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100 Tage Rot-Rot-Grün
In Thüringen von Revolution keine Spur

Bodo Ramelow ist der erste Ministerpräsident der Linken in Deutschland. 100 Tage nach seiner Wahl betonen die Koalitionsparteien Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen den kollegialen Umgang miteinander - die Streitthemen stehen allerdings auch noch aus.

Von Henry Bernhard | 13.03.2015
    Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) bekommt am 05.12.2014 im Landtag in Erfurt (Thüringen) einen rot-rot-grünen Blumenstrauß.
    Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow nach der Wahl (Michael Reichel, dpa)
    Christian Carius: "Ich gebe ihnen das Ergebnis der Wahl bekannt. Abgegebenen Stimmzettel: 91. Ungültige Stimmzettel: einer."
    Erfurt, am 5. Dezember 2014. Landtagspräsident Christian Carius verliest das Ergebnis der Wahl zum Ministerpräsidenten. Im ersten Wahlgang war Bodo Ramelow noch an einer fehlenden Stimme gescheitert.
    Christian Carius: "Auf den Wahlvorschlag der Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, den Abgeordneten Bodo Ramelow, entfielen 46 Ja-Stimmen."
    Es war geschehen: Die Abgeordneten des Thüringer Landtags hatten einen linken Ministerpräsidenten gewählt – gegen die Warnungen vonseiten der CDU, von manchen Sozialdemokraten und einigen Bürgerrechtlern, gegen die mehrere Tausend Bürger, die noch am Vorabend der Wahl die Abgeordneten aufgerufen hatten, Ramelow die Stimme zu verweigern.
    - "Nicht alles, was nach einer Wahl rechnerisch möglich ist, solltet ihr Abgeordneten uns Bürgern als angeblichen Wählerwillen unterschieben."
    - "Das können sie doch gar nicht finanzieren!"
    - "Ich bin aus dem Westen erst zugezogen. Und wenn ich gewusst hätte, dass es hier eine rot-rot-grüne Regierung gibt, hätte ich mir das, glaube ich, auch ernsthaft anders überlegt, hierher zu ziehen."
    Die Aufregung im vergangenen Herbst war groß gewesen, bundesweit. Die Sondierungen von Linken, SPD und Grünen und parallel dazu von CDU und SPD hatten sich lange hingezogen. Erst ein knappes Vierteljahr nach der Landtagswahl im September wählte die Koalition aus der Ex-SED, der 1989 wieder gegründeten Sozialdemokratie und den Ökos und Ex-Bürgerrechtlern von Bündnis 90/Die Grünen den aus dem Westen stammenden Linken Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten. Ramelow, früher als hitziger Linker bekannt, hatte sich schon seit Monaten staatsmännisch gegeben. Noch am Tag seiner Wahl zitierte er im Landtag den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau:
    "Versöhnen statt spalten! Daran wird sich die neue Landesregierung messen lassen müssen. Und daran werde auch ich persönlich mich messen lassen müssen."
    Markige Sprüche zur Wahl von der CDU
    Der Oppositionsführer, der CDU-Fraktionsvorsitzende Mike Mohring, stellte eine Woche nach Ramelows Wahl, am Tag der ersten Regierungserklärung markig klar, was er von der – so wörtlich – "Koalition der Verlierer" aus "Stalinisten" und "Stasi-Spitzeln" hält:
    "Rot-Rot-Grün in Thüringen als der zweite Sündenfall in der Politik. Ich hoffe, dass der Zeitraum vom zweiten Sündenfall bis zur Erlösung nicht, wie bei dem ersten, 4.000 Jahre, sondern maximal fünf Jahre dauert. "
    Inzwischen schlagen die Wellen deutlich flacher in Thüringen, die Landesregierung bewegt sich fast geräuschlos; die CDU bemüht sich um konstruktive Opposition und bringt sogar Anträge gemeinsam mit Rot-Rot-Grün in den Landtag ein, während der stolze Ministerpräsident Bodo Ramelow gar nicht müde wird zu wiederholen:
    Der neue Thüringer CDU-Landesvorsitzende Mike Mohring.
