach vorn geprescht ist, versucht der Autor es mittels des Verstandes wieder zurückzuholen. Natürlich weiß das sprechende Ich, was es heißt, von Sinnen zu sein. Dieses Wissen aber ist ihm zu wenig, weshalb es zu ergründen versucht, worin die geheime Kraft des Sinnlichen besteht.
man könnte liebe mit ruhe verwechseln
und niemand regte sich
es regt sich auch sonst niemand
liebe ist was zum verwechseln
fertigbau mit energieausweis
kinder gehen bald zur schule
ich – und kompliziert
hast du mal gesagt kannst dich nicht erinnern
ist gar nicht so lange her
spielt auch keine rolle
jedenfalls wollte ich wissen warum
es nicht reicht und warum es hier so still ist
es ist hier so ausgestorben
mit liebe zu verwechseln
Lentz spielt in den Gedichten verschiedene Stimmungslagen durch, die zur Liebe gehören, wobei er nicht nur die hohen Glücksgefühle aufruft, sondern auch die bitteren Momente benennt, die Liebende kennen. Sein lyrisches Ich ist sich nie der Liebe sicher. Gerade deshalb staunt und wundert es sich immer wieder, was die Liebe alles kann und was zur Liebe gehört.
Wenn zum Beispiel die Geliebte schweigt, dann ist das lyrische Ich in höchstem Maße irritiert. Denn ihr Verstummen übersteigt das Maß des Erträglichen.
an niemand
dein schweigen ist kolossal
es ist ein mörser und zermörsert mich
keine antwort ist nicht auch eine antwort
keine antwort ist der freie fall
dein schweigen – so viele stimmen
die ohrenbetäubend sind
dein schweigen macht dich ganz an
wesend passierst nur du
denn da ist keine stelle
die dich nicht hört
dein schweigen fegt mich hinaus
ich b
leib
e
wie spinnennetz zerstört
deinen körper entsinne ich
wie all die erinnerten dinge
bist du irgendwo
dass du noch bist genügt
dein schweigen setzt da an wo ich
keine irrfahrt mehr weiß dir zu entkommen
es ist schrecklicher noch als der gesang
der lippen die mich umfangen
es ist jetzt alles wie alles
wohin ich mich auch wende ist meuterei
(..)
Eine schweigende Geliebte ist die Hölle. Der Liebende, den es in diese Hölle verschlagen hat, hofft sehnsuchtsvoll auf ein Wort, auf das sie ihn jedoch warten lässt. Sie lässt sich Zeit mit dem erlösenden Wort, auch deshalb, weil kein Schweigen entschiedener zu artikulieren vermag, was sie zum Ausdruck bringen will.
Lentz:
"Das ist ein alter Topos (..). Und das Gegenstück, das mit dem Schweigen korrespondiert, wäre für mich die Ekstase. Ekstase in dem Sinne vielleicht, dass man sich abgefunden hat, dass das Gegenüber schweigt, das ist ja auch wie in der Gotteserfahrung: man findet sich ab, dass das Gegenüber nicht antwortet. Was aber nicht hindert, dass man gerade daraus ein gestärktes Selbstbewusstsein entfaltet und möglicherweise bestimmte ekstatische Momente entfachen kann. Und dieses Schweigen (..) ist ja schon die Echowirkung, und das, was dann in die Waagschale des Echos geworfen wird, muss man selbst hervorbringen. Wenn man selbst der Fragesteller ist und der Antwortgeber, wenn man aus sich selbst heraustritt, um in sich selbst wieder hineinzukommen – über den Umweg zum Beispiel auch von Gedichten – dann ist das etwas (..), wo das Schweigen der eigentliche Motor ist und die eigentliche Initiation auch. Auf der anderen Seite ist ja Schweigen – wie man das aus der Tradition her kennt – auch das Ausgangsphänomen größter Verzweiflung."
Die Liebesgedichte von Michael Lentz halten Zwiesprache mit einem überwältigenden Gefühl, ohne dem Kitsch zu verfallen, der ja bei Liebesgedichten förmlich auf der Lauer zu liegen scheint. Seine Gedichte sparen das Gefühl sprachlos machender Verliebtheit nicht aus. Zum Erlebnis wird die Lektüre dieser Gedichte, weil Lentz ein lyrisches Ich zu Wort kommen lässt, dass das Glücksgefühl der Liebe kennt, ohne sich darin schwelgend zu verlieren. Vielmehr versucht es im Genuss zu ergründen, wie sich in Worte fassen lässt, was ihm widerfahren ist. Lentz knüpft in seinen Gedichten ein Netz aus Worten, in dem feinste Gefühlsregungen aufgehoben sind. Dazu zählen auch jene Momente von Verzweiflung und Vergänglichkeit, die er in seinen Liebesgedichten nicht ausspart.
