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100. Jahrestag des Kapp-Putsches
Rechte Gewalt in Sicherheitsorganen damals und heute

Am 13. März 1920 stürzten Freikorpssoldaten in Berlin die Regierung. Reichswehr- und Polizeiführung weigerten sich einzugreifen. Ein Generalstreik rettete die Republik. Aktuelle Enthüllungen über Rechtsradikale in Bundeswehr und Polizei werfen nun die Frage auf, wie zuverlässig die Sicherheitsbehörden heute zur Demokratie stehen.

Von Andreas Beckmann | 12.03.2020
Foto der Schießerei am Pariser Platz beim Abzug der Baltikumtruppen im März 1920, der etwa zwölf Menschleben zum Opfer fielen.
Beim Abzug der Putschisten kam es zu einer Schießerei am Pariser Platz, zwölf Menschen starben. (picture-alliance / dpa)
Die Männer, die in der Nacht vom 12. auf den 13. März 1920 aufs Brandenburger Tor zumarschieren, tragen die Uniform der Reichswehr und haben auf ihre Helme Hakenkreuze gemalt. Sie sind ehemalige Soldaten, aber nach Ende des Ersten Weltkriegs haben sie als Angehörige sogenannter Freikorps quer durch Deutschland vor allem Arbeiter-Aufstände niedergeschlagen. Jetzt wollen sie die Regierung stürzen, weil die die Auflösung ihrer Einheit angekündigt hat, berichtet der Historiker Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin.
"Das waren im Wesentlichen Nationalisten, die sich wandten gegen den Versailler Vertrag, die Gegner waren der Weimarer Republik, die diese Demokratie auf deutschem Boden nicht wollten. Überwiegend hingen sie der monarchischen Ordnung noch an und sie wollten vor allem nicht akzeptieren, dass das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verloren hatte und den Versailler Vertrag akzeptieren musste."
Reichswehrminister Noske ruft seine Oberste Heeresleitung zu Hilfe. Die hat zwar geschworen, die Republik zu verteidigen. Aber sowohl viele Offiziere als auch die meisten einfachen Soldaten haben noch vor kurzem mit Männern aus den Freikorps gemeinsam im Ersten Weltkrieg gekämpft. Sie verbindet eine enge Kameradschaft.
Arnd Bauerkämper:
"Die Regierung konnte sich verlassen auf erhebliche Teile der Reichswehr, aber vermutlich nicht auf die Mehrheit, wir wissen die Proportionen nicht ganz genau. Die Reichswehr hat aktiv diesen Putsch nicht gebrochen und ist ihm auch nicht aktiv mit Waffengewalt entgegengetreten."
"Truppe schießt nicht auf Truppe", erklärt die Oberste Heeresleitung. Gemäß ihrem Korpsgeist fühlt sie sich in erster Linie den Kameraden verpflichtet, nicht der Republik. Das Kabinett muss Hals über Kopf aus Berlin fliehen. Widerstandlos können die Putschisten Regierungsgebäude besetzen und mit Wolfgang Kapp einen erzreaktionären Nationalisten als Reichskanzler inthronisieren. Doch der sieht sich schon an seinem ersten Arbeitstag einem unerwarteten Problem gegenüber. Ein Generalstreik legt das Land lahm, selbst die Beamtenschaft beteiligt sich.
Zivilgesellschaft rettet Republik
Arnd Bauerkämper:
"Die Gewerkschaften waren das Rückgrat des Widerstandes gegen den sogenannten Kapp-Putsch. Entscheidend war die Lahmlegung der Infrastruktur, des Verkehrs, der Versorgung durch die Gewerkschaften vor allem und überhaupt durch diejenigen, die am Generalstreik teilgenommen haben."
Busse und Bahnen fahren nicht mehr, vielerorts ist der Strom abgeschaltet, nach vier Tagen geben die Putschisten auf. Die gewählte Regierung kann in ihr Amt zurückkehren. Ziviler Protest, nicht die Sicherheitsorgane, hatte die Demokratie gerettet. Doch die Regierung verzichtete auf die Gelegenheit, die Putschisten zu bestrafen. Und auch darauf, nunmehr eine Reichswehrführung zu installieren, die konsequent gegen rechte Kräfte vorgehen würde, kritisiert Arnd Bauerkämper.
Arnd Bauerkämper:
"Die Republik war ja von vorherein auch von links bedroht. Es gab ja 1923 noch Aufstände im Ruhrgebiet und auch in Thüringen, die von links kamen.
