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15 Jahre nach Tianamen

Remme: So wie die Ziffern "neun elf", "nine eleven", in den USA für sehr lange Zeit an den elften September erinnern werden und die Terroranschläge in New York und Washington, so haben auch die Chinesen ein Datumskürzel dieser Art, "sechs vier" lautet es und es steht für den vierten Juni, den Tag heute vor 15 Jahren als die Panzer der Volksarmee die Proteste von Studenten und Arbeitern blutig niederschlugen. Wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, ist auch heute noch unklar, mindestens Hunderte, möglicherweise Tausende. In kaum einem anderen Land dieser Erde hat sich in den letzten 15 Jahren so viel verändert wie in China. Die Führung des Landes versucht, Erinnerungen an das Massaker auszulöschen. In unserem Studio in Peking begrüße ich jetzt Johnny Erling, Sinologe, Publizist und Zeitzeuge des Tages. Guten Morgen, Herr Erling.

Moderation: Klaus Remme |
    Erling: Guten Morgen.

    Remme: Herr Erling, rufen Sie uns diese Bilder des Tages doch kurz in Erinnerung.

    Erling: Wenn Sie vom Juni 1989 sprechen, damals war ich Korrespondent für eine Gruppe deutscher Tageszeitungen in Peking. Ich saß in einem Büro am frühen Morgen und wir versuchten die Nacht, über die wir die ganze Zeit natürlich auf gewesen sind, uns zu rekapitulieren. Es war schönes Wetter und es war eine absurde Situation, weil wir ja direkt an einer Hauptverkehrsstraße, die zu dem Tiananmen führt, wohnten. Wir sahen, dass unten Radfahrer fuhren, wir gingen auch herunter. Viele der Radfahrer wussten überhaupt nicht, was in dieser Nacht passiert war. Ungefähr zehn Kilometer von uns entfernt auf dem Tiananmen waren natürlich Barrikaden, alles abgesperrt und dort hatte sich das Ganze vollzogen. Die Armee hatte in der Nacht den Platz geräumt, am frühen Morgen. Die Studenten waren abgezogen, im Zuge dieser Räumung hatte die Armee, die von Westen kam, auf den Straßen geschossen. Es sind viele Menschen gestorben, vor allen Dingen um und auf dem Weg zum Platz. Und das war die Situation und alles war unter Schock, alles war surreal, niemand wusste genau, was da passiert.

    Remme: Und man konnte offener berichten als möglicherweise heute, oder?

    Erling: Nein, das kann man nicht sagen. Ab 1. Juni war die Situation so, dass eigentlich die Berichterstattung generell verboten war. Wir haben uns natürlich nicht daran gehalten. CNN war abgeschaltet - die gab es damals ja schon. Die hatten noch bis in die Nacht oder bis kurz davor berichten können. Und wir konnten natürlich normal über unsere Telefone berichten und es war eine ganz andere Technologie, Sie dürfen nicht vergessen, es gab noch kein Internet, kein E-Mail. Wenn Sie meinen offener berichten, dann meinen Sie, ob die chinesische Presse offener berichten kann, aber die stand seit dem 20. Mai ja nun auch unter Kriegsrecht, das heißt, da erschien auch nichts mehr.

    Remme: Herr Erling, wie viel Erfolg hat die chinesische Führung heute, dieses Ereignis totzuschweigen?