    Der Thüringer CDU-Landesvorsitzende Mike Mohring. (picture alliance/dpa/Michael Reichel)
    "Ich bin der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen; ich repräsentiere eine Koalition von drei Parteien. Und ich bin nicht der Vertreter der Linken in der Staatskanzlei."
    In der Tat verliefen die ersten Wochen von Rot-Rot-Grün fast gespenstisch ruhig. Die neue Landesregierung hatte, um die vielfältigen Gestaltungs- und Profilierungswünsche der drei Koalitionspartner zu befriedigen, den Zuschnitt fast aller Ministerien großzügig verändert. Möbelwagen werden noch über Monate Beamtenschreibtische kreuz und quer durch Erfurt transportieren. Die Opposition moniert, dass die Umzüge wertvolle Zeit vernichte und zu teuer sei. Der SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee, ein Import aus dem Bundestag, beschwichtigt aber:
    "Ich würde das nicht als Stolpern bezeichnen. Es ist selbstverständlich, dass man nach einer gefühlt 100-jährigen Herrschaft der CDU zunächst einen Monat, anderthalb Monate braucht, um die Ministerien neu aufzustellen."
    Keine Revolution in Thüringen
    Mag im Inneren der Landesregierung auch Betriebsamkeit herrschen: Nach außen herrscht noch politische Stille in Thüringen. Eine Revolution sieht anders aus.
    "Ja, es gibt den einen oder anderen, der den Scherz macht: Es gibt ja noch Südfrüchte in den Supermärkten! Aber das war ja auch nicht zu erwarten, dass da in irgendeiner Form eine Veränderung eintritt", scherzt Matthias Hey, Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag:
    "Was von manchen Leuten da an Schatten an die Wand gemalt wurde mit furchtbaren Untergangsszenarien – die Unternehmer bleiben aus, manche Unternehmer verlegen ihren Betriebssitz dann und so weiter und so fort: All das ist nicht eingetreten. Die Leute merken, dass die Sonne immer noch im Osten auf- und im Westen untergeht, die Straßenbahnen und die Busse fahren."
    Die Grüne Anja Siegesmund, die sich als neue Umweltministerin endlich am Ziel sieht, ergänzt:
    "Rot-Rot-Grün ist eine ganz normale Regierung. Das ist wohl das, womit die wenigsten gerechnet haben."
    Im März ging es dann auch endlich los mit Gesetzesentwürfen und Initiativen: Das Landeserziehungsgeld wird abgeschafft. Das Geld dafür soll in den Ausbau von Kitas und in ein gebührenfreies Kita-Jahr gesteckt werden, allerdings erst in frühestens zwei Jahren. Arbeitnehmer sollen zukünftig auch in Thüringen für Tage pro Jahr für persönliche Weiterbildungen freigestellt werden – so wie es in den meisten anderen Bundesländern schon üblich ist.
    Opposition hält Start für verkorkst
    Der Haushalt für dieses Jahr soll erst im Sommer verabschiedet werden. Zumindest das bietet Angriffsfläche für den CDU-Fraktionschef Mike Mohring:
    "Es ist das eingetreten, was wir geahnt haben: Dass diese Regierung nicht in den Tritt kommt und dass sie ihre Wahlversprechen nicht halten kann. Der Regierungsstart von Rot-Rot-Grün ist verkorkst."
    Andererseits aber macht es Rot-Rot-Grün der Opposition auch schwer, zu kritisieren. Da die neue Landesregierung auf vielen Gebieten einfach da weitermachen will, wo Schwarz-Rot aufgehört hat, muss sich Bodo Ramelow schon mal anhören, er mache CDU-Politik mit roter Schleife:
    "Die Regierung hat im Prinzip sich angewöhnt, das Weiter so zu pflegen und möglichst nicht anzuecken und aufzufallen und aus dieser Taktik eine Strategie des Nichtstuns entwickelt: Wer nichts erledigt, wer nicht arbeitet, macht auch wenig Fehler."