Deshalb fürchtete die Weimarer Koalition der Mitte, bestehend aus Sozialdemokraten, Liberalen und dem katholischen Zentrum, Angriffe von links ebenso so sehr wie von rechts. Und sie glaubte, die rechten Verbände zur Verteidigung der Republik gegen linke Aufstände zu brauchen. So schickte sie schon zehn Tage nach Ende des Kapp-Putsches Freikorps-Soldaten ins Ruhrgebiet, um dort weitergehende Streiks niederzuschlagen. Offizielle Einheiten von Reichswehr und Freikorps standen schon wieder Seite an Seite."
Arnd Bauerkämper:
"Das war eine Allianz, die zwar nicht formal war, oft inoffiziell, aber die in den 20er Jahren anhalten sollte und die in gewisser Weise die demokratischen Kräfte in der Weimarer Republik diskreditierte."
Oft waren auch Einheiten der Polizei dabei, allen voran der bewaffneten Sicherheitspolizei. Auch sie hatte sich in den Tagen des Kapp-Putsches geweigert, die Regierung zu unterstützen. Was die offiziellen Sicherheitskräfte mit den verdeckten rechten Freikorps verband, war die Vorstellung, man müsse Sicherheit und Ordnung verteidigen, notfalls auch auf Kosten der Demokratie.
Rechtsradikale in Bundeswehr und Polizei
Wiederholt sich ein solch verdecktes Zusammenspiel zwischen offiziellen Sicherheitskräften und rechten Verbänden hundert Jahre nach dem Kapp-Putsch in gewisser Weise, wenn etwa der Militärische Abschirmdienst Anfang dieses Jahres von 550 rechtsextremistischen Verdachtsfällen in der Bundeswehr berichtet? Wenn wiederholt rechte Netzwerke wie "Nordkreuz" oder die "Gruppe S" auffliegen, an denen auch Polizeibeamte beteiligt sind? Dominik Rigoll, der am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam zur Geschichte rechter Gewalt forscht, warnt davor, vorschnell Parallelen zu ziehen. Festgefügte rechte Strukturen in Polizei oder Bundeswehr sieht er nicht. Aber er beobachtet ein Phänomen, das er nationalistische Arbeitsteilung nennt.
Dominik Rigoll:
"Wir haben immer wieder ähnliche Konstellationen, ein Nebeneinander von Gewalt, die von rechten Aktivisten ausgeübt wird auf der einen Seite, und auf der anderen Seite eine Polizei, die dem nicht so gut nachgeht, oder eine Justiz, die lange Zeit sehr nachgiebig dagegen vorgegangen ist. Das ist eine Kontinuität, die wir wirklich durchgehend haben von den 20er Jahren bis heute."
Direkte, personelle Verbindungen zwischen rechten Gewalttätern und Angehörigen der Sicherheits- oder Justizbehörden gibt es dabei in den seltensten Fällen, berichtet Dominik Rigoll. Die sind aber auch gar nicht notwendig, damit eine nationalistische Arbeitsteilung funktionieren kann.
Dominik Rigoll:
"Weil das funktioniert wie die kapitalistische Arbeitsteilung. Nicht unbedingt, indem sich die Leute miteinander absprechen oder sich sozusagen verschwören gegen die Republik, sondern es funktioniert automatisch, insofern, als sie, ohne es zu wissen, auf dasselbe Ziel hinarbeiten oder relativ ähnliche Ziele haben, nämlich den Sturz des jetzigen demokratischen Regimes."
Rassismus als Bindeglied
Meist reichen relativ diffuse gemeinsame Aversionen, sagt Dominik Rigoll. Zu Zeiten des Kapp-Putsches war das die weitverbreitete Wut über den Vertrag von Versailles. Und ein ebenso weitverbreiteter Rassismus, ergänzt die Historikerin Johanna Langenbrinck. Sie forscht an der Humboldt-Universität in Berlin zu Gewalt von Sicherheitsorganen in der Weimarer Republik, inoffiziellen wie den Freikorps und offiziellen wie der Reichswehr und der Polizei.
Johanna Langenbrinck:
"Es gab in der Polizei bis in die höchsten Führungsspitzen, bis zum Polizeipräsidenten Eugen Ernst, der der SPD angehörte, eine sehr weit verbreitete Feindschaft gegen sogenannte Ost-Juden, die damals in großer Zahl ins Deutsche Reich geflohen sind, so dass diese Feindschaft auch die offizielle Politik der Polizei beeinflusst hat. Also das war ein großer Konsens bis in demokratische Parteien hinein, dass diese Gruppe angeblich ein Problem darstellt. Vor allem wurde sie verantwortlich gemacht für Schleichhandel, also Schwarzmarkt von Lebensmitteln, Straßenhandel, der illegal war."
