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Zwischen Scham, Schuld, Angst und Ekel

Neurowissenschaft.- Die Pubertät stellt bekanntlich vieles auf den Kopf - darunter die bisherige Weltansicht und das Rollenverständnis fast aller Jugendlichen dieser Welt. Londoner Forscher haben nun untersucht, wie sich diese Veränderungen im Gehirn widerspiegeln.

Von Katrin Zöfel |
    Eine Tasse mit schimmligen Kaffeeresten ist immer eklig, egal, ob man sie alleine entdeckt oder ob jemand dabei ist. Anders ist es, wenn jemand unter der Dusche singt. Solange er denkt, er wäre allein, fühlt er sich wohl dabei. Taucht jedoch ein Zuschauer auf, schämt sich der Sänger und verstummt. Beim Gesang unter der Dusche macht es also einen Unterschied, ob jemand in der Nähe ist oder nicht. Wissenschaftler sprechen von sogenannten sozialen Emotionen.

    Diese sozialen Emotionen, sagt Anne-Lise Goddings, verändern sich in der Adoleszenz, also wenn Kinder zu Jugendlichen und schließlich zu Erwachsenen werden. Die Forscherin vom University College London untersucht, wie sich diese Veränderungen im Gehirn widerspiegeln. Für ihre aktuelle Studie schob sie 42 Mädchen im Alter von 11 bis 13 Jahren in die Röhre eines Hirnscanners und ließ die Mädchen dort vier kurze Sätze lesen, die emotional aufgeladen sind:

    "Der Satz für Ekel war: ‚Deine Freundin übergibt sich direkt neben Dir, und Du kannst das riechen.‘ Der Satz für Angst lautete: ‚Deine Freunde rufen, dass Du eine Wespe im Pulli hast‘. Der für Scham hieß: ‚Dein Vater tanzt mitten im Supermarkt Rock’n’Roll.‘ Und der für Schuldgefühle: ‚Ein paar Leute lachen Deine beste Freundin aus, und Du lachst einfach mit.‘"

    Die Sätze, sagt Goddings, sind so ausgewählt, dass die Reaktionen deutlich ausfallen, die Probandinnen aber nicht gleich vor lauter Unwohlsein aus der Hirnscanner-Röhre fliehen wollen.

    "Wir baten die Mädchen also, sich in der Röhre liegend in diese Situationen hineinzuversetzen. Dabei überwachten wir ihre Hirnaktivität. Angst und Ekel lösten bei allen in etwa die gleiche Hirnaktivität aus. Bei den sozialen Emotionen Scham und Schuld dagegen fanden wir Unterschiede."

    Die Aktivitäten, die die Sätze für Scham und Schuld im Gehirn auslösen, wandeln sich, je älter und je reifer die Mädchen waren. Goddings‘ Ziel war es, den Einfluss des Alters und den Einfluss der sexuellen Reife auseinanderzuhalten. Deshalb bestimmte sie vor dem Experiment den pubertären Entwicklungsstand ihrer Studienteilnehmerinnen – anhand ihres Körperbaus, des Hormongehalts im Speichel und einer Selbsteinschätzung. Das ist neu:

    "Bisher haben die meisten Studien nur das Alter der Jugendlichen betrachtet. Aber die hormonelle Entwicklung, also die Pubertät, ist natürlich auch immens wichtig."

    Einige der Probandinnen waren mit elf Jahren schon sexuell reif, andere mit 13 noch weit zurück. Also konnte Goddings versuchen, beide Faktoren, Alter und Pubertät, in ihrem Einfluss auf soziales Erleben voneinander zu unterscheiden. Ihre Studie sei zwar klein, betont Goddings, und die Ergebnisse damit noch vorläufig, aber es zeichne sich ein erstes Bild ab: Hirnregionen, die für vernünftiges Urteilen und Planen in sozialen Situationen wichtig sind, verändern sich abhängig vom Alter, also abhängig davon wie viele Erfahrungen ein Mensch schon gemacht hat. Hirnregionen dagegen, die für das Erinnern von sozialen Situationen und den zugehörigen Gefühlen wichtig sind, verändern sich mit der Pubertät, also abhängig vom Hormonhaushalt der Probandinnen. Goddings‘ Kollege, Ronald Dahl von der US-Universität von Kalifornien in Berkeley, forscht mit seiner eigenen Arbeitsgruppe an ähnlichen Fragen. Er sagt:

    "Diese Studie ist spannend, weil viele Arbeiten die Pubertät als Faktor bisher ignoriert haben, nicht zuletzt weil es gar nicht so einfach ist, die sexuelle Reife exakt zu messen. Doch wenn wir verstehen wollen, wie das Gehirn in der Adoleszenz heranreift, müssen wir den Effekt von Alter und Pubertät sauber auseinanderhalten."

    Ergebnisse aus seiner Arbeitsgruppe, sagt er, bestätigen, was die Londoner gefunden haben. Das vorläufige Fazit der Forscher: Die Veränderungen, die das Gehirn während der Adoleszenz durchläuft, sind komplexer als lange vermutet und werden dabei von mindestens zwei Faktoren beeinflusst: von den gemachten Erfahrungen der Person und von ihrer sexuellen Reife. Die Londoner Arbeitsgruppe will sich als nächstes den Effekt der Pubertät auf die Risikobereitschaft männlicher Jugendlicher vornehmen. Klar sei, so Goddings, dass manches Verhalten, das aus Erwachsenensicht gefährlich oder unvernünftig scheine, für die Entwicklung der jungen Leute wohl unverzichtbar sei.