    Ein wichtiger Punkt schon im Wahlkampf waren gerade für die SPD die Kommunalfinanzen. Der Thüringer SPD-Vorsitzende Andreas Bausewein hatte – durchaus eigennützig in seiner Funktion als Erfurter Oberbürgermeister – den Kommunen einen wahren Geldregen in Aussicht gestellt. Sein SPD-Freund, der Innenminister Holger Poppenhäger, hatte im Februar den Kommunen 135 Millionen Euro frisches Landesgeld zusätzlich versprochen – und wurde vom Ministerpräsidenten und den Fraktionschefs der Koalition gnadenlos zurückgepfiffen. Er soll 50 Millionen weniger geben. Der öffentliche Eklat mit den Kommunen war der Landesregierung sicher. Die Kommunen fühlen sich getäuscht. Auch der Geschäftsführer des Landkreistages, Thomas Budde:
    "Wir müssen schauen, wie wir damit umgehen, weil bisher natürlich immer gegolten hat, das, was man ausgehandelt hat mit der Landesregierung, dass man sich daran auch hält. Und dass nach unten korrigiert werden, dann ist das eine Situation, die ich bisher im Grunde auch nicht so gekannt habe."
    Kommunalfinanzen könnten zum Streitpunkt werden
    Dabei waren die Kommunalfinanzen ein Prestigeprojekt, mit dem sich Rot-Rot-Grün profilieren wollte. Auch sonst konnte Rot-Rot-Grün noch keine Lorbeeren ernten, sondern musste auf vielen Feldern das teure Erbe der Vorgängerregierungen antreten: Die geplante Stromtrasse in Ostthüringen können die Grünen nicht verhindern. Die Altlasten aus dem Kalibergbau drohen, die Landeskasse auf Jahrzehnte erheblich zu belasten.
    Das Pflichtprogramm absolviert Rot-Rot-Grün also bislang ohne Glanz mit kleinen Patzern, die Haltungsnoten sind jedoch besser: Hatte in den Ministerien, die teilweise seit 24 Jahren in CDU-Hand waren, nach der Landtagswahl aus Angst vor Linken und Grünen Heulen und Zähneklappern geherrscht, so ist größtenteils Entspannung eingezogen, berichtet der Linke Benjamin-Immanuel Hoff, Staatskanzleiminister:
    "Die Befürchtungen habe ich mitbekommen und kriege jetzt, nach einigen Wochen, mit, dass große Entspannung herrscht. Selten wurde so viel kommuniziert wie unter dieser neuen Hausleitung. Also insofern: Ich kann da die Befürchtung verstehen, aber es gibt dafür keine Ursache. Und jetzt im Alltag spielt es keine Rolle."
    Auch aus anderen Ministerien berichten Mitarbeiter von der Entspannung nach den ersten Wochen. Die Neuen hörten oft erst einmal zu. Manche Spitzenbeamte und Pressesprecher sind verwundert, dass sie ihre Jobs behalten haben. Anja Siegesmund, die grüne Umweltministerin, wurde freundlich in ihrem Ministerium empfangen, auch wenn sie in ihrem Büro nur einen leeren Schreibtisch und einen Mufflon-Schädel an der Wand vorfand:
    "Nach 25 Jahren CDU hat natürlich auch ein Stil des Wegschauens, Dirigierens von Oben nach Unten stattgefunden, der zum Teil auch neue Politikansätze auch im Kern erdrückt hat. Gerade in meinem Haus, wo die Naturschützer sitzen und die Energieleute, muss ich gar nicht hergehen und muss die großen Linien in dem Sinne als neu überzeugend darlegen."
