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100 Jahre deutsch-dänische Grenze
Minderheitenpolitik mit Vorbildcharakter für Europa

Die deutsch-dänische Grenzregion ist ein Beispiel dafür, wie eine Region nach heftigen und sogar kriegerischen Auseinandersetzungen ihren Frieden gefunden hat. Ausgangspunkt war eine Volksabstimmung, durch die eine zunächst eine neue Grenze und Minderheiten auf beiden Seiten entstanden.

Von Johannes Kulms |
Fahradlenker mit deutscher, dänischer und europäischer Fahne
Die Minderheitenpolitik auf beiden Seiten der deutsch-dänischen Grenze gilt als vorbildlich (imago/Willi Schewski)
Der deutsch-dänische Grenzübergang von Seth hat etwas erfrischend Schrulliges. Anders als an den großen Übergängen lässt Kopenhagen hier nicht die Pässe kontrollieren. Und auch sonst ist hier nichts los. Der Hot-Dog-Stand ist geschlossen und verkauft im übrigen kein Fastfood, sondern Modellbauschiffe. Leider ist auch das Geschäft für Jäger- und Outdoorbedarf dicht. Doch das Namensschild über der Eingangstür trägt einen faszinierenden Namen: "Grænsejagt".
Tatsächlich wurde auch hier in Seth 1920 zur Jagd auf die Grenze geblasen. In zwei Volksabstimmungen waren die Schleswiger aufgerufen zu entscheiden, ob sie künftig zu Deutschland oder zu Dänemark gehören wollten. Hier im nördlichen Teil entschied sich die große Mehrheit am 10. Februar 1920 für Kopenhagen. Der südliche Teil votierte Wochen später für Deutschland. Die bis heute bestehende Grenze war geboren.
In Dänemark feiert man "Wiedervereinigung"
In Dänemark wird dieses historische Jahr mit über 1000 Veranstaltungen als "Wiedervereinigung" gefeiert. Im Sportgeschäft am Sether Grenzübergang ist das allerdings kein großes Thema sagt Chefin Marianne Sörensen: "Nee, habe ich eigentlich nicht so mitbekommen. Also, nicht hier im Laden!"
Grenzübergang zwischen Deutschland und Dänemark in der Nähe von Tondern in Richtung Süderlügum
Grenzübergang zwischen Deutschland und Dänemark in der Nähe von Süderlügum (Seth) (dpa/Carsten Rehder)
Stark vereinfacht hatten Dänen, Deutsche und Friesen fast 1000 Jahre lang friedlich im Herzogtum Schleswig zusammengelebt. Mit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert war das vorbei. 1864 verlor Dänemark den Krieg, kurz darauf kam das Schleswig zu Preußen. Doch die verbliebene dänische Minderheit gab die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Mutterland nie auf. Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg erkannten Politiker der Minderheit und aus Kopenhagen die Gunst der Stunde. Der Friedensvertrag von Versailles ordnete eine Volksabstimmung an.
Spannungen während der NS-Zeit und nach dem Krieg
Dass 1920 wenige Meter hinter dem Sether Sportgeschäft die Grenze per Referendum gezogen wurde, sei doch eine gute Idee gewesen, meint das deutsche Ehepaar Schneider, das sich gerade nach Kleidung umschaut: "Dass jeder entscheiden kann, was für ihn das beste ist." - "Ja, finde ich auch gut!"
In dem kleinen Dorf Seth hatten 1920 allerdings 80 Prozent für den Verbleib bei Deutschland gestimmt. Trotzdem kam Seth zur dänischen Krone, denn in Nordschleswig wurde en bloc abgestimmt. Auch in vielen anderen Dörfern und Städten wurden deswegen deutsch gesinnte Nordschleswiger nun zu dänischen Untertanen. Während der NS-Zeit, aber auch nach Kriegsende - Deutschland hatte Dänemark besetzt - führte das zu vielen Spannungen.
Minderheitenpolitik auf beiden Seiten der Grenze vorbildlich
Heute gilt die Minderheitenpolitik auf beiden Seiten der Grenze als vorbildlich. Sie zeigt sich in eigenen Schulen, Zeitungen und Kulturvereinen. Als Credo gilt: Nicht staatliche Stellen entscheiden, ob jemand zur deutschen oder zur dänischen Minderheit gehört, sondern jede Person selbst. Ladenchefin Marianne Sörensen ist 27 Jahre alt und hat nie eine deutsche Schule im Grenzgebiet besucht. Als Deutsche fühle sie sich nicht: "Aber ich liebe diese deutsche Minderheit, das schon ja, ich bin oft ein Teil davon, weil viele von meinen Freunden sind dort tätig."
