Georg Cantors, des berühmten Mathematikers Grab befindet sich auf dem Friedhof Giebichenstein an der Friedenstraße in Halle an der Saale. Es liegt an einer Mauer, hinter der ab und an ein Bolzplatz bespielt wird. Cantors Ruhe stört das nicht, denn dieser - versichern Mathematiker der Universität - liege gar nicht dort, sondern auf einem Nachbarfriedhof, den es aber nicht mehr gibt.
Das passt zu Leben und Werk des 1845 im russischen St. Petersburg geborenen Cantor, der stets das Ungewöhnliche suchte und dabei sogar verschiedene Arten von Unendlichkeiten entdeckte. Jahrzehntelang hatte er an der Universität Halle gelehrt, und die Hallenser Mathematiker ehren ihn bis heute:
"Seine grundlegenden Forschungen zur Herausbildung der Mengenlehre gehören zu den großartigsten Leistungen des menschlichen Denkens und bewirkten eine der umfassendsten Umwälzungen in der Geschichte der Mathematik."
Cantors erste Version der Mengenlehre - eines ausgeklügelten Schemas zur Gewinnung von mathematischen Wahrheiten, das auch mit Unendlichkeiten fertig wird - hatte anfangs logische Mängel, die aber in späteren Versionen ausgebügelt werden konnten. Manche namhaften Mathematiker wie Leopold Kronecker hielten Cantors Entwicklung per se für Unfug. Heute gilt die Mengenlehre als Säule der mathematischen Basis. Und Chaos-Theorie und Computergrafik haben dem drögen Stoff Farbe verliehen: Das berühmte Apfelmännchen des Mathematikers Mandelbrot ist eine Cantormenge, ebenso der Sierpinsky-Zahlenteppich, der fast nur aus Löchern besteht, oder der Menger-Schwamm, der mit einer unendlichen Oberfläche das Volumen Null besitzt - alles Dinge, die Fachleuten etwas sagen. Der Astronom John D. Barrow:
"Wir sehen, dass sehr simple arithmetische Regeln eine unendliche Menge komplexer Informationen enthalten können, die sich mit dem simplen Akt der Wiederholung reproduzieren lassen. [...] Das lässt ahnen, wie die Natur aus so einfachen Anfängen hochkomplexe Dinge hervorbringen konnte."
Man kann sich vom Apfelmännchen ein Bild machen, wenn man im Internet nach "Mandelbrot Zoom" suchen lässt.
Cantor und seine Unendlichkeiten hätten lange, von Fachfremden unbehelligt, ruhen können, wäre die Welt nicht am 4. Oktober 1957 von einem Piepsen elektrisiert worden: Die Sowjetunion hatte einen Satelliten, Sputnik I, in den Weltraum befördert - vor den USA. Die waren derart schockiert, dass sie eine Reform des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts an den Schulen einleiteten, unter besonderer Berücksichtigung der Mathematik und deren fortgeschrittenster Zweige, darunter – Georg Cantors Mengenlehre. Der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman, mit der Sichtung der neuen Schulbücher betraut, äußerte starke Bedenken:
"Es wird die meisten Leute, die diese Bücher durchgegangen sind, überraschen, [...] dass all die dort ausgebreiteten ausgefeilten Notierungen für Mengen fast nie in Veröffentlichungen der Theoretischen Physik oder des Ingenieurwesens zu finden sind, oder der Wirtschaftsmathematik oder des Computerdesigns. Ich sehe keinen Grund, weshalb [sie] in der Schule erklärt oder unterrichtet werden sollten."
Tatsächlich siedelt die Mengenlehre an den anwendungsfernen Wurzeln der Mathematik. Man könnte mit ihr keinen Fahrstuhl in Bewegung setzen, geschweige denn eine Rakete.
Der amerikanische Künstler und Mathematiker Tom Lehrer kleidete die Kritik an der Neuen Mathematik, New Math, für Kinder in ein Lied mit dem Credo "Das Wichtige ist jetzt, dass man versteht, was man macht, und nicht das richtige Ergebnis".
"But in the new approach, as you know, the important thing is to understand what you’re doing rather than to get the right answer."
In der reinen Mathematik allerdings haben Cantors Ideen einen festen Platz gefunden. Cantor, der am 6. Januar 1918 starb, hat das dem Halleschen Cantor-Gymnasium zufolge durchaus erwartet:
"Wie die mengentheoretische Methode aus der Wissenschaft nicht schwinden kann, wird auch der Name Georg Cantor als der ihres genialen Begründers die Zeiten überdauern."
Stimmt. Aber so etwas sagt man doch nicht von sich selber.