    Positives Klima in der Koalition
    Auch das Klima innerhalb der rot-rot-grünen Koalition wird von allen drei Parteien sehr positiv beschrieben. Gerade die Sozialdemokraten, denen noch die Erfahrungen ihrer Koalition mit der CDU in den Knochen stecken, fühlen sich wohl unter dem linken Ministerpräsidenten, mit den drei linken Ministerinnen, die bis 1989 alle in der SED waren und mit den Grünen, auch wenn die ihnen manchmal etwas zu viel und ausgiebig diskutieren. Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee:
    "Sehr, sehr kollegial, sehr auf die Sache orientiert. Das klingt jetzt vielleicht wie Vanille-Soße über die Exekutive gegossen, aber es ist tatsächlich so."
    Wenn aber erst die schwierigen Verhandlungen kommen, etwa zum kommunalen Finanzausgleich oder zum Haushalt, wenn klar wird, dass das Geld nicht reicht, um alle Wahlversprechen zu erfüllen, dann könnte es schnell auch ruppiger zugehen im rot-rot-grünen Kabinett. Die Grünen lassen schon mal durchblicken, dass sie an der Finanzierung der freien Schulen die Koalition auch scheitern lassen würden.
    Die bisherigen Beschlüsse – der Winterabschiebestopp für Flüchtlinge oder das Bildungsfreistellungsgesetz – haben nicht viel Geld gekostet, und vor allem nicht das eigene. Auch die DDR-Aufarbeitung ist kein teures Thema, für die Linke in führender Regierungsverantwortung aber überlebenswichtig:
    "Wir werden als Landesregierung das Thema Aufarbeitung zum zentralen Thema machen, dass SED-Diktatur immer zum Gegenstand der weiteren Erhellung und Erleuchtung und Begleitung sein muss, damit man weiß, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen darf."
    So Bodo Ramelow in seiner Regierungserklärung. Am Umgang mit SED, Stasi und Mauer muss sich die Koalition unter dem linken Ministerpräsidenten messen lassen. Schon in den Sondierungen im Herbst haben die Linken mit Bauchschmerzen ein Papier unterzeichnet, dass die DDR zum Unrechtsstaat erklärt. Es war der Preis der Macht, der Preis für den ersten linken Ministerpräsidenten. Bodo Ramelow selbst fällt es nicht schwer, die DDR zu verdammen. Er kam erst 1990 nach Thüringen, aus dem Westen. Seit ein paar Monaten lässt er kaum eine Veranstaltung aus, auf der es um die DDR-Geschichte geht. Wie etwa im Januar in der Stasi-Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt. Er weiß, dass er als Linker für manche SED-Opfer eine Zumutung ist.
    - "Wo sind wir hier – wir sind im Stasi-Gefängnis. Das heißt, hier ist im Namen der SED Leid begangen worden. Und deswegen sitze ich hier. Ich bin Zuhörer. Und ich wollte auch Zuhörer sein. Weil diejenigen, die vor 25 Jahren hier die Türen aufgestoßen haben, haben den größten Mut ihres Lebens bewiesen."
    - Christian Dietrich: "Als Nächstes hat sich Renate Ellmenreich gemeldet."
    Gegen Ende der Veranstaltung bittet eine Frau im Publikum um das Mikrofon. Renate Ellmenreich. Ihr Freund und Vater ihrer Tochter, der 23-jährige Matthias Domaschk, war 1981 von der Stasi festgenommen und verhört worden. Zwei Tage darauf war er tot. Selbstmord, behauptete die Stasi.
    "Auch 25 Jahre danach wühlt es die Seele noch auf, vor den vergitterten Fenstern hier zu stehen. Deswegen stockt mir vielleicht ein bisschen die Stimme. Entschuldigung! Herr Ministerpräsident, nachdem ich mit Dankbarkeit gehört hatte, was sie in ihrer Antrittsrede gesagt hatten zu ihrer Bereitschaft, die Aufarbeitung fördern zu wollen, hatten wir ihnen einen Brief geschrieben, meine Tochter und ich, und um ihre Mithilfe gebeten."
    Aufarbeitung der DDR-Verbrechen
    Renate Ellmenreich möchte, dass der linke Ministerpräsident ihr hilft, den Prozess um den Tod von Matthias Domaschk wieder aufzunehmen – oder zumindest neue Untersuchungen anstellen zu lassen, wie der Vater ihrer Tochter zu Tode gekommen ist.
