Harpprecht: Guten Morgen.
Lange: Herr Harpprecht, wo und wie haben Sie denn den 17. Juni erlebt?
Harpprecht: Ich war gerade im Begriff, am 16. Juni nach Bonn rüberzufliegen, weil ich aus Gründen des Geldverdienenmüssens, nämlich Bonner und Berliner Korrespondent für die Wochenzeitung Christ und Welt zugleich, die zahlte so miserabel und rief vorher noch einen Freund bei der RIAS an, der sagte, fahr mal nicht weg, sondern geh rüber in die Stalinallee, da tut sich etwas. Das tat ich und fuhr hin, das konnte man damals noch mit dem Taxi und in der Tat war da der Aufruhr der Bauarbeiter in vollem Gange und ich kam gerade noch zurecht, um den Auftritt von Minister Selbmann zu erleben, der die Rücknahme der Normen versprach, aber sehr ruppig von den Arbeitern behandelt wurde. Das war ein dramatischer Augenblick, das war ein DDR-Minister, wenn auch zweiten Grades, die DDR-Regierung befand sich damals mehr oder weniger in Dauerberatung mit dem sowjetischen Hochkommissar Semjonow.
Lange: War Ihnen denn gleich klar, welche Dimension das hatte oder bekommen würde?
Harpprecht: Die ganze Dimension war mir nicht klar, aber als dort dann die ersten Hinweise gegeben wurden, man solle den Streik am nächsten Tag fortsetzen und wenn es geht zu einer Art Generalstreik ausweiten und als dort dann die ersten politischen Parolen aufgetaucht sind und zwar aus der Mitte der Arbeiterschaft, keineswegs von irgendwelchen düsteren CIA-Agenten oder wie jetzt ein ehemaliger DDR-Kulturminister mit dem Namen Bentzien lächerlicherweise in einem Buch verbreitet, Agenten von Berija, dem Geheimdienstchef Stalins, der damals um die Macht in Moskau kämpfte. Alles das ist Unsinn, in Ostberlin gab es ja noch eine legale sozialdemokratische Partei, die allerdings unter strengster Aufsicht stand, aber von der aus und von den freien Gewerkschaftlern, die da waren, gingen die politischen Parolen aus.
Lange: Was ist Ihnen denn vom 17. Juni, dem Tag darauf, besonders haften geblieben, was fällt Ihnen sofort ein?
Harpprecht: Natürlich die große Szene, als die rote Fahne vom Brandenburger Tor geholt worden ist, das hatte eine hochsymbolische Bedeutung und da schaute man doch mit großer Atemlosigkeit zu. Es ist mir in Erinnerung der Marsch der Hennigsdorfer Arbeiter, zehntausende, die übrigens durch die Westsektoren rübermarschiert sind und da hat man schon etwas von der geballten Kraft einer wirklich freien Arbeiterbewegung gespürt. Man hat allerdings auch gleich zur Kenntnis genommen, dass sich die Bewegungen nicht auf die bloße Arbeiterschaft konzentriert, auf die klassische, sondern dass sehr viele andere Kreise der Bevölkerung mitgerissen wurden. Das nächste, was mir natürlich sehr eindrucksvoll in Erinnerung ist, dass ich dann zum ersten mal wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs scharfe Munition, Kugeln, pfeifen hörte und in volle Deckung gegangen bin.
Lange: Sie haben 1954 zusammen mit Klaus Bölling die erwähnte erste Gesamtdarstellung des 17. Juni geschrieben über die Ereignisse in Berlin aber auch in anderen Städten der DDR. Wie ist dieses Buch zustandegekommen, wir haben Sie recherchiert?
Harpprecht: Ich habe vor allem als Hauptquelle hunderte von Aussagen von Menschen aus der DDR genommen, die beim RIAS, dem ich später zugehörte, ihre Beobachtungen zu Protokoll gegeben haben. Eine andere Quelle waren natürlich die Materialien des Ostbüros der SPD oder des Bundes Freiheitlicher Juristen, der damals sehr aktiv war und sehr akribisch Material gesammelt hat und ich bin natürlich in die Flüchtlingslager gegangen und habe mit sehr vielen Menschen, die am 17. Juni beteiligt waren, gesprochen und es war für mich ein Anlass zu Freude, dass mir jetzt gerade in den vergangenen Tagen von vielen Augenzeugen, aber auch von ostdeutschen Historikern, die sich mit den Ereignissen in Leipzig oder auch in Görlitz befasst haben, gesagt wurde, dass das Material erstaunlich zuverlässig ist und dass ich auch den Wortlaut der Reden von den Führern der Aufständischen getreu wiedergegeben habe. Das danke ich vor allem den RIAS-Materialien, die merkwürdigerweise den Historikern jetzt nicht mehr zur Verfügung stehen, es gibt nur noch Tondokumente. Wo diese Materialien hin verschwunden sind, weiß ich nicht, aber das lohnte eine Feststellung.
