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125 Jahre Carl Orff
Komponist für Nazis und Grundschulkinder

Michael Jackson und Henry Maske machten Carl Orffs dramatische "Carmina Burana" weltberühmt. Wenig bekannt hingegen ist Orffs Rolle im nationalsozialistischen Deutschland. Trotzdem konnte er in der jungen Bundesrepublik fast ungehindert an seine Erfolge anknüpfen.

Am Mikrofon: Klaus Gehrke | 09.07.2020
    Ein Mann mit ausladender Geste steht bei einer Lesung auf einer Bühne, vor ihm liegt ein Buch.
    Die "Carmina Burana" machten Carl Orff international bekannt. (imago images / Michel Neumeister)
    In der jungen Bundesrepublik gehörte Carl Orff zu den bekanntesten zeitgenössischen Komponisten; seine Opern oder Chorstücke erfreuten sich großer Beliebtheit und für den elementaren Musikunterricht an Grund- und weiterführenden Schulen waren sein pädagogisches Werk sowie das so genannte "Orffsche Instrumentarium" ein Muss. Heute ist Orffs Musik aus den Spielplänen der Opernhäuser und Konzertsäle verschwunden. Lediglich seine "Carmina Burana" gelten als einer der größten Klassik-Hits weltweit. Sie begeisterten übrigens schon das deutsche Publikum im Nationalsozialismus. Am 10. Juli vor 125 Jahren wurde Carl Orff in München geboren.
    Seine ersten Lieder veröffentlichte der 16-Jährige 1911. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges arbeitete Orff kurzzeitig als Kapellmeister in Mannheim und Darmstadt, bevor er ab 1920 noch einmal bei dem neun Jahre älteren Komponisten Heinrich Kaminski studierte. In diese Zeit fiel auch seine intensive Auseinandersetzung mit der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Dazu gehörten vor allem die Opern von Claudio Monteverdi, die Orff besonders faszinierten. Ab 1922 begann er, Monteverdis "Orfeo" für die Bühne neu einzurichten. Ein Jahr später wurde diese Fassung in Mannheim mit wenig Erfolg uraufgeführt; sowohl die Theaterleitung als auch die Ausführenden empfanden sie als "abwegiges repertoirefeindliches Experiment". Dennoch war Orff von der Bühnentauglichkeit des Werkes überzeugt und erstellte bis 1940 noch zwei weitere Fassungen. Gleiches gilt für Monteverdis "Arianna", von der nur der Schluss, das "Lamento", überliefert ist. Auch dieses Stück bearbeitete Orff mehrfach.
    Liedersammlung aus dem Mittelalter
    Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er ebenfalls an seinem heute bekanntesten Werk, den "Carmina Burana" für Soli, Chor und Orchester nach einer gleichnamigen Sammlung von Liedern und Gedichten des 13. Jahrhunderts aus dem oberbayerischen Kloster Benediktbeuern. Im Frühjahr 1934 hatte Orff eine Ausgabe davon bei einem Würzburger Antiquitätenhändler entdeckt, die ihn sofort in ihren Bann zog. Er wählte mehrere lateinische, altfranzösische und mittelhochdeutsche Texte aus und vertonte sie mit einer stark rhythmisch akzentuierten Musik. Gedacht waren die "Carmina Burana" nicht als Kantate, sondern als Bühnenwerk; dem entsprechend wurden sie am 9. Juni 1937 in der Frankfurter Oper uraufgeführt. Anfangs störten manche sich an den lateinischen Texten und deren zum Teil derber Erotik; die Pianistin und glühende Nationalsozialistin Elly Ney bezeichnete das Werk sogar als "Kulturschande". Viele andere Parteigrößen dagegen waren ebenso wie der Großteil des Publikums vom mitreißenden Schwung der Musik begeistert. Orffs "Carmina" avancierten rasch zu einem der meistgespielten Werke deutscher zeitgenössischer Komponisten. Für die Schallplatte entstanden zwischen 1939 und 1944 zwei große Querschnitte sowie mehrere Nummern unter anderem mit der Sopranistin Tiana Lemnitz.
    Dass die "Carmina Burana" als Bühnenstück konzipiert waren und als solches nicht nur während des Zweiten Weltkrieges, sondern auch noch lange danach gespielt wurden, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Unter anderem inszenierte der international renommierte Regisseur Jean-Pierre Ponnelle 1975 das Werk für eine Fernseh-Produktion, die mit dem Regiepreis Prix Italia ausgezeichnet wurde. Lange vergessen, oder auch verdrängt, war auch Orffs Leben im Nationalsozialismus, über das der Komponist zu Lebzeiten nur wenig verlauten ließ. Auch Monographien, die noch bis kurz nach seinem Tod erschienen, klammern diesen Zeitraum fast aus. Erwähnt wurde meist nur, dass Orff sich wegen der Wahl lateinischer Texte oder der stark rhythmischen Komponente in seinen Werken Angriffen ausgesetzt sah. An dem Bild des von den Nationalsozialisten wenig geschätzten Komponisten, der zugleich mit der Widerstandsbewegung der "Weißen Rose" sympathisierte, hatte er nach 1945 selbst mitgearbeitet. So wurde Kritik an seinem Werk hervorgehoben, einhelliges Lob dagegen ebenso verschwiegen wie seine durchaus vorhandene Popularität im sogenannten "Dritten Reich". Seine einaktige Oper "Der Mond. Ein kleines Welttheater" nach einem Märchen der Gebrüder Grimm beispielsweise sei nach ihrer Uraufführung an der Bayerischen Staatsoper in München im Februar 1939 dafür angefeindet worden, dass sie im Totenreich spiele. Interessanterweise wurde das Werk nur einen Monat später in einer von Orff bearbeiteten Rundfunkfassung im Berliner Deutschlandsender ausgestrahlt – mit namhaften Solisten. Den Erzähler sang der Tenor Karl Erb. Die gleiche Partie übernahm Erb bei der ersten Gesamteinspielung der Oper im Januar 1950 mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Rudolf Alberth.