Christian Andresen ist Geschäftsführer beim "Nordschleswiger", der Zeitung der deutschen Minderheit in Dänemark. Und der Sether ist Mitglied der Schleswigischen Partei, die die deutsche Minderheit politisch vertritt. 2020 sei auch für die deutsche Minderheit ein Grund zum Feiern sagt Andresen: "Ja, weil wir hundert Jahre existieren." Auch auf deutscher Seite wird das 100-Jährige Grenzjubiläum zelebriert. Aber im Vergleich zum dänischen Programm geht es eher verhalten zu. Für Christian Andresen kein Wunder: "Niederlagen, die feiert man ja nicht."
Grenze tritt wieder stärker ins Bewußtsein
Zurück nach Deutschland. In Schleswig leitet Jørgen Kühl die A.P. Møller Skolen. Die Schule der dänischen Minderheit ist in einem modernen Neubau untergebracht. Kühl ist ein großer Experte für die Geschichte der Minderheiten in Europa und Honorarprofessor an der Europa-Universität Flensburg.
Die Volksabstimmungen von 1920 aber auch der gute Wille auf beiden Seiten hätten das Miteinander an der deutsch-dänischen Grenze zu einer Erfolgsgeschichte gemacht sagt Kühl. Doch leider werde genau dieses Kapitel an Schulen viel zu wenig vermittelt: "Die Existenz der Minderheit wird nicht durch eine negative Attitude bedroht. Aber die größte Bedrohung entspringt eigentlich aus Indifferenz und Ignoranz. Und damit müssen alle Minderheiten kämpfen."
Tatsächlich ist in den letzten Jahren die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark wieder stärker ins Bewusstsein getreten. Das liegt einerseits an den Passkontrollen, die Kopenhagen wieder eingeführt hat, und an dem 67 Kilometer langen neuen Grenzzaun. Mit der 1,40 Meter hohen Barriere will die dänische Regierung Wildschweine und damit auch die afrikanische Schweinepest aus dem Land halten. Ob der Zaun dabei wirklich hilft, darf allerdings bezweifelt werden.
Kritik an neuen sichtbaren Barrieren
Viele Menschen im Grenzgebiet ärgert das neue Symbol. Auch Flemming Meyer, Vorsitzender des Südschleswigschen Wählerverbands, der Partei der dänischen und friesischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Es habe lange gedauert, die Grenzen in den Köpfen abzubauen. Da sei es doch verrückt, nun neue sichtbare Barrieren zu errichten, findet Meyer:
"Ich weiß noch, als wir anfingen mit den grenzüberschreitenden Rettungshubschraubern und Rettungswagen, das gab einen Aufschrei in Dänemark, Leserbriefe ‚Lieber tot, als in einem deutschen Krankenwagen!‘ Und heute sind die heilfroh, wenn überhaupt ein Krankenwagen kommt."
Dänische Minderheit will bei Bundestagswahl teilnehmen
Meyer ist Jahrgang 1951, er sagt selber, er sei damals mit Hass gegen die Deutschen in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Der Hass ist vorbei. Doch bei sämtlichen Sportveranstaltungen drückt Meyer den gegnerischen Mannschaften weiterhin die Daumen und nicht Deutschland. Vieles sei in den letzten 100 Jahren passiert meint Meyer am Tisch seines gemütlichen Wohnzimmers. Doch weiterhin wüssten die meisten Politiker in Berlin nichts von der dänischen Minderheit:
"Wenn wir dann Zuschüsse für irgendein Projektkriegen wollen, dann haben die in Bayern ein altes Schloss, das renoviert werden soll. Und das ist für die doch näher dran als eine komische Minderheit, von der sie keine Ahnung ganz oben an der dänischen Grenze."
Genau deswegen überlegt die Minderheitenpartei SSW, bei der nächsten Bundestagswahl in Schleswig-Holstein anzutreten. Für einen Sitz in Berlin könnte es womöglich reichen, denn die Partei ist von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen. Auch das wäre wieder eine Erfolgsgeschichte von der deutsch-dänischen Grenze.