Lange: Haben Sie denn nach dem 17. Juni auch in der DDR selbst recherchieren können?
Harpprecht: Nein, das konnte ich nicht, das war schon sehr viel zu gefährlich. Ich habe am 17. Juni selber, als am Nachmittag der Ostsektor zerniert wurde, habe ich meine liebe Not gehabt, einen Augenblick einer Verwirrung, eines nochmaligen Zusammenstoßes von Arbeitern mit der bewaffneten Volkspolizei zu nutzen, um über eine Brücke nach Westen zu entkommen, denn ich konnte mir sehr wohl ausmalen, was passieren würde, wenn ich als Westjournalist dort drüben geschnappt worden wäre und ich glaube, ich hätte Bautzen besser kennengelernt, als ich jemals das Bedürfnis hatte.
Lange: Dieses Buch liest sich auch heute noch recht gut, gibt es heute etwas, von dem Sie sagen würden, das haben wir damals nicht richtig gesehen oder diesen Aspekt haben wir übersehen?
Harpprecht: Der eine Aspekt, den ich vielleicht etwas zu kurz angesetzt habe war der, wie groß doch der amerikanische Widerstand gegen alle Versuche einer Anschürung, einer Steigerung des Aufstandes waren, so dass wir jetzt wissen, dass Ernst Reuter, was damals unter Verschluss gehalten wurde, tatsächlich daran gehindert wurde von einer Tagung in Wien rechtzeitig nach Berlin zurückzukommen, dass eine Rede oder Ansprache von ihm nicht gesendet werden konnte. Die Amerikaner achteten mit größter Akribie darauf, dass es nicht zu einer Ausweitung des Konfliktes komme und der damalige RIAS-Direktor Gordon Ewing, ein Mann, den ich sehr sehr schätze, ein liberaler, aufrechter und sehr kluger Mann, ihm war damals, wie er mir später versicherte, mehrmals aus Washington von höchster Stelle gesagt worden, er soll alles tun, um gefährliche Konfliktausweitung zu vermiednen, denn es könne hier um Krieg und Frieden gehen. Die Erfahrung, die man gemacht hat ist, dass letzten Endes die großen Mächte die in Jalta abgesteckten Einflusssphären mit äußerster Genauigkeit respektiert haben. Das war natürlich ein Element des Friedens. Trotzdem, was ich damals bei der Niederschrift, mein Freund Bölling genauso wenig, ahnen konnte war, dass der 17. Juni eigentlich der Auftakt, die Ouvertüre einer großen europäischen Revolution war.
Lange: Nun heißt es in diesen Tagen ja oft, 1989 ist im Grunde der 17. Juni vollendet worden. Halten Sie eine derart dicke Verbindungslinie für zulässig oder sollte man mit solchen großen Worten doch etwas vorsichtiger sein?
Harpprecht: 1989 hat sich sicher das vollzogen, wovon viele der Teilnehmer am 17. Juni geträumt hatten. Es gab eine lange lange Durststrecke. Ich bin tief davon überzeugt, dass der November 1989 nicht möglich gewesen wäre, erstens ohne die feste West-Bindung der Bundesrepublik, die wiederum die Basis für die Ostpolitik von Willy Brandt gewesen ist. Und es bedurfte natürlich des langsamen, ganz stillen Vormarsches des Widerstandes in den anderen osteuropäischen Ländern. Sie kennen die nächsten Stationen, Posen, die tragische Station von Budapest, den Prager Frühling und das waren alles Etappen auf dem Weg zu der europäischen Revolution, von der man wirklich reden kann, des Herbstes 1989, der sich ja 1990 fortsetzte und mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums geendet hat.
Lange: In den Informationen am Morgen war das der Journalist und Schriftsteller Klaus Harpprecht, ein Zeitzeuge des 17. Juni 1953. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Harpprecht und auf Wiederhören.
Harpprecht: Ich bedanke mich.