Ein gutes Liebesgedicht muss sich für Michael Lentz dadurch auszeichnen, dass man es immer wieder lesen will. Gedichte, die diesem Anspruch gerecht werden, hat Michael Lentz in seinem Lyrik-Band "Offene Unruh" versammelt, ein Band, der in jede Hand- oder Jackentasche passt, und der darauf wartet, gelesen zu werden.
Michael Lentz: Offene Unruh. Gedichte.
S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2010.
167 Seiten, 16,95 Euro.
Kommt die Liebe, dann geht die Ruhe. Das ist ein Verlust, den Liebende allerdings verschmerzen können, denn sie spüren doch am ganzen Körper, was die Liebe zu bewirken vermag: Liebe versetzt in Unruhe. Michael Lentz spricht im Titel seines Lyrik-Bandes allerdings nicht von "Unruhe", sondern er nennt sein Buch mit 100 Liebesgedichten "Offene Unruh". Dies scheint eine Anspielung auf jenes Teil zu sein, das in mechanischen Uhren Verwendung findet. Die Unruh ist ein Schwungrad – bewegt sie sich, dann geht die Uhr und die vergehende Zeit kann in Stunden, Minuten und Sekunden gemessen werden.
"Das ist ein Fachterminus, aber das ist auch ein Paradox: Die Unruh ist auf der Stelle – Bewegung im Stillstand. Es gibt ja viele kreisende Momente in sich, sich drehende Momente, gewisse Unabgeschlossenheiten formulierter Situationen. Wohingegen ja dann so ein fertig geschriebenes Gebilde wie ein Gedicht mit klar definiertem Anfang und klar definiertem Schluss ein Paradox ist. Da ist etwas, ein Gedicht auf der Papierseite, als vorbefindliche Gestalt statisch. Dann aber die möglicherweise von mir anvisierte gedankliche Tätigkeit des Lesers, der Situationen mit vollzieht, auch über ganz bestimmte versteckte paradoxale Wendungen. Die resultieren ja aus einer gewissen Bewegung heraus, aus einer tatsächlichen Unruhe. (...) In dem Sinne ist der Titel auch eine Miniaturpoetik des Bandes", erklärt Lentz.
Wie die Liebe das lyrische Ich in Bewegung versetzt und es in Bewegung hält, davon handelt das Gedicht "Ich zittre und merke":
ich zittre und merke
ich bin verliebt
das geht vorüber wie hunger
der nicht gestillt wird
den man übergeht auf die heilige speise zu
ein schreiender baum im sommersatten feld
blattlos ohne bodenkontakt
und doch so gänzlich schön
die erhabene krone lenkt ab davon
was wirklich ist
ins geäst ging der blitz
der stamm steht gespalten
jetzt weiß ich nicht wohin
Dass die Liebe kein Ruhekissen ist, weiß Michael Lentz, der nicht davor zurückschreckt, auch solche hinlänglich bekannten Feststellungen in seinen Gedichten zu erwähnen:
"Das ist ja zunächst einmal ein ultrabanaler Sachverhalt. Also, banaler geht es ja gar nicht mehr. Was mich daran interessiert ist das Parallellaufen von körperlicher Selbstwahrnehmung, ohne dafür einen Begriff zu haben. Verwirrung! Irgendetwas ist im Gange und man hat dafür keinen Begriff. Deshalb ist es ja immer wieder das alte Thema: Für etwas Worte zu finden oder für etwas eine Atmosphäre finden. Es ist ja nicht sofort zur Hand und es bedarf auch oft eines längeren Reflektierens über etwas, bis man sich etwas so selbst gegenüber Vergegenwärtigtes auf den Begriff bringen kann."
Michael Lentz gibt sich in diesen Liebesgedichten zwar einem überwältigenden Gefühl hin, hält es aber mit Schiller, der in seiner Kritik zu Bürgers Gedichten davon spricht, dass man "in einem hochgekochten Zustand eher um Worte ringt, als das man sie findet". Wenn in den Gedichten von Michael Lentz das Gefühl zu weit nach vorn geprescht ist, versucht der Autor es mittels des Verstandes wieder zurückzuholen. Natürlich weiß das sprechende Ich, was es heißt, von Sinnen zu sein. Dieses Wissen aber ist ihm zu wenig, weshalb es zu ergründen versucht, worin die geheime Kraft des Sinnlichen besteht.
man könnte liebe mit ruhe verwechseln
und niemand regte sich
es regt sich auch sonst niemand
liebe ist was zum verwechseln
fertigbau mit energieausweis
kinder gehen bald zur schule
ich – und kompliziert
hast du mal gesagt kannst dich nicht erinnern
ist gar nicht so lange her
spielt auch keine rolle
jedenfalls wollte ich wissen warum
es nicht reicht und warum es hier so still ist
es ist hier so ausgestorben
mit liebe zu verwechseln
Lentz spielt in den Gedichten verschiedene Stimmungslagen durch, die zur Liebe gehören, wobei er nicht nur die hohen Glücksgefühle aufruft, sondern auch die bitteren Momente benennt, die Liebende kennen. Sein lyrisches Ich ist sich nie der Liebe sicher. Gerade deshalb staunt und wundert es sich immer wieder, was die Liebe alles kann und was zur Liebe gehört.