    Erling: Begrenzt. Das Ereignis wird versucht, durch die Entwicklung, die sie ja vorhin schon geschildert haben, durch diese 15 Jahre Wirtschaftsreformen und Aufschwung aus dem Gedächtnis der Leute zu streichen. Es ist natürlich auch so, dass alles zensiert wird, was über den 4. Juni erscheint, sodass sie mit einem gewissen Erfolg die junge Generation, also die Leute, die damals noch nicht geboren waren oder die gerade fünf, sechs Jahre alt waren, dass das bei denen kein richtiges Bild gibt. Ein Großteil der damaligen Studentenführer ist heute im ausländischen Exil und damit haben sie relativ wenig Einfluss auf die chinesische Diskussion, sodass also äußerlich zumindest gesehen dieser 4. Juni gar nicht präsent ist, auch nicht diskutiert wird, aber in Wirklichkeit wissen die Leute, worum es geht. Und Ihre Eingangsworte waren so schön. Sie sagten das heißt "sechs vier" in China, also 4. Juni, das sind die Zahlen dafür. Wenn Sie heute mal ins Internet gucken, in einige der kleinen Portale, dann finden sie so Zahlenspiele. Ein sehr schönes Zahlenspiel ist zum Beispiel "8835?". Das bedeutet 8 mal 8 ist 64, also sechs vier, vierter Juni und 3 mal 5 ist 15, 15. Jahrestag. Also mit solchen Dingen geht man damit um.

    Remme: Wir haben über die wirtschaftliche Entwicklung gesprochen. Muss man diese nun völlig losgelöst von der Niederschlagung des Aufstands betrachten, sind das unabhängige Entwicklungen oder hängen die zusammen?

    Erling: Nein, die kann man nicht losgelöst von diesem Aufstand und von seiner Niederschlagung, das war ja kein Aufstand, das war ja an sich eine Demonstration die dann später zum Aufstand hoch geredet wurde, sehen, sondern diese Studentendemonstrationen haben sich über einen Zeitraum von etwa sechs Wochen entwickelt, sind eskaliert. Und das war in einer Phase, als China bereits in einem Reformzyklus war. China hat sehr viel früher als die Sowjetunion und die anderen Staaten mit Wirtschaftsreformen begonnen, das begann ja mit der Landwirtschaft, ging dann auch ziemlich erfolgreich weiter, sodass der 4. Juni da keine echte Zäsur war. Im Gegenteil, als die chinesische Führung, die ja den Schießbefehl gegeben hatte, vor diesem Scherbenhaufen stand, den sie da angerichtet hatte, und darüber diskutierte, wie es denn nun weiterginge, da kam der Mann, der den Schießbefehl gegeben hatte, Deng Xiao Ping, und sagte, eins dürfen wir auf keinen Fall machen, wir dürfen nicht diesen Reformprozess stoppen, den wir eingeleitet haben. Der hat damit nichts zu tun. Und das war eine kluge Entscheidung, denn da gingen die Reformen weiter und mit den Wirtschaftreformen ging dieses aufblühende Land weiter. Es gab natürlich erstmal einen Rückschlag von etwa zwei, drei Jahren, durch die Boykotte des Westens, durch das Entsetzen, das das Ganze ausgelöst hat, aber danach ging es dann umso schneller weiter.

    Remme: Abschließend Herr Erling, Sie haben eben schon die neuen Technologien angesprochen. Es ist schon die Rede von so genannten Cyber-Dissidenten. Gibt es eine politische Opposition auf diesem Niveau in China?

    Erling: Wir müssen immer definieren, was wir unter Opposition verstehen. Wir haben heute immer mehr Leute, die ihre Interessen durchsetzen. Das hängt sehr stark mit dieser wirklich gewaltigen Entwicklung der Privatwirtschaft zusammen, mit der großen Entwicklung der technischen und auch anderer Formen der Intelligenz, also auch der Sozialwissenschaften und alles, das sind alles Leute, die sich nicht mehr den Mund verbieten lassen. Damit gibt es automatisch also eine neue Form der Opposition, nämlich Leute, die sehr selbstbewusst sind und die die Rechte, die sie bereits auf anderen Gebieten haben, nun auch in der Politik einfordern. Das ist nicht unmittelbar verbunden mit dem 4. Juni. Aber wenn sie von Internet-Dissidenten oder Cyber-Dissidenten sprechen: China ist sehr findig und kundig. Also eine der Formen der Opposition heute zum Beispiel läuft über die SMS. China ist das Land mit den meisten Mobiltelefonen, 300 Millionen Handys gibt es hier. Und es ist auch das Land, das die meisten SMS versendet und ein Großteil dieser SMS sind politischen Inhalts und schwer zu kontrollieren.