Donnerstag, 28. März 2024

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Briefe an Beethoven
„Lieber Ludwig, deine musikalischen Umarmungen sind wichtiger denn je“

In Beethovens Stücken sei so viel Leben, Nähe und Emotion wie bei kaum einem anderen Komponisten, schreibt der Pianist Herbert Schuch an den Komponisten. Mit diesen Werken habe er Musikern das Leben gerettet – sie dürften damit Beethovens Welt der Humanität und Brüderlichkeit erkunden.

Von Herbert Schuch | 06.07.2020
Portrait des Pianisten Herbert Schuch, durch einen geöffneten, schwarzen Konzertflügel hinweg fotografiert.
Vergib uns Musikern die vielen Versuche, die nicht ins Schwarze treffen, bittet Herbert Schuch den Komponisten Ludwig van Beethoven (imago / Michel Neumeister)
Sehr geehrter Herr Beethoven, oder doch lieber: verehrtester Meister?
Schon bei der Anrede tue ich mich schwer, schließlich hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, mal einen Brief an einen meiner größten Helden zu verfassen. Also: Lieber Ludwig, dein 250. Geburtstag sollte ganz groß werden. Und jetzt sitze ich allein mit meiner Kernfamilie zu Hause und bin froh, dass ich als Pianist nicht ganz auf deine Musik verzichten muss, sondern mich vielleicht noch tiefer und gründlicher damit beschäftigen kann.
"Alles Langweilige, Erwartbare, Schematische" vertreiben
In diesen seltsamen Zeiten von "social distancing" und 1,5 Meter Mindestabstand zwischen Menschen sind deine musikalischen Umarmungen wichtiger denn je. Gäbe es so etwas wie musikalische Hygieneregeln, hätte das Gesundheitsamt deine Stücke längst auf den Index gesetzt. Da ist so viel Leben, so viel Nähe, so viel Emotion, kurz: Blut, Schweiß und Tränen - wie bei kaum einem anderen Komponisten.
Neulich hörte ich im Radio deine Ouvertüre "Die Weihe des Hauses" zum ersten Mal. Also mal ehrlich, so ein mustergültig durchschnittliches, ja langweiliges Stück aus deiner Feder? Auch dafür möchte ich dich umarmen: Durch so ein Stück wird mir nur klarer, mit wie viel Herzblut und harter Arbeit du bei deinen Werken daran gefeilt hast, eben alles Langweilige, Erwartbare, Schematische daraus zu vertreiben. Wie großartig sind wir durch diese Mühe beschenkt worden, nicht nach schnellem Beifall zu schielen, sondern immer wieder Tabula rasa zu machen, jedes Mal von Null anzufangen.
Auch als ich neulich die Entwürfe zum Thema deiner berühmten Arietta aus Op.111 gesehen habe, musste ich staunen. Wie banal sahen die ersten Ideen aus. Das hätte, pardon, selbst ich so komponieren können! Und mit jedem weiteren Versuch entfernst du dich immer mehr in ein unbekanntes, immer unglaublicher und schöner werdendes Paralleluniversum.
"Ständiges Probieren, Hinterfragen, Nachdenken"
Irgendwie macht mir das auch Hoffnung. Auf einer viel bescheideneren Ebene sind wir Musiker ja auf der einen Seite mit dieser großartigen Musik bedacht worden, leiden aber auch andererseits an dieser unmöglichen Aufgabe, diese Musik immer angemessen in ihrer Genialität zu erfassen. Du scheinst uns zuzurufen: Gib nicht auf! Das ständige Probieren, Hinterfragen, Nachdenken ist das Wichtige. Wie gerne wüsste ich deine Gedanken zu deinen Werken. Stimmt es, dass du zu allen Sinfonien ein außermusikalisches Programm schreiben wolltest, es dir aber dann doch noch anders überlegt hast? Wie gerne würde ich diese Programme lesen!
Auch würde ich dir sicher ein paar Fragen stellen zu deinen Tempi. Hast du das wirklich so gemeint mit der Hammerklaviersonate? Oder muss ich davon ausgehen, dass dein Puls sich über den Verlauf eines Satzes unglaublich stark geändert haben muss? Vielleicht unwichtige Fragen für so ein großes Genie wie dich, aber wir ausführenden Musiker beschäftigen uns eben mit diesen Dingen.
Eine Oboe liegt auf einem aufgeschlagenen Heft mit Musiknoten.
Briefe an Beethoven - „Lieber Ludwig, Sie sind der Alchemist der Töne!“
Beethoven habe die Fähigkeit besessen, aus unspektakulären Tönen Gold zu machen, schreibt der Oboist Albrecht Rudolf Mayer in seinem Brief an den Komponisten. Vor allem mit seinen letzten Sonaten für Fortepiano habe Beethoven die Musikhistorie komplett auf den Kopf gestellt.

Bedanken möchte ich mich auch für deine unnachahmliche Art und Weise, wirklich Wichtiges in den Noten so zu fixieren, dass der Charakter deiner Werke deutlich hervortritt, aber uns Interpreten doch noch so viel Freiheit gelassen wird. Aber wie hast du dir deine Musik ganz genau vorgestellt?
Ein "letzter Rest von Geheimnis"
Wie oft saß ich schon verzweifelt am Klavier und habe versucht, den Inhalt deiner Musik angemessen wiedergeben zu können. Mittlerweile denke ich: Es bleibt bei Versuchen! Im besten Falle nähern sie sich einem Ideal an, um dann vielleicht- eine Hoffnung bleibt ja - auf einmal ins Schwarze zu treffen. Insofern: Vergib uns Musikern die vielen Versuche, die nicht ins Schwarze treffen. Apropos vergebliche Versuche: Hut ab vor deiner Waldsteinsonate. Je mehr ich sie spiele, desto mehr verstehe ich, dass hier immer ein letzter Rest von Geheimnis bleibt, etwas, dass sich nie in Klang umsetzen lassen wird. Wie hast du das bloß hinbekommen? Darüber würde ich mich wirklich gern mit dir unterhalten!
Mit diesen Werken hast du uns Musikern das Leben gerettet. Was wären wir ohne dich und deine großen musikalischen Vorfahren und Nachkommen, ohne deine und eure Geheimnisse, Wahrheiten, Unendlichkeit? Wir wären dressierte Äffchen, die Kunststücke darbieten dürfen. Stattdessen dürfen wir deine Welt erkunden, diese Welt einer Philosophie des Herzens, der Humanität, der Brüderlichkeit.
Danke, Ludwig.
Dein ergebenster Bewunderer
Herbert Schuch