Link: Interview als RealAudio
Lange: Herr Harpprecht, wo und wie haben Sie denn den 17. Juni erlebt?
Harpprecht: Ich war gerade im Begriff, am 16. Juni nach Bonn rüberzufliegen, weil ich aus Gründen des Geldverdienenmüssens, nämlich Bonner und Berliner Korrespondent für die Wochenzeitung Christ und Welt zugleich, die zahlte so miserabel und rief vorher noch einen Freund bei der RIAS an, der sagte, fahr mal nicht weg, sondern geh rüber in die Stalinallee, da tut sich etwas. Das tat ich und fuhr hin, das konnte man damals noch mit dem Taxi und in der Tat war da der Aufruhr der Bauarbeiter in vollem Gange und ich kam gerade noch zurecht, um den Auftritt von Minister Selbmann zu erleben, der die Rücknahme der Normen versprach, aber sehr ruppig von den Arbeitern behandelt wurde. Das war ein dramatischer Augenblick, das war ein DDR-Minister, wenn auch zweiten Grades, die DDR-Regierung befand sich damals mehr oder weniger in Dauerberatung mit dem sowjetischen Hochkommissar Semjonow.
Lange: War Ihnen denn gleich klar, welche Dimension das hatte oder bekommen würde?
Harpprecht: Die ganze Dimension war mir nicht klar, aber als dort dann die ersten Hinweise gegeben wurden, man solle den Streik am nächsten Tag fortsetzen und wenn es geht zu einer Art Generalstreik ausweiten und als dort dann die ersten politischen Parolen aufgetaucht sind und zwar aus der Mitte der Arbeiterschaft, keineswegs von irgendwelchen düsteren CIA-Agenten oder wie jetzt ein ehemaliger DDR-Kulturminister mit dem Namen Bentzien lächerlicherweise in einem Buch verbreitet, Agenten von Berija, dem Geheimdienstchef Stalins, der damals um die Macht in Moskau kämpfte. Alles das ist Unsinn, in Ostberlin gab es ja noch eine legale sozialdemokratische Partei, die allerdings unter strengster Aufsicht stand, aber von der aus und von den freien Gewerkschaftlern, die da waren, gingen die politischen Parolen aus.
Lange: Was ist Ihnen denn vom 17. Juni, dem Tag darauf, besonders haften geblieben, was fällt Ihnen sofort ein?
Harpprecht: Natürlich die große Szene, als die rote Fahne vom Brandenburger Tor geholt worden ist, das hatte eine hochsymbolische Bedeutung und da schaute man doch mit großer Atemlosigkeit zu. Es ist mir in Erinnerung der Marsch der Hennigsdorfer Arbeiter, zehntausende, die übrigens durch die Westsektoren rübermarschiert sind und da hat man schon etwas von der geballten Kraft einer wirklich freien Arbeiterbewegung gespürt. Man hat allerdings auch gleich zur Kenntnis genommen, dass sich die Bewegungen nicht auf die bloße Arbeiterschaft konzentriert, auf die klassische, sondern dass sehr viele andere Kreise der Bevölkerung mitgerissen wurden. Das nächste, was mir natürlich sehr eindrucksvoll in Erinnerung ist, dass ich dann zum ersten mal wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs scharfe Munition, Kugeln, pfeifen hörte und in volle Deckung gegangen bin.
Lange: Sie haben 1954 zusammen mit Klaus Bölling die erwähnte erste Gesamtdarstellung des 17. Juni geschrieben über die Ereignisse in Berlin aber auch in anderen Städten der DDR. Wie ist dieses Buch zustandegekommen, wir haben Sie recherchiert?
Harpprecht: Ich habe vor allem als Hauptquelle hunderte von Aussagen von Menschen aus der DDR genommen, die beim RIAS, dem ich später zugehörte, ihre Beobachtungen zu Protokoll gegeben haben. Eine andere Quelle waren natürlich die Materialien des Ostbüros der SPD oder des Bundes Freiheitlicher Juristen, der damals sehr aktiv war und sehr akribisch Material gesammelt hat und ich bin natürlich in die Flüchtlingslager gegangen und habe mit sehr vielen Menschen, die am 17. Juni beteiligt waren, gesprochen und es war für mich ein Anlass zu Freude, dass mir jetzt gerade in den vergangenen Tagen von vielen Augenzeugen, aber auch von ostdeutschen Historikern, die sich mit den Ereignissen in Leipzig oder auch in Görlitz befasst haben, gesagt wurde, dass das Material erstaunlich zuverlässig ist und dass ich auch den Wortlaut der Reden von den Führern der Aufständischen getreu wiedergegeben habe. Das danke ich vor allem den RIAS-Materialien, die merkwürdigerweise den Historikern jetzt nicht mehr zur Verfügung stehen, es gibt nur noch Tondokumente. Wo diese Materialien hin verschwunden sind, weiß ich nicht, aber das lohnte eine Feststellung.
