Dienstag, 14. Mai 2024

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100 Jahre Kestner-Gesellschaft
"Man versucht, aus der Vergangenheit zu lernen"

In diesem Jahr feiert die Kestner-Gesellschaft in Hannover ihr hundertjähriges Bestehen mit zwei großen Ausstellungen. Unterschiedliche Generationen im Dialog zu sehen, sei immer ein Leitsatz des Kunstvereins gewesen, sagte die Direktorin Christina Végh im DLF. Dem wolle man im Jubiläumsprogramm besonders Rechnung tragen.

Christina Végh im Gespräch mit Michael Köhler | 29.05.2016
    Aus der Ausstellung der Kestner-Gesellschaft "Stellung nehmen": Franz Erhard Walther - Der Drehung entgegen
    Aus der Ausstellung der Kestner-Gesellschaft "Stellung nehmen": Franz Erhard Walther - Der Drehung entgegen ( Rémi Villaggi/ Mudam Luxembourg Courtesy KOW, Berlin, Galerie Skopia, Genève et Collection de la Fondation Franz Erhard Walther)
    Michael Köhler: Sie ist im Bereich der Bildenden Kunst eine der herausragenden Einrichtungen in der Bundesrepublik: die Kestner-Gesellschaft in Hannover. Der Kunstverein hat zur Popularisierung der Moderne, zur buchstäblichen kulturellen Modernisierung viel beigetragen. Vor hundert Jahren wurde die Kestner-Gesellschaft gegründet. Aus diesem Grund gibt es ein Jubiläumsprogramm, das "Stellung nehmen" heißt. Ich habe Christina Végh, die seit einem Jahr der Kestner-Gesellschaft als neue Direktorin vorsteht, gefragt: Was hieße es eigentlich 1916, einen Kunstverein in Hannover zu gründen? Wie fing das an und warum "Stellung nehmen"?
    Christina Végh: "Stellung nehmen" ist zu einem Leitsatz geworden, der uns begleitet jetzt dieses Jahr, in dem wir 100 Jahre Kestner-Gesellschaft feiern. Warum? - Da gibt es mehrere Gründe. Zunächst mal zu sagen: 1916 ist ja nicht unbedingt ein typisches Jahr, um etwas neu zu gründen in Deutschland. Es wurde gegründet, weil der Kunstverein in Hannover existierte schon. Damals war er allerdings sehr konservativ geprägt unter dem Einfluss des damaligen Oberbürgermeisters Tramm, der wohl meinte, alles nach Max Liebermann kommt mir nicht in die Stadt. Woraufhin sich Bürger der Stadt zusammensetzten und meinten, das kann so nicht weitergehen, wir können nicht, wollen nicht von der Moderne und der Gegenwart abgeschnitten bleiben in unserer schönen Stadt, und daraufhin die Kestner-Gesellschaft gegründet haben. Das waren die damals wichtigsten Unternehmer der Stadt. Das heißt, das erste Mitglied der Kestner-Gesellschaft ist verzeichnet als Hermann Bahlsen. Andere Gründer waren unter anderem Sprengel, Siegmund Seligmann, der damals erste Chef von Continental war, Beindorff, damals Leiter der Pelikan-Werke.
    Köhler: Nicht ganz unumstritten. Sie haben im letzten Jahr einen kleinen Disput gehabt wegen einer NS-Belastung der Leute. Richtig?
    Végh: Ja.
    Reeducation nach dem Krieg
    Köhler: Der entscheidende Punkt, den Sie gerade genannt haben, Frau Végh, erklären Sie uns das noch ein bisschen. Das Motiv war, den Anschluss an die Moderne nicht verpassen zu wollen?
    Végh: Genau das war das Motiv. Man kann es als sezessionistische Bewegung sehen. Ich denke, es ist richtig, das so zu sehen. Allerdings waren das ja auch als Unternehmer große Strategen und so kam es dann auch, dass die erste Ausstellung Max Liebermann gewidmet war, um dann im zweiten Schritt die Konfrontation auch zu wagen, und so kommt es dann zur Ausstellung wie zum Beispiel Emil Nolde 1918.
    Köhler: Und mit dem auch 1948 wieder eröffnet wurde nach dem Krieg.
    Végh: Genau. Nach dem Krieg 1948 gab es eine Reihe von Ausstellungen. Die kann man subsummieren als eine Form von Reeducation. Da gab es dieses da capo dann.
    Köhler: Frau Végh, es gab Druck der Nazis in der Zeit. Die Kestner-Gesellschaft wurde zwangsgeschlossen. Ich habe bei der Vorbereitung gelesen, dass Sie für einen wegweisenden namhaften Direktor, der das Land auch verlassen musste während der NS-Zeit, eine Gedenktafel installieren werden. Ist das richtig?
    "Es ist eine der wenigen Institutionen, die sich nicht hat gleichschalten lassen"
    Végh: Genau. Das ist der zweite Punkt, wo dieses "Stellung nehmen" als Leitgedanke herkommt. Das eine liegt in der Gründung, das andere in den Jahren der 30er-Jahre. Es ist schon eine außergewöhnliche Geschichte. Kestner hat ja eine legendäre kunsthistorische Geschichte in der Programmatik. Auf der anderen Seite aber auch diese gesellschaftspolitische Spezialität. Es ist eine der wenigen Institutionen, die sich nicht hat gleichschalten lassen, sondern Widerständigkeit bewiesen hat und die Moderne ging, so gut es ging, doch weiter bis 1936. Dann wurde die Institution zwangsgeschlossen, weil sie nicht pariert hat. Es gibt auch Briefe im Archiv, wo das natürlich diskutiert wurde im Vorstand, und es war die Meinung da, lieber wird man zwangsgeschlossen, als dass man einlenkt.
