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100 Jahre Dadaismus
Geschichte einer eigenartigen Kunstform

"Eine Jahrhundertgeschichte" nennt der promovierte Komparatist Martin Mittelmeier sein Buch über Dada, das pünktlich zum 100. Jubiläum dieser ästhetischen Bewegung erscheint. Sein Fazit: Dada ist heute, was Dadaisten nie sein wollten - avantgardistische Klassik.

Von Ralph Gerstenberg | 05.02.2016
    "Die Journalisten" von Hannah Höch aus dem Jahr 1925.
    "Die Journalisten" von Hannah Höch aus dem Jahr 1925. (dpa/picture alliance/Stephanie Pilick)
    Martin Mittelmeier nähert sich sehr behutsam seinem Thema. Und zwar mit dem gut betuchten Kosmopoliten Harry Graf Kessler, der mit seinem umfangreichen Tagebuchwerk zu einem Chronisten seiner Epoche wurde. Kessler kam im September 1916 nach Zürich und war auf der Suche nach dem Cabaret Voltaire, das Hugo Ball und Emmy Hennings mit ihren Mitstreitern Tristan Tzara, Hans Arp, Richard Huelsenbeck und Marcel Janco am 5. Februar des selben Jahres gegründet hatten.
    "Er hat von seinem Freund Johannes R. Becher davon gehört, dass es dort dieses seltsame Cabaret geben soll. Es gibt da ein schönes Zitat, wo schon ganz viel Mythologie herrscht, wo alles von vorne bis hinten nicht stimmt, was Becher darüber erzählt. Und Kessler begibt sich dann auf die Suche, und er findet es erst mal nicht. Er bekommt dann die Nachricht, es ist schon tot, es ist gar nicht mehr da, was natürlich gar nicht stimmt. Aber so hat man die Chance, sich in kleinen Etappen dem Phänomen Dada zu nähern, bevor man dann tatsächlich wirklich auf der Bühne mit dabei steht."
    Zum Zeitpunkt seiner Gründung war das Cabaret Voltaire nicht viel mehr als eine weitere Kleinkunstbühne in Zürich, wo seit Beginn des Ersten Weltkrieges Emigranten aus aller Herren Länder Zuflucht suchten. Wladimir Iljitsch Lenin war in jener Zeit Stammgast im Café Odeon, James Joyce schrieb hier an seinem "Ulysses". Und auch das Künstlerpaar Hugo Ball und Emmy Hennings zog es an die Limmat, wo sich die beiden aus finanziellen Gründen einer Varietégruppe anschlossen - Ball als Pianist, Hennings als Diseuse und Darstellerin. In der ersten Zeit des Cabaret Voltaire griffen sie auf dieses Varieté-Repertoire gerne zurück. Hinzu kamen Publikumsdarbietung auf der offenen Bühne sowie die Lieblingsnummern ihrer Mitstreiter, von Erich Mühsams "Revoluzzerlied" bis hin zu Gedichten von Jakob van Hoddis.
    "Eine typische Nummer, auf die Ball nicht wenig stolz ist, ist der "Totentanz". Ball intoniert das Volkslied "So leben wir alle Tage", das Publikum erkennt es sofort, summt mit, wippt mit, es ist ein Lied, das sich durchaus zur Truppenmoralstärkung nutzen lässt. Aber dann beginnt Hennings ihren Gesang mit dem geänderten Text: "So sterben wir, so sterben wir / Und sterben alle Tage; manchmal verstärkt ein sich einfindender 'Revoluzzerchor' die Wirkung."
    Eine von Rückblenden unterbrochene Chronologie
    "Es ist eine Antwort auf den Schock, den der Erste Weltkrieg erzeugt in vielerlei Hinsicht, dass man ja gar nicht absehen konnte, was das für ein mörderischer Krieg ist. Aber ich glaube, dass das Phänomen Dada umso mehr Spaß macht, je mehr man auch noch etwas weiter dahinter guckt, weil die Künstler auf ganz verschiedene Art und Weise zehren können von dem, was sich vorher in der Veränderung der Welt auch schon ästhetisch gezeigt hat: Expressionismus, Kubismus, Futurismus. Alles, wogegen sich die Dadaisten dann später vielleicht auch mal stellen, davon zehren sie, davon leben sie, das kuratieren sie eigentlich im Cabaret Voltaire. Das stellen sie aus. Damit spielen sie, das probieren sie aus."
    Martin Mittelmeier erzählt die Geschichte der Dada-Bewegung in einer von Rückblenden unterbrochenen Chronologie. So gelingt es ihm elegant, die Erzählung voranzutreiben und tradierte Einflüsse herauszuarbeiten. Zudem verweist er auf die Situation des Künstlers zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der sich mit Phänomenen der Urbanität konfrontiert sieht und sich zerrissen fühlt, angesichts einer komplexer werdenden Welt mit einer unüberschaubaren Fülle von Ereignissen. Auch verwandte Vorläufer und Parallelentwicklungen zum Dadaismus, wie die der Ready-mades von Marcel Duchamp, werden von Mittelmeier ins Blickfeld gerückt, ohne seinen Hauptgegenstand aus dem Auge zu verlieren. In Zwischenkapiteln, so genannten Intermezzi, sammelt er schließlich Legenden, Geschichten und Anekdoten, die in ihrer Widersprüchlichkeit zur großen Dada-Erzählung gebündelt werden, zum Beispiel in dem Intermezzo "Wortfindungsstörungen":
    "Als Tzara nicht aufhörte, wegen des Namens der neuen Kunstrichtung zu nerven, greift Ball zum französischen Wörterbuch, schlägt eine beliebige Seite auf und deutet blind auf das Wort: Dada. Es war Hülsenbeck, der das Wörterbuch aufgeschlagen hat. Es war Hennings. Es war nicht Janco. Arp bestreitet alles. Was es sehr wahrscheinlich macht, dass er es war. Es war Tzara. Tzara ist das Wort am 8. Februar 1916 um sechs Uhr abends eingefallen. Arp war mit seinen zwölf Kindern dabei, kann es also bezeugen. Es ereignete sich im Café de la Terasse in Zürich, als Arp gerade eine Brioche im linken Nasenloch trug. Alles wahr."
