Montag, 29. April 2024

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14. Mannheimer Ethiksymposium
Suche nach Identität in einer Welt im Wandel

Psychische Erkrankungen, Unsicherheit, Ängstlichkeit, Intoleranz, Zerfall von Staaten - das hat alles etwas mit Identität zu tun. Das 14. Mannheimer Ethiksymposium befasste sich mit der Bedeutung von Identität und der Suche nach einer Identität in der sich wandelnden Welt.

Von Cajo Kutzbach | 13.10.2016
    Ein Syrer steht auf einem Haufen Schutt in einem Stadtteil von Aleppo - nach einem Luftangriff.
    Krieg und Vertreibung können eine Identität zerstören. (AFP / Karam al-Masli)
    "Wir wissen schon, dass eine 'angeknackste' Identität, dass die eine hohe Vorhersage erlaubt, darüber, ob ein Mensch im Lebensverlauf psychisch krank wird", erklärt Prof. Sabine Herpertz, Direktorin der Klinik für allgemeine Psychiatrie an der Universität Heidelberg. Das hängt zum Beispiel so zusammen:
    "Wenn man kein positives Selbstbild hat, wenn man eine Bereitschaft hat, sich durch Andere schnell entwertet und kritisiert zu erleben, dann wird das die Wahrnehmung von allen sozialen Situationen im hohen Maße verändern und führt dazu, dass wir vielleicht unter recht normalen zwischenmenschlichen Situationen schon leiden. Und wenn es dazu immer wieder kommt, dann führt das letztendlich zu psychischer Erkrankung."
    Menschen deren Selbstbild, deren Selbstwertgefühl, deren Selbstverständnis weniger robust ist, sind verletzlicher und bekommen daher eher psychische Erkrankungen, etwa eine Depression oder Angststörung. Weil Störungen oft gemeinsam auftreten, taugen die bisherigen Krankheitsbegriffe nicht mehr.
    Man sucht daher nach neuen Krankheitsbegriffen, die beschreiben sollen, wie sehr die Betroffen im Alltag beeinträchtigt sind. Krankheit als Funktionseinschränkung zu betrachten, geht außerdem mehr auf die Patienten ein. Sabine Herpertz nennt die wesentlichen Bereiche:
    "Hier sind bei den Funktionsbeeinträchtigungen einmal die zu sehen, die sich auf das zwischenmenschliche Zusammenleben beziehen, und zum anderen, die sich auf die eigene Identität beziehen."
    Die eigene Identität entsteht im Austausch mit anderen Menschen
    Dieses Selbstbild, dieses Selbstverständnis ist für die seelische Gesundheit jedes Menschen entscheidend. Wer mit sich selbst im Reinen ist, hat es auch leichter mit seinen Mitmenschen auszukommen. Die eigene Identität entsteht im Austausch mit anderen Menschen.
    "Das fängt natürlich schon an in den ganz frühen Beziehungen zu den eigenen Eltern, dass die eben in der Lage sind, auf eben die kindlichen Signale adäquat - wir sagen immer gerne kontingent - zu antworten und damit eben zur Bildung eines gesunden Selbst beitragen, also da die wichtigsten Voraussetzungen bilden. Die eigentliche Identitätsbildung, die verläuft dann schon über die ganze Lebensphase. Denken sie daran, dass schwerwiegende Erlebnisse im Leben auch noch mal zu nachhaltigen Veränderungen im Selbst führen können."
    Die Eltern legen das Fundament, indem sie Werte und Einstellungen ihrer Kultur vermitteln, die der Jugendliche dann in der Pubertät infrage stellen muss, um sich vom Elternhaus zu lösen. Deshalb ist er da auch besonders empfänglich für andere religiöse und politische Ideen, weil er in dieser Zeit nach der eigenen Identität sucht, sein Selbstverständnis im Wandel ist.
    Suche nach einer Gemeinschaft, die einen warm aufnimmt
    Bei Menschen, die zum Kämpfen in den Nahen Osten fuhren, fand man häufig, dass sie genauso gut - bei entsprechender Gelegenheit - Rechts- oder Linksradikale hätten werden können. Christine Schirrmacher, Professorin für Islamwissenschaften der Universität Bonn:
    "Was viele Menschen offensichtlich – nach dem, was wir aus Biografien entnehmen können – verwundbar macht, ist eine Suche. Eine Suche nach Ankommen in einer Identität, über die man nicht verfügt. Also, das kann sich ausdrücken in einer Suche nach einer Gemeinschaft, die einen warm aufnimmt, freundlich aufnimmt, die einem ein geschlossenes Weltbild vermittelt, in dem man selbst eine Aufgabe hat."
    Das sind genau die Schwierigkeiten jedes jungen Menschen, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Es betrifft aber auch Menschen, die durch Schicksalsschläge entwurzelt und in ihrer Identität verletzt wurden, etwa durch Krieg und Vertreibung. Neben der persönlichen Identität gibt es die Identitäten von Gruppen, etwa deren gemeinsame Kultur.
    Man kann daher den Zulauf zum politischen Islam auch als Ergebnis einer Identitätskrise verstehen. Auch Rückfälle in nationalistische Strömungen lassen sich oft als Krise der Identität von Gemeinschaften verstehen. Etwa, wenn frühere Ostblockstaaten und Sowjetrepubliken zunächst einmal in nationalistischen Formen nach ihren Identitäten suchen.
    "Das sehe ich in Teilen von Osteuropa durchaus hochkommen oder neue Gestalt gewinnen, dass man eigentlich nationalistisches Gedankengut mit radikalisierenden Bewegungen vermischt. Und da ist natürlich die Frage: Wer sind wir? Wer möchte von uns Macht ergreifen, wer möchte, hat auf uns Zugriff? Wer bestimmt unsere Identität? Und dann versteift man sich auf ein Nationenverständnis, was ja wissenschaftlich nur sehr schwer zu belegen ist."
    Identität reift, wenn man dem Anderen begegnet
    Wenn nun Menschen mit ihren durch Krieg oder Not verletzten Identitäten nach Europa fliehen, dann stellt das die Gruppenidentitäten von Regionen oder von Europa in Frage - und damit auch die Identitäten der einzelnen Menschen. Christine Schirrmacher sieht darin eine wertvolle Anregung, sich darum zu kümmern, wer wir in einer sich wandelnden Welt sein wollen:
    "Wie können wir die gemeinsame Zukunft positiv gestalten, um nicht einer Vergangenheit nachzutrauern, die ja häufig heiler und goldener aussieht im Rückblick und so oft ja gar nicht gewesen ist?"
    Wer sich mehr um die eigene Identität kümmert und sie stärkt, wird sowohl als Einzelner gesünder sein, als auch in der Gruppe Geborgenheit erleben und geben können. Aus dieser Geborgenheit heraus kann man dann offener, toleranter und hilfsbereiter werden, weil die Angst abnimmt, dabei selbst zu kurz zu kommen. Identität reift, wenn man dem Anderen begegnet, meint Christine Schirrmacher:
    "Bildung und Kultur und interkulturelle Begegnung und den Umgang mit dem 'Anderen' pflegen, vertiefen und Vieles entdecken dabei, was man auf den ersten Augenschein nicht erwartet hätte."