    Auskommen mit den Nationalsozialisten
    Dass Orffs Musik vom nationalsozialistischen Regime nicht abgelehnt, sondern vielmehr geschätzt wurde, zeigt auch die Aufnahme des Komponisten in die von Hitler 1944 erstellte sogenannte "Gottbegnadeten-Liste". Laut seiner Tochter Godelia, zu der er ein eher gespanntes Verhältnis hatte, sowie anderer Zeitgenossen, interessierte Orff sich nicht für die Politik der Nationalsozialisten und stand deren Zielen möglicherweise sogar kritisch und distanziert gegenüber; dennoch versuchte er, mit dem Regime auszukommen, um seinen künstlerischen und privaten Kosmos nicht zu gefährden. Eine Emigration hätte der Komponist, der zeitlebens seinen Lebensmittelpunkt in Oberbayern, München und dem Ammersee sah, wohl auch nie in Erwägung gezogen. Seine Heimat bot ihm immer wieder Anregungen für neue musikalische Werke. So schrieb Orff ab 1946 das "bairische" Stück "Die Bernauerin" über die 1435 unschuldig hingerichtete Agnes Bernauer und die "bairische" Komödie "Astutuli", die vermeintliche Besserwisser und Schlaumeier aufs Korn nimmt. Gleichzeitig faszinierten ihn nach wie vor die großen antiken Dichter wie Sophokles, Euripides oder Catull. Noch bevor er die Sammlung der "Carmina Burana" kennen lernte, beschäftigte Orff sich während eines Urlaubs am Gardasee im Sommer 1930 mit Texten des römischen Dichters. Einige davon vertonte er kurz darauf für Chor a cappella. 1941 griff Orff diese Stücke wieder auf und integrierte sie in die "Catulli Carmina". Die unglückliche Liebesgeschichte zwischen einem alten Greis und einer jungen Frau war nach seiner Definition eine "szenische Parabel von der Allgewalt des Eros". Die Uraufführung erfolgte am 6. November 1943 im Leipziger Opernhaus am Augustusplatz – genau einen Monat vor dessen Zerstörung durch alliierte Bomberverbände. Eine größere Aufmerksamkeit war dem Werk erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschieden. Eine erste Aufnahme von mehreren Chören aus "Catulli Carmina", darunter auch "Odi et amo", entstand am 29. Januar 1950 in Stuttgart mit dem Bruckner-Chor. Der Dirigent war der Komponist Johann Nepomuk David.
    Orff sucht im Nachhinein die Nähe zum Widerstand
    Wie bei fast allen Kulturschaffenden, die das Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland erlebt hatten, wurden in den Entnazifizierungsverfahren der alliierten Besatzungsmächte auch Orffs Beziehungen zum Regime untersucht. Dabei kam ihm zugute, dass der für ihn zuständige US-amerikanische Kulturoffizier Newell Jenkins ein ehemaliger Schüler war. Letztlich wurde Orff als Mitläufer eingestuft und konnte ab 1947 ohne Einschränkungen wieder tätig werden. Einige der Projekte, mit denen er sich damals beschäftigte, hatten ihren Ursprung noch im "Dritten Reich". Beispielsweise wurde seine Oper "Antigonae" nach der gleichnamigen Tragödie des Sophokles 1941 vom Wiener Gauleiter Baldur von Schirach in Auftrag gegeben. Zwar nahm Orff die Arbeit daran noch im selben Jahr auf; ab 1947 unterzog er die fertigen Teile jedoch einer eingehenden Revision und schloss wenig später die Komposition ab. "Antigonae" ist Kurt Huber, dem Gründer der bereits erwähnten NS-Widerstandsgruppe "Weiße Rose", gewidmet, der im Juli 1943 in München hingerichtet wurde. Orff war zwar mit Huber befreundet, hat mit ihm aber kaum über Politik gesprochen und wusste nichts von dessen Aktivitäten. Dennoch brachte die posthume Widmung den Komponisten in die Nähe des Widerstandskämpfers. Am 9. August 1949 wurde "Antigonae" bei den Salzburger Festspielen in der Felsenreitschule uraufgeführt – und bescherte Orff einen weiteren großen Erfolg.
    In der jungen Bundesrepublik galt Carl Orff ebenso als wichtiger Vertreter der zeitgenössischen Musik wie sein gleichaltriger Kollege Paul Hindemith; dieser war jedoch vor den Nationalsozialisten geflohen. Ab 1950 unterrichtete Orff an der Münchner Musikhochschule in Meisterklassen für Komposition. Zu seinen Schülern zählte unter anderem Wilhelm Killmayer, in dessen Werk die Auseinandersetzung mit der Musik der Spätromantik eine große Rolle spielt. Er bezeichnete seinen Lehrer einmal als "den unakademischsten und undogmatischsten Komponisten", den er kenne. Tatsächlich ließ Orff sich von den unterschiedlichen Strömungen und Trends der zeitgenössischen Avantgarde kaum beeinflussen. Bis zu seinem Tod am 29. März 1982 feilte er immer weiter an seinem persönlichen Stil, der zwar immer tonal blieb, aber differenzierteste Ausdrucksgestaltungen verlangte. Heute stehen seine Opern verhältnismäßig selten auf den Spielplänen; die Bearbeitungen von Monteverdis Werken oder Bachs Lukas-Passion sind infolge der historisch informierten Aufführungspraxis in die Archive gewandert. Lediglich die "Carmina Burana" erfreuen sich nach wie vor ungebrochener Beliebtheit.