Rassismus gegenüber ost-jüdischen Einwanderern verband damals Politiker und Bevölkerung, aber auch Polizei und Freikorps. Johanna Langenbrinck sieht da eine Parallele zum rechten Terrorismus des 21. Jahrhunderts. Denn nach ihrer Ansicht war es Rassismus gegen türkische Migranten, der die Sicherheitsbehörden lange daran hinderte, die Verbrechen des NSU aufzudecken.
Johanna Langenbrinck:
"Man darf nicht unterschätzen, wie stark sich Strukturen in Institutionen über sehr lange Zeit fortschreiben. Wir haben nach der Aufdeckung bzw. Selbstenttarnung des NSU gesehen, dass es in den Polizeibehörden eine Tendenz gab, dass es da eine rassistische Vorannahme gab, gegen die Betroffenen und ihre Familien zu ermitteln und nicht deren Einschätzung ernst zu nehmen, dass es Nazi-Täter waren."
Die Ermittler legten sich früh auf die These fest, dass die Mörder aus der Organisierten Kriminalität kommen und Verbindungen in die Türkei haben müssten, wofür sie aber nie Belege fanden. Nur einige wenige Fahnder zogen in Erwägung, dass die Täter Rechtsextremisten sein könnten. Sie konnten sich nicht durchsetzen. Rafael Behr, Professor für Soziologie an der Akademie der Polizei Hamburg, sieht in diesen Fehleinschätzungen noch keinen Beleg für einen flächendeckenden strukturellen Rassismus in der Polizei.
Rafael Behr:
"Was ich aktuell in der Polizei erlebe, ist, dass es fehlende Strukturen gibt, um Rassismus zu bekämpfen. Um ihn zu entdecken, um ihn auch einzuhegen, um ihn zu minimieren. Die Polizei wehrt sich zum Beispiel dagegen, Whistleblower-Systeme zu schaffen, wo Kollegen sich hinwenden können, um zu sagen, ich sehe da jemanden, mein Kumpel hat jetzt auch einen Gürtel mit einem Hakenkreuz drauf, aber ich trau mich nicht, das in der Öffentlichkeit zu sagen, weil ich dann mit meinem Namen dastehe, weil ich dann aus der Solidargemeinschaft rausfalle, aber mir ist es unangenehm. Was machen Kollegen, denen es unangenehm ist? Die schweigen im Moment."
Freiheit und Sicherheit austarieren
Deshalb von einem Korpsgeist zu sprechen, der auch Nazis decke, hält Rafael Behr für übertrieben. Aber er sieht einen Wandel im Selbstverständnis der Polizei, der dieses Schweigen begünstige. Als er in den 70er Jahren bei der Bereitschaftspolizei anfing, sollte der moderne Beamte so zivil wie möglich auftreten. Die Uniform hieß nur noch Dienstkleidung, mancherorts wurden sogar die Rangabzeichen abgeschafft. Etwa seit der Jahrtausendwende begann die Polizei aber, sich angesichts des internationalen Terrorismus wieder robuster zu präsentieren.
Rafael Behr:
"Dann merkte man, dass in der Polizei sich atmosphärisch etwas verändert. Man hat mehr in militärischen Kategorien gedacht, nach Charlie Hebdo wurden dann auch wieder Kriegswaffen hier eingeführt. Man übt jetzt Amok-Szenen und Terror-Szenen. Natürlich muss man das, aber das wirkt sich auch auf das Selbstbild aus. Das verändert sich ein bisschen."
Die Polizei sehe sich nicht mehr in erster Linie als Serviceorganisation, die Freiheitsrechte der Bürger verteidigt, so Rafael Behr. Sie trete wieder stärker als Garant von Sicherheit und Ordnung auf.
Rafael Behr:
"Das scheint mir ein neuer Trend zu sein, dass man im Zweifel immer für die Sicherheit ist, weil man in der Selbstverständlichkeit lebt, dass es ohne Sicherheit keine Freiheit gibt. Also müssen wir Sicherheit produzieren."
