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150. Geburtstag Mahatma Gandhis
Urenkelin: Gandhi wäre heute ein trauriger Mann

In Indien gibt es mehr als hundert Milliardäre und bis zu 200.000 Millionäre. Trotzdem sterben immer noch zigtausende Menschen an Mangelernährung. Die Dörfer, die dem Bapu - dem Vater der Nation, so der Ehrenname Mahatma Gandhis - so wichtig waren, bluten aus. Ein Besuch bei Gandhis Urenkelin Neelam.

Von Silke Diettrich | 02.10.2019
Zeltunterkünfte am Strassenrand in Nordindien
Gandhis 150. Geburtstag - seine Urenkelin glaubt, er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das Indien von heute kennen würde (picture alliance/dpa-Zentralbild/Reinhard Kaufhold)
Klein, schmächtig und mit Brille: Neelam Parikh sieht ihrem Urgroßvater schon recht ähnlich. Die Urenkelin von Mahatma Gandhi ist heute 86 Jahre alt, aber an eine Eigenart von ihm kann sie sich noch gut erinnern. Ihre Brille wackelt heftig hin und her, wenn sie davon erzählt, denn sie muss ein wenig kichern dabei:
"Ich habe mich bei meiner Mutter immer darüber beschwert, dass mein Urgroßvater mir so stark auf den Rücken geklopft hat, wenn wir zu Besuch waren. Das hat manchmal richtig weh getan. Aber dann hat er uns Kindern immer ein Stück Obst gegeben und uns raus zum Spielen geschickt."
Gandhi bei einem Aufenthalt nach Krankheit an der Küste
Gandhi bei einem Aufenthalt nach Krankheit an der Küste (imago/United Archives International)
Was für ein wichtiger Mann ihr Urgroßvater war, hat sie erst sehr viel später verstanden. Neelam Parikh ist in der Großstadt Bombay, dem heutigen Mumbai, aufgewachsen und hat dort studiert. Statt einem lukrativen Beruf nach zu gehen, hat sie die Ideen Gandhis umsetzen wollen. Mit ihrem Ehemann ist sie in ein kleines Dorf aufs Land gezogen und hat dort an einer Schule unterrichtet. Nachmittags hat sie dort Frauen das Lesen beigebracht. Damit gehört Neelam Parikh zu sehr wenigen Menschen in Indien, die ein Leben im Namen Gandhis führen. Würde Bapu, also der Vater der Nation noch leben, würde das Land sicher besser dastehen, sagt sie ein bisschen wehmütig:
"Ich glaube, er wäre sehr enttäuscht, wenn er heute noch leben würde. Er hat damals alles versucht, um die Spannungen zwischen Muslimen und Hindus zu mildern. Alle Kinder haben ihn Bapu genannt, die muslimischen, die Parsen, die Hindus - er war der Vater von allen. Ich bin mir sicher, würde Gandhi das heutige Indien sehen, er würde zu Gott beten, dass Er ihn von diesem Ort wegholen möge."
Mahtama Gandhi träumte nicht nur vom friedlichen Zusammenleben der Religionen, sondern auch von einem Indien, in dem die kleinen Bauern durch fairen Handel genug Geld hätten verdienen können, um zu überleben.
Seine Urenkelin Neelam Parikh ist nicht nur enttäuscht, dass die Revolution von unten in ihrem Land nie stattgefunden hat. Die 84-Jährige ist sauer, dass die Politiker den Namen ihres Urgroßvaters missbrauchen, um politische Kampagnen zu fahren.
"Heute geht es doch nur noch darum, eine Show zu machen. Bapu hat die Dinge wirklich angepackt, er hat in seinem Ashram die Toiletten selber geputzt, er hat seinen Haushalt gemacht, sogar in der Küche geholfen. Es gab keine Arbeit, die ihm zu schmutzig war. Er hat alles, was er getan hat, aus tiefstem Herzen gemacht. Die Politiker von heute nehmen einen Besen in die Hand, um mit diesem Foto dann in der Zeitung zu landen. Das ist alles nicht echt."
Neelam Parikh: Gandhi wäre heute ein trauriger Mann
Heute ist Neelam Parikh selbst Großmutter, sie hakt sich bei ihrer Enkelin ein, als sie auf eine Bambushütte zusteuert. An diesem Ort hat Gandhi zwei Wochen lang mit seinen Anhängern Artikel für Zeitungen geschrieben und alle Menschen, arm oder reich, im Land dazu aufgerufen, sich den Unterdrückern, damals den Briten, zu widersetzen. Nachdenklich schaut sie auf das Foto ihres Urgroßvaters, das an der Gedenkstätte angebracht wurde und schüttelt ihren kleinen Kopf.
"So wie es heute läuft, das ist nicht die Freiheit, die Bapu sich vorgestellt hatte. Er wollte, dass alle genügend Arbeit haben, vor allem in den Dörfern. Die Politiker müssten heute genau dort ansetzen und den armen Menschen und Dorfbewohnern mehr Rechte geben. Aber es passiert nichts dergleichen. Im Gegenteil. Die da oben machen Politik, die bei den Menschen unten nie ankommt."
Inzwischen gibt es hier mehr als hundert Milliardäre und bis zu 200.000 Millionäre. Und trotzdem sterben immer noch zigtausende Menschen an Mangelernährung. Die Dörfer, die Gandhi und seiner Urenkelin Neelam so wichtig sind, bluten aus. Ihre Bewohner, die ihr Glück als Tagelöhner in den Städten versuchen, werden dort in der Regel ausgebeutet. Vermutlich hat Neelam Parikh Recht, ihr Urgroßvater Mahatma Gandhi wäre ein trauriger Mann, wenn er wüsste, dass sich seine Ideale nicht verwirklicht haben.