    "Und ein juristischer Prozess – auch, wenn er nicht zu direkten Verurteilungen führt – kann aber doch die Sachlage klären helfen: Unter welchen Umständen ist Matthias zu Tode gekommen? Bis heute ist das ja nicht klar. Ich bitte also hier so noch einmal öffentlich darum, sich helfend an unsere Seite zu stellen und zu tun, was möglich ist. Dankeschön."
    Der angesprochene Ministerpräsident Bodo Ramelow lässt sich das Mikrofon reichen und holt weit aus:
    "Der Brief liegt auf meinem Schreibtisch. Ich habe das ins Haus jetzt gegeben. Der Punkt ist für mich nur: Wenn die Juristen im Haus sagen, es reicht nicht für ein Wiederaufnahmeverfahren, bekommt es dann eine Dimension, dass der Ministerpräsident mit meinem Parteibuch sich dem Aufarbeiten nicht stellen will, oder bekommt es eine Diskussion, dass die Juristen einfach sagen, also das sei jetzt ein juristisches Thema? Und deswegen: Ja, das ist mein Anliegen, in der Hoffnung, dass ich mit ihnen gemeinsam eine Chance finde, damit man wirklich die Umstände noch mal überprüfen kann."
    Die Koalitionspartner, SPD und Grüne, vertrauen auf das Bekenntnis des linken Ministerpräsidenten, wohl wissend, dass Ramelows Aufklärungs- und Selbstbezichtigungsdrang keinesfalls ungeteilte Zustimmung in der Linken findet. Auch die Opposition erkennt Ramelows Willen zur Aufarbeitung an. Inzwischen hat der Ministerpräsident eine interministerielle Arbeitsgruppe "Tod von Matthias Domaschk" eingesetzt. Fünf Staatssekretäre sollen – so wörtlich – "neue Maßstäbe bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur setzen". Die Aufarbeitung soll zudem "konsequent ideologiefrei" stattfinden, so die Anweisung. Ein Ansinnen, das auch Kritiker hat.
    Der Koalitionsvertrag von Linkspartei, SPD und Grünen in Thüringen.
    Der Koalitionsvertrag von Linkspartei, SPD und Grünen in Thüringen. (picture alliance/dpa/Martin Schutt )
    Christian Dietrich, Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der auch in der Arbeitsgruppe sitzt, warnt vor einem "Aufarbeitungskombinat Staatskanzlei". Aufarbeitung gehöre in die Zivilgesellschaft, an Gerichte, in Universitäten und Museen:
    "Da gab's ja mehrfach schon die Äußerung, dass ideologiefreie Aufarbeitung stattfinden soll. Das unterstellt, dass bis jetzt alles unter Ideologie lief und die falschen Maßstäbe hatte. Aber es ist eine Arroganz, anzunehmen, dass eine Auseinandersetzung ohne Interessen geschieht."
    Durchbrechen des Schweigekartells der Täter?
    Aber es gibt auch die Hoffnung, dass ein linker Ministerpräsident die Möglichkeit hat, an das Schweigekartell der Täter heranzukommen:
    "Also, unter den Opferverbänden gibt es welche, die sehr klar sagen, dass hier Erwartungen geweckt werden, die ja gar nicht erfüllt werden. Also das heißt: Enttäuschung vorprogrammiert. Es gibt aber auch welche, die sagen: Ich bin nicht zum Ergebnis gekommen bei meinen Prozessen um Entschädigung – endlich gibt's eine Möglichkeit. Und die haben sie an die Staatskanzlei zum Teil auch mit Petitionen gewandt."