Bei vielen Bürgern findet diese Veränderung durchaus Zustimmung. Aber, sagt Rafael Behr, die Polizei laufe dabei immer Gefahr, ungute Traditionen wiederaufzunehmen. Sicherheit und Ordnung waren klassische Themen der politischen Rechten. Auf das gemeinsame Verständnis, Ordnungsfaktoren zu sein, konnten sich in den 1920er Jahren viele Polizisten mit den Angehörigen von Freikorps verständigen. Wenn die dann mal über die Grenzen des Erlaubten hinausgingen, sah die Polizei oft weg.
Rafael Behr:
"Rechts war immer deshalb unterbelichtet, weil sie den Staat nie aktiv in Frage gestellt haben, weil sie immer einen stärkeren Staat wollten, weil sie Herrschaft akzeptiert haben, weil sie einen starken Staat wollten, das war immer weniger anstößig als links."
So konnten die Freikorps nach dem Kapp-Putsch als eine Art Reservetruppe im Kampf gegen linke Aufstände unbehelligt weiterexistieren. In der Bundesrepublik haben später rechte Terrororganisationen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann versucht, sich eine ähnliche Rolle anzumaßen. Das ist ihnen nicht gelungen. Dennoch wurde nie aufgeklärt, welche Rolle sie etwa beim Attentat auf das Münchener Oktoberfest 1980 spielte. Für Rafael Behr ist das kein Zufall.

Rafael Behr:
"Wenn man sich die Geschichte der bundesdeutschen Polizei anschaut, dann ist es eine Geschichte des Kampfes gegen Linksextremismus. Das hat mit der Geschichte der 68er begonnen, ist über den Linksterrorismus gegangen, das kann man ja nachschauen, wie das BKA gewachsen ist, das ist gewachsen mit dem RAF-Terrorismus. Bis man gemerkt hat, dass es auch Rechtsterrorismus gibt, hat es sehr lange gedauert. Selbst München, das Attentat aufs Oktoberfest, war ein Einzeltäter, offenbar, offiziell. Das heißt, diese Kategorie rechts ist systematisch unterbelichtet worden in der operativen Ausstattung der Polizei Deutschlands."
Rechte Vernetzung im Internet
Die muss vor allem besser werden bei der Verfolgung rechtsradikaler Täter im Internet. Viele der scheinbaren Einzeltäter, von Anders Breivik über den Schützen von Christchurch bis hin zu den Mördern von Halle und Hanau, haben sich hier radikalisiert. Vor allem aber fühlen sie sich über die elektronischen Kanäle mit Gleichgesinnten verbunden, betont Dominik Rigoll.
Dominik Rigoll:
"Da ist mein Eindruck, dass das Internet einfach eine neue Form der Organisation ist. Dass es da Kontakte, Absprachen usw. gibt, die man früher face to face machen musste, wo man sich treffen musste, wo man zusammen ins Vereinslokal gehen musste, um sich abzusprechen. Das muss man nicht mehr, das geht übers Internet, aber trotzdem ist die Organisation da. Die läuft jetzt halt digital. Die Vereinslokale verschwinden nicht, sie verlagern sich in den virtuellen Raum."
In diesem virtuellen Raum konnte sich zum Beispiel das Hannibal-Netzwerk breitmachen, dem auffällig viele Soldaten und auch Polizisten, vor allem von Spezialeinheiten, angehörten. Sie bildeten eine Art Schattenarmee, legten Waffenlager und Listen von Bürgern an, die an einem Tag X zu töten seien. Und sie bereiteten sich mit Schießübungen auf einen Umsturz vor. Erst nach zwei Jahren wurden ihre Strukturen Schritt für Schritt offengelegt. Rafael Behr hofft, dass solche Fahndungserfolge in Zukunft schneller erzielt werden könnten.
Rafael Behr:
"Im Moment scheint es mir so zu sein, dass das Bewusstsein gewachsen ist. Herr Seehofer hat ja jetzt gesagt, unwidersprochen, aber auch ohne Wenn und Aber, dass die größte Gefahr von rechts ausgeht. Im Moment macht man da das Auge ganz weit auf. Herr Seehofer hat beschlossen, für den, sagen wir mal, innerapparativen Extremismus, für rechte Tendenzen, für rassistische Tendenzen innerhalb der Sicherheitsbehörden eine eigene Abteilung im Bundesverfassungsschutz zu schaffen."

So könnten vielleicht institutionelle Voraussetzungen geschaffen werden, die verhindern, dass sich in deutschen Sicherheitsbehörden jemals wieder ein rechter Korpsgeist wie vor 100 Jahren breitmacht. Und dann darf man wohl auch hoffen, dass die Berliner Republik besser geschützt ist gegen Umsturzversuche von rechts als die Weimarer.