Wenn zum Beispiel die Geliebte schweigt, dann ist das lyrische Ich in höchstem Maße irritiert. Denn ihr Verstummen übersteigt das Maß des Erträglichen.
an niemand
dein schweigen ist kolossal
es ist ein mörser und zermörsert mich
keine antwort ist nicht auch eine antwort
keine antwort ist der freie fall
dein schweigen – so viele stimmen
die ohrenbetäubend sind
dein schweigen macht dich ganz an
wesend passierst nur du
denn da ist keine stelle
die dich nicht hört
dein schweigen fegt mich hinaus
ich b
leib
e
wie spinnennetz zerstört
deinen körper entsinne ich
wie all die erinnerten dinge
bist du irgendwo
dass du noch bist genügt
dein schweigen setzt da an wo ich
keine irrfahrt mehr weiß dir zu entkommen
es ist schrecklicher noch als der gesang
der lippen die mich umfangen
es ist jetzt alles wie alles
wohin ich mich auch wende ist meuterei
(..)
Eine schweigende Geliebte ist die Hölle. Der Liebende, den es in diese Hölle verschlagen hat, hofft sehnsuchtsvoll auf ein Wort, auf das sie ihn jedoch warten lässt. Sie lässt sich Zeit mit dem erlösenden Wort, auch deshalb, weil kein Schweigen entschiedener zu artikulieren vermag, was sie zum Ausdruck bringen will.
Lentz:
"Das ist ein alter Topos (..). Und das Gegenstück, das mit dem Schweigen korrespondiert, wäre für mich die Ekstase. Ekstase in dem Sinne vielleicht, dass man sich abgefunden hat, dass das Gegenüber schweigt, das ist ja auch wie in der Gotteserfahrung: man findet sich ab, dass das Gegenüber nicht antwortet. Was aber nicht hindert, dass man gerade daraus ein gestärktes Selbstbewusstsein entfaltet und möglicherweise bestimmte ekstatische Momente entfachen kann. Und dieses Schweigen (..) ist ja schon die Echowirkung, und das, was dann in die Waagschale des Echos geworfen wird, muss man selbst hervorbringen. Wenn man selbst der Fragesteller ist und der Antwortgeber, wenn man aus sich selbst heraustritt, um in sich selbst wieder hineinzukommen – über den Umweg zum Beispiel auch von Gedichten – dann ist das etwas (..), wo das Schweigen der eigentliche Motor ist und die eigentliche Initiation auch. Auf der anderen Seite ist ja Schweigen – wie man das aus der Tradition her kennt – auch das Ausgangsphänomen größter Verzweiflung."
Die Liebesgedichte von Michael Lentz halten Zwiesprache mit einem überwältigenden Gefühl, ohne dem Kitsch zu verfallen, der ja bei Liebesgedichten förmlich auf der Lauer zu liegen scheint. Seine Gedichte sparen das Gefühl sprachlos machender Verliebtheit nicht aus. Zum Erlebnis wird die Lektüre dieser Gedichte, weil Lentz ein lyrisches Ich zu Wort kommen lässt, dass das Glücksgefühl der Liebe kennt, ohne sich darin schwelgend zu verlieren. Vielmehr versucht es im Genuss zu ergründen, wie sich in Worte fassen lässt, was ihm widerfahren ist. Lentz knüpft in seinen Gedichten ein Netz aus Worten, in dem feinste Gefühlsregungen aufgehoben sind. Dazu zählen auch jene Momente von Verzweiflung und Vergänglichkeit, die er in seinen Liebesgedichten nicht ausspart.
Ein gutes Liebesgedicht muss sich für Michael Lentz dadurch auszeichnen, dass man es immer wieder lesen will. Gedichte, die diesem Anspruch gerecht werden, hat Michael Lentz in seinem Lyrik-Band "Offene Unruh" versammelt, ein Band, der in jede Hand- oder Jackentasche passt, und der darauf wartet, gelesen zu werden.
Michael Lentz: Offene Unruh. Gedichte.
S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2010.
167 Seiten, 16,95 Euro.