    Der Adressat, Ministerpräsident Bodo Ramelow, hofft, durch seine Autorität und den Zugang seiner Partei zu den alten Netzwerken, das Schweigen zu durchbrechen. Nicht, um Täter vor Gericht zu bringen, sondern um Angehörigen die Chance zu geben, die Wahrheit über den Tod ihrer Angehörigen zu erfahren. Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und Erinnerungsspezialist, sieht hier sogar größere Chancen als in der Vergangenheit:
    "Aber ehrlich: Ich habe Hoffnung! Vorher, das war mir viel zu ruhig, patriarchalisch beschützt, ja, so wohlgeordnet in den Institutionen, oft auch – ehrlich gesagt – zu sehr Erinnerung als Waffe, Erinnerung als Keule, Erinnerung als Denunziation. Das ist auch nicht besonders gut. Also, fände ich eine super Chance, wenn das nicht vertan wird."
    Auch, wenn sich Bodo Ramelow in Thüringen überparteilich-präsidial gibt, wenn er das linke Pendant zum Grünen Kretschmann in Baden-Württemberg darstellen möchte, so drängt sich doch die Frage auf, was ein linker Regierungschef langfristig für Thüringen bedeutet und welche Signale die Koalition der Sozialdemokraten und Grünen mit und unter den Linken für die bundesdeutsche Ebene aussendet. In Thüringen selbst wird diese Frage kaum diskutiert. In welche Richtung manche Linke wollen, ist gelegentlich aus Partei- oder Fraktionskreisen zu hören, denen Ramelow viel zu sozialdemokratisch ist. Einer, der dabei sehr genau hinhört, ist Karl-Eckehard Hahn, der Pressesprecher der CDU-Fraktion:
    "Die Linke macht im Augenblick hier eine Politik mit ihren Koalitionspartnern, die in der Tat sehr darauf ausgerichtet ist, in die Mitte der Gesellschaft zu kommen, da keinen Anstoß zu erregen. Aber natürlich hat die Linke auch eine langfristige Perspektive für ihre Politik, die in dem Parteiprogramm drinsteht. Das nennt sich – etwas verklausuliert – Überwindung des Kapitalismus, eine tief greifende, quasi revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. Diesen größeren Kontext muss man als Folie natürlich mitdenken."
    Bekenntnis Ramelows zur sozialen Marktwirtschaft
    Ramelow selbst bekennt sich zur sozialen Marktwirtschaft, aber auch zur gerechteren Verteilung des Reichtums in der Welt. Nach Revolution klingt das nicht. Sein Stratege und Vordenker, Staatskanzleiminister Benjamin-Immanuel Hoff, will sich nicht auf theoretische Debatten darüber einlassen, was ein demokratischer Sozialismus überhaupt bedeutet. Ihm geht es erst mal um die Macht auf möglichst breiter Basis:
    "Wir wissen nicht, wie eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft aussieht. Aber wir wissen, dass sie nur auf der Basis dieser Gesellschaft aufbauen kann und dass sie eine demokratische Weiterentwicklung bestehender Strukturen, Bürgerrechte etc. sein kann. Für mich gibt es ein Ziel: Ich würde gerne erreichen, dass nach der Bundestagswahl 2017 SPD, Linke und Grüne in Sondierungsverhandlungen eintreten und wenigstens mal miteinander darüber reden, wie viele Gemeinsamkeiten man denn haben könnte und ob so etwas überhaupt denkbar ist. Also wenigstens den Standard, den CDU und Grüne jetzt schon zwei Mal auf Bundesebene bewiesen haben. Wenn man das hinkriegen würde, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter."
    Auf dem Weg dahin liegen noch die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern und die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin, wo die Linke sich Chancen auf eine Regierungsbeteiligung erhofft. Bodo Ramelow dagegen spricht öffentlich gar nicht mehr über Themen außerhalb von Thüringen. Er macht seine politische Rechnung mit einer ganz persönlichen Arithmetik auf:
    "In Thüringen bin ich Ministerpräsident des Freistaates und Repräsentant dreier Parteien. Das heißt: Ich bin zu 85 Prozent Sozialdemokrat, zu 95 Prozent Grün und zu 92,5 Prozent Links und zu 100 Prozent Rot-Rot-Grün!"