Lange: Haben Sie denn nach dem 17. Juni auch in der DDR selbst recherchieren können?
Harpprecht: Nein, das konnte ich nicht, das war schon sehr viel zu gefährlich. Ich habe am 17. Juni selber, als am Nachmittag der Ostsektor zerniert wurde, habe ich meine liebe Not gehabt, einen Augenblick einer Verwirrung, eines nochmaligen Zusammenstoßes von Arbeitern mit der bewaffneten Volkspolizei zu nutzen, um über eine Brücke nach Westen zu entkommen, denn ich konnte mir sehr wohl ausmalen, was passieren würde, wenn ich als Westjournalist dort drüben geschnappt worden wäre und ich glaube, ich hätte Bautzen besser kennengelernt, als ich jemals das Bedürfnis hatte.
Lange: Dieses Buch liest sich auch heute noch recht gut, gibt es heute etwas, von dem Sie sagen würden, das haben wir damals nicht richtig gesehen oder diesen Aspekt haben wir übersehen?
Harpprecht: Der eine Aspekt, den ich vielleicht etwas zu kurz angesetzt habe war der, wie groß doch der amerikanische Widerstand gegen alle Versuche einer Anschürung, einer Steigerung des Aufstandes waren, so dass wir jetzt wissen, dass Ernst Reuter, was damals unter Verschluss gehalten wurde, tatsächlich daran gehindert wurde von einer Tagung in Wien rechtzeitig nach Berlin zurückzukommen, dass eine Rede oder Ansprache von ihm nicht gesendet werden konnte. Die Amerikaner achteten mit größter Akribie darauf, dass es nicht zu einer Ausweitung des Konfliktes komme und der damalige RIAS-Direktor Gordon Ewing, ein Mann, den ich sehr sehr schätze, ein liberaler, aufrechter und sehr kluger Mann, ihm war damals, wie er mir später versicherte, mehrmals aus Washington von höchster Stelle gesagt worden, er soll alles tun, um gefährliche Konfliktausweitung zu vermiednen, denn es könne hier um Krieg und Frieden gehen. Die Erfahrung, die man gemacht hat ist, dass letzten Endes die großen Mächte die in Jalta abgesteckten Einflusssphären mit äußerster Genauigkeit respektiert haben. Das war natürlich ein Element des Friedens. Trotzdem, was ich damals bei der Niederschrift, mein Freund Bölling genauso wenig, ahnen konnte war, dass der 17. Juni eigentlich der Auftakt, die Ouvertüre einer großen europäischen Revolution war.
Lange: Nun heißt es in diesen Tagen ja oft, 1989 ist im Grunde der 17. Juni vollendet worden. Halten Sie eine derart dicke Verbindungslinie für zulässig oder sollte man mit solchen großen Worten doch etwas vorsichtiger sein?
Harpprecht: 1989 hat sich sicher das vollzogen, wovon viele der Teilnehmer am 17. Juni geträumt hatten. Es gab eine lange lange Durststrecke. Ich bin tief davon überzeugt, dass der November 1989 nicht möglich gewesen wäre, erstens ohne die feste West-Bindung der Bundesrepublik, die wiederum die Basis für die Ostpolitik von Willy Brandt gewesen ist. Und es bedurfte natürlich des langsamen, ganz stillen Vormarsches des Widerstandes in den anderen osteuropäischen Ländern. Sie kennen die nächsten Stationen, Posen, die tragische Station von Budapest, den Prager Frühling und das waren alles Etappen auf dem Weg zu der europäischen Revolution, von der man wirklich reden kann, des Herbstes 1989, der sich ja 1990 fortsetzte und mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums geendet hat.
Lange: In den Informationen am Morgen war das der Journalist und Schriftsteller Klaus Harpprecht, ein Zeitzeuge des 17. Juni 1953. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Harpprecht und auf Wiederhören.
Harpprecht: Ich bedanke mich.
Link: Interview als RealAudio