    Köhler: Frau Végh, zeitgenössische Kunst ist immer ein Charakteristikum der Kestner-Gesellschaft gewesen und bleibt es?
    Végh: Natürlich! Natürlich ist es auch ein Charakteristikum der Kestner-Gesellschaft, dass sie Tradition und Moderne ein Stück weit vermittelt hat, miteinander verbunden hat. Deswegen bin ich der Ansicht, dass die Kestner-Gesellschaft vielleicht nicht ein ganz typischer Kunstverein von Anfang an war. Das heißt, unterschiedliche Generationen im Dialog zu sehen, das war immer ein Leitsatz und das wird es auch mit mir bleiben, und natürlich denke ich am liebsten über Gegenwart und Zukunft nach.
    Den Betrachter in exaltierter Form ansprechen
    Köhler: Christina Végh, Sie tun das in Ihrer Ausstellung Hundert Jahre Kestner-Gesellschaft nicht, indem Sie verdienstvoll vielleicht eine Ausstellung mit Fotos an der Wand vorführen, sondern Sie machen es natürlich anspruchsvoller. Was machen Sie, eine Recherche, eine Oral History, eine kunstgeschichtliche Befragung? Erzählen Sie uns ein bisschen.
    Végh: Es sind zwei verschiedene Ausstellungen, die wir heute respektive morgen eröffnen. Das eine ist eine Gruppenausstellung mit acht Künstlerinnen und Künstlern, "Stellung nehmen". Da ist das älteste Werk von Beuys 1968. Sie kennen es alle: "Ja Ja Ja Ne Ne Ne". Bis hin zu Künstlern, die für die Ausstellung Werke geschaltet haben, Christian Pfalzness oder Britta T., Ahmed Öt oder Christian Philipp Müller. Was all die Werke vereint ist, dass sie den Betrachter in vielleicht exaltierterer oder besonderer Form ansprechen. Es war uns wichtig mit der Kuratorin Lotte Dinse, dass wir unterschiedliche Generationen haben und unterschiedliche Medien und unterschiedliche Formen des involviert Werdens durch Werke, die sich dort vereinen.
    Und dann gibt es eine zweite Ausstellung, die wir nennen "Hundert Jahre Kestner-Gesellschaft", die bestückt ist aus ganz vielen unterschiedlichen Teilen aus dem Archiv: Zum einen eine Zeitachse, zum anderen verschiedene Briefwechsel. Bis November wird sich diese Ausstellung in unterschiedlicher Weise immer wieder verändern, zum einen durch Künstler. Henning Fehr und Philipp Rühr schaffen ein Werk vor dem Hintergrund der Geschichte der Kestner-Gesellschaft zum Beispiel. Aber auch Mitglieder sind eingeladen, uns ihre Interessen kundzutun, und wir machen uns auf den Weg ins Archiv und werden da diese Themen auch aus dem Archiv bearbeiten und zur Ansicht stellen. Bis hin zu Veranstaltungen, die das ganze Jahr hinweg jetzt passieren, wo wir immer, wenn wir in die Geschichte tauchen, Themen, Aspekte beleuchten. Man guckt die Vergangenheit nicht einfach so an, sondern man versucht ja, aus der Vergangenheit zu lernen oder abzuleiten, was es heute für uns in der Gegenwart bedeutet. All das ist ein Format, das sich eigentlich auch als Forschungslabor versteht. Das wir dann nächstes Jahr, Teile davon, als Publikation vorliegen.
    "Kultur ist der Standort, wo wir Werte verhandeln"
    Köhler: Betrachter aktivieren und in Situationen versetzen, sich bewusst entscheiden zu müssen, war, ist und bleibt ein Motto, ein Programm für die Kestner-Gesellschaft auch für die nächsten hundert Jahre?
    Végh: Ja wie gesagt. Ich glaube, das ist das Thema, oder es ist schön, in einem Haus zu arbeiten, das so eine sehr außergewöhnliche Geschichte hat. Ich bin natürlich der Meinung, dass Kultur per se dafür da ist. Das ist der Standort, wo wir Werte verhandeln, uns Meinungen bilden, wo wir das auch üben. Deswegen ist das natürlich immer ein Thema bei uns. In diesen zwei Ausstellungen machen wir auf dieses Thema in besonderem Maße aufmerksam und ich finde es auch schön, weil wenn man sagt "Hundert Jahre Kestner-Gesellschaft" bedeutet das ja auch hundert Jahre Mitglieder, hundert Jahre engagierte Menschen. Und dass diese, der Besucher und die Mitglieder, auch in diesen beiden Ausstellungen einen besonderen Fokus erhalten, finde ich zu unserem Anlass auch besonders passend oder richtig.
    Köhler: Das sagt Christina Végh, die Direktorin der Kestner-Gesellschaft in Hannover, zum hundertjährigen Jubiläum des Kunstvereins, Thema "Stellung nehmen".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.