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1000-Jahres-Rückblick

Klimaforschung. - Messinstrumente und damit exakte Klimadaten gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Für weiter zurückliegende Jahrhunderte muss man sich auf Aufzeichnungen stützen. Der Freiburger Klimaforscher Rüdiger Glaser leitet das Millennium-Projekt, in dem 39 europäische Partner das mitteleuropäische Klima des letzten Jahrtausends rekonstruiert haben.

Von Detlev Kutz |
    Der Arbeitsplatz des Freiburger Geographen Rüdiger Glaser ist für einen Klimaforscher ungewöhnlich: altehrwürdige Bibliotheksräume, düstere Kellergewölbe, ungeheizte Turmzimmer.

    "Archivarbeit zählt zu meinen Lebensbegleitern seit über 20 Jahren."

    Vom Wetter hingen für die Menschen der vergangenen Jahrhunderte Ernte und Missernte ab, also auch das Überleben. Deshalb wurden Wetterbeobachtungen akribisch festgehalten. Glaser:

    "Wir nutzen Textquellen, das sind Tagebuchaufzeichnungen von Äbten aus Klöstern, das sind chronikalische Aufzeichnungen von Stadtschreibern, das sind Tagebücher von Ökonomen, von Bauern, die wir sammeln, in denen wetterbezogene Informationen enthalten sind."

    Wer das Klima Mitteleuropas für längere Zeiträume rekonstruieren will, kann kaum auf Messdaten zurückgreifen, weil es die erst seit dem 19. Jahrhundert gibt. Eisbohrkerne, Baumscheiben und andere Naturarchive decken zwar lange Zeiten ab, liefern aber nur ungenaue Ergebnisse. Diese Lücken sollten die historischen Textquellen schließen helfen - aber wie genau sind die überhaupt? Glaser:

    "Es war ein kalter Winter, es war ein sehr kalter Winter, es war ein milder, es war ein sehr milder Winter. Das heißt die Menschen haben immer auch schon Begrifflichkeiten gesucht und auch eingesetzt, um zu differenzieren und zu unterscheiden."

    Erstaunlicherweise haben Menschen selbst heute noch eine sensible Wahrnehmung für das Wettergeschehen, sagt Rüdiger Glaser:

    "Eine Temperaturabweichung vom mittleren Wert – in Deutschland so bei 9 Grad – um ein Grad nur, merkt der Normalbürger. Also wenn er sagen würde: ,Es war ein kaltes Jahr‘, ist es dann auch tatsächlich ein Grad kälter. Das klingt nicht viel, aber man merkt es, weil sich doch die Vegetationsperiode signifikant verschiebt um bis zu zwei Wochen bei einem Grad nur."

    In früheren Jahrhunderten legten Bauernkalender zum Beispiel fest, dass zu Sankt Benedikt, am 21. März, Gerste gesät werden musste oder dass zu Sankt Georg, am 23. April, die Bäume in Blüte stehen würden. War das Wetter ungünstig, mussten Aussaat oder Ernte verschoben werden. Klosteräbte und andere Chronisten notierten dann, wann die Obstblüte tatsächlich erfolgte, wann gesät werden konnte, wann das Getreide reif war oder wann die Weinlese begann. Aus diesen Aufzeichnungen leiteten Rüdiger Glaser und sein Forscherteam Klimadaten ab, die sich mit heutigen Messwerten vergleichen lassen. Das Ergebnis: eine Dokumentation des Wettergeschehens der letzten 1000 Jahre, mit Angaben über Niederschlag und Temperatur und einer Auflösung von zehn Jahren. Zusätzlich wurde unterschieden nach Jahreszeiten. Und tatsächlich konnte Glaser mit diesen Daten jetzt Annahmen über vergangene Klimaepochen korrigieren. Das mittelalterliche Wärmeoptimum war offenbar nicht ganz so warm wie das unserer Tage. Und es war anders.

    "Das mittelalterliche Wärmeoptimum war geprägt durch eine Vielzahl eher heißer Sommer bei zugleich auch kalten und sehr kalten Wintern. Und heute ist es genau anders herum. Das aktuelle Wärmeoptimum zeichnet sich aus durch sehr milde Winter, das ist das Entscheidende, dass die Winter sich signifikant verändert haben, viel zu mild geworden sind, und die Sommer sind nicht so ganz prickelnd."

    Die neuen Daten helfen auch exakter vorherzusagen, wie oft Mitteleuropa künftig mit Stürmen, Sturmfluten und Hochwässern rechnen muss. Das interessiert die Versicherungswirtschaft. Glaser:

    "Derzeit werden in Baden-Württemberg aber auch in anderen Bundesländern sogenannte Hochwasserrisikokarten entworfen, für alle größeren Flusssysteme, nach denen sich eine Zonierung ergibt, wo auch Bebauungsgrenzen eingerichtet werden sollen, wo bestimmte Versicherungspolicen eben nicht mehr ausgestellt werden über Hochwasser-Elementarschäden."

    Alte Berechnungen stützten sich häufig auf Pegelmessungen der letzten 50 Jahre. Die Ergebnisse der historischen Klimaforschung haben nun einen ganz praktischen Nutzen, indem sie die Daten ergänzen und zeigen, dass zukünftig öfter mit Hochwasser zu rechnen ist.