    "Ich hab ja mehrere Intermezzi in dem Buch, und das ist auch ein bisschen ein Trick, weil das Schöne an der Geschichte von Dada ist, dass die Quellenlage einigermaßen dünn ist, die Geschichten aber sehr vielfältig sind. Man hat da eine gewisse Diskrepanz, es bilden sich viele Mythen. Das heißt, wenn ich über gewisse Szenen verschiedene Angebote mache, was wirklich stattgefunden hat, dann kann ich mich auch bedienen von all den Mythen, die die Dadaisten selbst geschaffen haben."
    Ausführliche Beschäftigung mit Hugo Ball
    Ausführlich widmet sich Martin Mittelmeier dem Auftritt von Hugo Ball im kubistischen Kostüm, der zu einer Schlüsselszene der Dada-Bewegung wurde. Einerseits weil Hugo Ball, der eigentlich lieber im Hintergrund agierte, als bewegungsunfähiger, von Papprollen umhüllter Prophet im Rampenlicht stand, zum andern weil er seine ungewöhnliche Antiperformance mit programmatischen Sätzen einleitete, die in der Rezeption zum dadaistischen Statement schlechthin wurden.
    "Ball kündigt Gedichte an, aber solche mit Versen ohne Worte, Gedichte also, die auf die Semantik der Sprache verzichten. Denn um die Sprache ist es laut Ball schlecht bestellt. Er möchte 'keine durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache' benutzen müssen. Um den "letzten heiligen Bezirk" der Dichtung zu beschützen, opfert er die Worte aus zweiter Hand und erfindet stattdessen eigene "funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch".
    "Dabei kommt er in ein liturgisches Lamento hinein. Er kriegt eine gewisse Krise auf der Bühne, er weiß nicht, wie er weitermachen soll, und eigentlich macht er dann einen Gottesdienst daraus. Er kommt als Schamane und geht als magischer Bischof. Ich glaube, wenn man ihn als magischen Bischof immer bezeichnet, dann ist das schon quasi ein Schritt raus aus dem Cabaret Voltaire. Das ist die große Leistung von Hugo Ball, dass er jetzt nicht von vornherein den Plan hatte, so etwas zu machen wie Dada, sondern dass es über viele Etappen dazu kam und dass er das so lange ausgehalten hat als jemand, der das auch zusammengehalten hat. Er ist dann aber der erste, der diese Fluchtbewegung macht."
    Hugo Ball und Emmy Hennings ziehen sich bereits 1917 aus der Dada-Bewegung zurück, um sich im abgeschiedenen Tessin ganz dem Schreiben zu widmen. Tristan Tzara, der begabteste Netzwerker unter den Dadaisten, geht nach Paris, Richard Huelsenberg nach Berlin, um dort die Dada-Botschaft weiterzuverbreiten. Offene Ohren und eine neue Gefolgschaft sind ihnen gewiss. Dada ist inzwischen zu einem Mythos geworden, der Künstlerinnen und Künstler wie Hannah Höch, John Heartfield, George Grosz, André Breton und Kurt Schwitters inspiriert. Es werden unzählige Manifeste verfasst, Richtungsstreits ausgetragen, der Traditionsbruch wird zum Dogma: Wehe dem, der in Verdacht gerät, Expressionist zu sein oder gar in irgendeiner Form an die Klassik anzuknüpfen! Martin Mittelmeier widmet sich mit großer Lust und sprachlicher Präzision den Dada-immanenten Widersprüchen, Provokationen und Absurditäten. In seinem Buch sucht er nach den paradoxen Strategien der Dadaisten, ihren Kunst- und Lebensentwürfen, nach der geistigen und kulturellen Atmosphäre eines Phänomens, dessen symbolische Grabsetzung 1922 ausgerechnet in der Heimstatt der Klassik, in Weimar, stattfand, wo Tristan Tzara dem Wort Dada eine große Zukunft im allgemeinen Sprachgebrauch prophezeite.
    "Nämlich so, wie man halt sagt: Das ist jetzt aber ein schöner romantischer Sonnenuntergang, kann man zu irgendeiner Szene, die vielleicht eher unromantisch ist, sagen: Das ist ja voll Dada. Oder: Wie Dada bist du denn drauf? Und ein bisschen hat er damit recht. Das kommt einem ja immer wieder unter, dass Dada eine Beschreibung für manchmal auch unfreiwillig komische Sachen ist, manchmal für Sprechakrobatiken. Das ist dann so ein bisschen die Frage: Ist das ein Klassikerstatus? Oder hat sich Dada da so ein bisschen auch totgesiegt, weil es dann so völlig applizierbar ist an ganz unterschiedliche, vielleicht auch schwächere Phänomene, als es eigentlich Dada sein könnte."
    Martin Mittelmeier "DADA. Eine Jahrhundertgeschichte"
    Siedler Verlag, 272 Seiten, 22,99 Euro.